II.17. Marie Luise Kaschnitz (1901—1974) 


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II.17. Marie Luise Kaschnitz (1901—1974)



Wurde 1901 in Karlsruhe geboren, gestorben ist die Dichterin1974 in Rom. 1955 wurde M.L. Kaschnitz mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet. Sie hieß eigentlich Marie Luise Freifrau v. Kaschnitz-Weinberg. Sei war eine gelernte Buchhändlerin und debütierte 1933 mit dem Roman „Liebe beginnt“.Ihr nächster Roman „Elissa“(1937) spielt an den Küsten des Mittelmeers. Darin wird vom Irren, Suchen, Leiden und Lieben eines jungen Mädchens erzählt, das an die sagenhafte Dido erinnert. Nach 1945 erschienen ihre zwölf Essays unter dem Titel „Menschen und Dinge, die aus dem Erleben und Erleiden der modernen Welt gespeist werden. Ihre Gedichte aus der Nachkriegszeit sind vollendete Kunstwerke voller Menschlichkeit. In ihnen drückt sich härteste innere Wahrheit aus. Die Dichterin bekennt sich darin zum „Mitlieben und Mitleiden“, „zum Offensein und Offenbleiben“. 1947 veröffentlich die Dichterin ihre „Gedichte“ aus zwei Jahrzehnten, in denen sich ihre Heimat, südliche und östliche Landschaft spiegeln. Darunter finden sich viele Texte, in denen das Erleben der inneren und äußeren Welt, der Kriegs- und Nachkriegszeit zum Ausdruck kommt. Sie findet beschwörende Worte gegen die Mächte des Untergangs und ruft die Menschen zur Besinnung auf. Im selben Jahr wird noch ein Band veröffentlicht unter dem Titel „Totentanz und Gedichte zur Zeit“. 1950 wartet sie mit „Zukunftsmusik“ auf, wo sie sich zum Leben bekennt und der Lebensangst Absage erteilt.

1952 erscheint der Gedichtband „Ewige Stadt“ und 1957 „Neue Gedichte“, in denen Assoziationen, Erinnerungen und Unbewusstes ausgebreitet werden, Obertöne mitschwingen und Hintergründe erkennbar werden.. Diese Gedichte sind Ausdruck dichterischen Gewissens in traditionsbewusster Form.

Der nächste Band „Dein Schweigen – meine Stimme“ (1962) sind von der Form her nicht mehr so streng, Ihre Rhythmik ist etwas freier als im vorherigen Lyrikbuch. Dafür ist ihre poetische aussage welttiefer. Einige Gedichte sind dem toten Gatten gewidmet.

Drei Jahre später kommt das nächste Gedichtbuch „Ein Wort weiter“ heraus. Hier hört man keine Totenklage mehr, man hört gelegentlich „härtere“ Wahrheit, Stellungnahmen zur Zeit, zum Beispiel: „Warum ist seit Auschwitz nichts wesentlich besser geworden?“

Auch das Prosaschaffen der Schriftstellerin ist durchaus bemerkenswert. „Das Haus der Kindheit“(1956) erhellt die Kindheit der Autorin. „Lange Schatten“ (1960 lenken den Blick auf die “wunderbaren Möglichkeiten“ und die „tödlichen Gefahren“ des Menschen und „auf die bestürzende Fülle der Welt“. In diesem Buch ringt die Autorin erfolgreich um neue, moderne Ausdrucksformen.

In der autobiographischen Erzählung „Wohin denn ich“ (1963) überwindet die Autorin die selbstgewählte Isolierung und entdeckt die Welt neu.

Der Text „Herbst im Breisgau“ ist der Gedichtsammlung „Dein Schweigen – meine Stimme“ entnommen.

Herbst im Breisgau

 

I.

Drei Schritte von meinem Vaterhaus

Bin ich über meinen Schatten gesprungen.

Da hingen die Dächer firstab im Blau

Die Linden wurzelten im Wolkenbett

Die Toten flogen vom Weinberg auf

Seltene Vögel.

 

Gekleidet in die graue Wolle der Waldrebe

Steigt der Herbst von der Höhe.

Sitzt bei den Kindern am Wiesenfeuer.

Die braten die Frösche

Die knacken die Schenkel

Die schlagen wenn der Abend graut

Aus dem wilden schwarzen Kartoffelkraut

Funken wie Sterne.

 

Der Sog der Schwalben ist stärker als alles andre

Er zieht aus der glitzernden Wiese die Zeitlose auf

Und die Nebel die kommen und fliehen.

Weil die Stare so hoch im Himmel schrien

Verlassen die Bienen den Efeu

Und die Nebel die kommen und fliehen.

Die Blätter der Linde lassen sich fallen

Und die Blätter der Rosen.

Ein Zug dorfaus

Die riesigen Sonnenblumen voraus

Die wilden schwarzen Medusen.

 

Dem Fels im Walde steigt der Nebel zu.

Begräbt am Hang die Buchen und den Wein.

Wo sonst die rauhen Wurzeln sich verschlingen

Hängt graues Tauwerk aus den Eisenringen.

Versteinte Muscheln färben sich opal

Meerüber kommen die verlornen Segelschiffe

Und Kinder gehen schlafen in der Grotte.

Feine Skelette legen sich zur Ruh.

Im Hohlweg zieht die kleine Prozession

Jesus aus Holz geschnitzt

Auf dem Esel aus Holz geschnitzt.

Jesus mit rosenroten Wangen

Die kleinen Räder knarren und singen

Eine Krone für mich eine Krone für Dich

Aus der roten Berberitze.

 

In den Springbrunnen fällt die Nacht

Wie ein Stein vom Himmel.

Schlägt dem Putto ins breite Gesicht,

Reißt ihm die Locken herunter.

Auf der Rose dem schwankenden Lächeln

Treiben die Fische tot.

 

Im grünen Osten steht der Fürst der Welt

Die Blüte in der Hand.

Im roten Westen steigt mit Lilienhänden

Das Fleisch gen Himmel.

Mein Bett das leichte Holz

Treibt auf dem versandenden Strome.

Die Uhren schlagen. Keine Stunde gilt.

 

II.

 

Ausgestreckt

Das Gesicht in die Mulde gepresst,

Die Hände rechts und links

Im Wald verkrallt,

Den Mund voll Ackerrume,

Quellwasser im Haar,

Den Atem angehalten

Nusslaubatem:

Alles soll bleiben,

Keiner gehe fort.

 

Denn dies ist ein Ort,

Wo der Vogel im hohen Tambour,

Der wundgeschlagene,

Seinen Ausweg findet.

 

Und dies ist ein Ort,

Wo der Hund mit dem goldbraunen Fell,

Der im Walde lärmt,

Heimkehrt am Abend.

 

Wo die Liebe wandert

Auf Schären des Untergangs

Im Herzen der roten Sonne.

 

Aber nichts bleibt,

Nur die Glieder

Der Kette, die glatten, runden

Milchweißen, fuchsfellbraunen

Spielen mit meinen Fingern.

 

Glühender Kiesel

Kühle Kastanie

Ein Sommer

Ein Winter

Ein Sommer.

 

Meine Inseln blühen mir auf

Im grauen Verputz der Mauer.

Meine Briefe schreib’ ich

Mit der leichten Forellengräte

Über den Hügelkamm.

Abende sitz ich am Feuer,

Bau in die Flasche

Ein Haus, einen Brunnen, acht Linden,

Ein Spruchband aus Schilfgras,

Kein Wort darauf.

 

Denn die Schrift der Sterne wird klarer,

Wenn die Sterne verschwinden,

Der Leib, von den Schlangen erstickt,

Vergisst die Schlangen,

Die den Tod übergangen,

Die Knöchlein

Im Mörser tanzen und singen.

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

 

I.

1. Was exponiert der Titel des Textes? 2. Worin besteht die generalisierende Bedeutung des Titels? 3. Wie lässt sich der Titel mit der Pointe verbinden?

4. Welche Bedeutung haben Raum und Zeit auf der Inhaltsebene des Gedichtes? 5. Wird dadurch Bezug zur außertextlichen Realität hergestellt?

6. Wie unterscheiden sich die beiden Teile thematisch?

7. Wo entdecken Sie die Einschnitte? Was markiert sie?

8. Charakterisieren Sie die Strophen im Gedicht.

9. Wie ist das Verhältnis von Vers und Satz im Gedicht?

10. Wie kann man das lyrische Ich charakterisieren?

11. Welche lyrischen Sprechweisen sind im Gedicht verwendet?

12. Ist das Gedicht in Blankversen oder in freien Rhythmen geschrieben?

II.

1. Analysieren Sie die Wortwahl der Dichterin in diesem Werk.

2. Bestimmen Sie die Funktionen der im Gedicht enthaltenen Stilmittel.

3. Welche Stilmittel überwiegen im Text?

 

II.18. Günter Eich (1907—1972)

 

Wurde 1907 in Lebus an der Oder geboren und ist 1972 in Salzburg gestorben. Sein erstes Hörspiel schrieb er 1929 mit 22 Jahren. Sein erster Gedichtband erschien ein Jahr später. Er war der erste Schriftsteller, dem nach dem Krieg der Preis der „Gruppe 47“ verliehen wurde. Für seine dichterischen Leistungen bekam er viele Preise. 1959 war es der Büchner-Preis.

Als Kind besuchte er Schulen in Finsterwalde, Berlin und Leipzig. Als junger Mann studierte er Rechtswissenschaft und Sinologie in Leipzig, Paris und Berlin. Von 1932 an war er freier Schriftsteller. Im zweiten Weltkrieg war er Soldat der faschistischen Wehrmacht und kam am Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft

Günter Eich war nicht nur einer der profiliertesten Lyriker seiner Zeit, sondern auch Hörspielautor. Seine bekanntesten Lyrikbände sind:“ Abgelegene Gehöfte“(1948), „Untergrundbahn“ (1949), „Botschaften des Regens“ (1955),

„Zu den Akten“(1964), „Anlässe und Steingärten“(1966). Seine Lyrik ruft zum Aufwachen auf, weil unsere „Träume schlecht“ seien, und zum Wachbleiben, weil „das Entsetzliche näher“ komme. Stoffe seiner Lyrik sind Jugenderlebnisse, Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit und Kenntnisse der Geschichte alter Völker. Seine Gedichte betrachtete Eich als „trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren“. Später erklärte er Schreiben als „die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen“.

Seine „Abgelegene Gehöfte“ waren Gedichte aus zwanzig Jahren. Viele Gedichte dieses Lyrikbandes sind als Naturgedichte konzipiert. Diese Texte sollen veranschaulichen, dass eigentlich nichts Neues mehr geschehe, dass alles sich nur wiederhole, was schon immer gewesen sei. Die Natur erscheint darin als ein Ort des Numinosen, wo sich Geheimnisse verbergen.

Seine Camp-Gedichte unterscheiden sich von den wohlklingenden und wortmagischen lyrischen Texten. Sie sind im Lager für Kriegsgefangene angesiedelt: im Zelt, auf der Latrine, hinter dem Stacheldrahtzaun. Nicht Zusammenklang, sondern Dissonanz ist der Ton dieser Lyrik. Als bekanntestes Gedicht der vierziger Jahre gilt die berühmte „Inventur“, die wir im Nachstehenden unterbringen. Dieses Gedicht wirkt lakonisch, nüchtern-protokollarisch. Da hört man keinen Wohlklang des Reims. Keine Verklärung und Beschönigung der Realität findet hier statt. Derartige Schreibweise war für die gesamte „Trümmerliteratur (Literatur des Kahlschlags) der vierziger Jahre kennzeichnend.

Die fünfziger Jahre bringen in der Lyrik Günter Eichs Wandel der Themen und Formen. Dies war aber jedoch nur teilweise ein neuer Anfang, der sich auch in seinem Hörspielschaffen vollzog. Ganz deutlich wird dieser Wandel erst neun Jahre später sichtbar. Die Gedichte aus der Sammlung „Zu den Akten“ liefern beredte Beweise dafür. Besonders krass wird dieser Wandel in dem nächsten Lyrikband, in den „Anlässen und Steingärten“. In beiden Büchern sind die Naturmotive völlig eliminiert, die Naturmagie schwindet aus seinen Gedichten. Es erklingen neue Töne, vor allem die der Trauer, Resignation und Hoffnungslosigkeit. Aber auch der Sarkasmus klingt häufig an, vor allem in den Texten mit politischer Anspielung. In einem der Gedichte heißt es:“ Wir definieren die Freiheit neu: gleich sind wir sie los“. In vielen Texten wird auf Gefahren und Verhängnisse hingewiesen, die den Menschen in der sozialen Realität bedrohen. Es wird häufig entlarvt, angeprangert oder bloßgestellt. Die Sprache dieser Gedichte ist schmucklos und formelhaft. Sie tendiert zum Aphorismus und Verknappung.

Die Gedichte der sechziger Jahre werden als Kritik konzipiert. Der Dichter will

vor allem Fragen stellen, Antworten will er nicht geben: „Es ist die Zeit für Hohn und Satire, die höchste Zeit“.

 

Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht

 

Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!

Bleibt wach, weil das Entsetzliche näher kommt.

 

Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den

Stätten, wo Blut vergossen wird,

auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf,

worin du ungern gestört wirst.

Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen,

aber sei gewiss.

„Oh angenehmer Schlaf

auf den Kissen mit roten Blumen,

einem Weihnachtsgeschenk von Anita, woran sie drei

Wochen gestickt hat,

oh angenehmer Schlaf,

wenn der Braten fett war und das Gemüse zart.

Man denkt im Einschlummern an die Wochenschau von

gestern Abend:

Osterlämmer, erwachende Natur, Eröffnung der Spielbank

in Baden-Baden,

Cambridge siegte gegen Oxford mit zweieinhalb Längen,-

das genügt, das Gehirn zu beschäftigen.

 

Oh dieses weiche Kissen, Daunen aus erster Wahl!

Auf ihm vergisst man das Ärgerliche der Welt, jene Nach-

richt zum Beispiel:

Die wegen Abtreibung Angeklagte sagte zu ihrer Verteidi-

gung:

Die Frau, Mutter von sieben Kindern, kam zu mir mit

einem Säugling,

für den sie keine Windeln hatte, und der

in Zeitungspapier gewickelt war.

Nun, das sind Angelegenheiten des Gerichtes, nicht unsre.

Man kann dagegen nichts tun, wenn einer etwas härter liegt

als der andere.

Und was kommen mag, unsere Enkel mögen es aus-

fechten.“

 

„Ah, du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund!

Schon läuft der Strom in den Umzäunungen, und die

Posten sind aufgestellt.“

 

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig

sind!

Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für

euch erwerben zu müssen!

Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der

Leere eurer Herzen gerechnet wird!

Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund

nicht erwartet!

Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

I.

1. Formulieren Sie das Thema des Gedichtes. 2. Welche Motive weist der Text auf?

3. Finden Sie die Pointe des Textes und versuchen Sie, zu der Idee vorzudringen.

4. Was hinterlässt beim Leser das Gefühl der Dynamik?

5. Kann man hier vom Episieren des Gedichtes sprechen?

6. Gibt es hier balladeske Elemente?

7. Welcherart Pathos durchdringt das Gedicht? Affirmativ oder kritisch?

7. Resümieren Sie die Besonderheiten der Form.

 

II.

1. Welche Rolle spielen im Text die Satzlänge und der Satzbau?

2. Welche Satzarten überwiegen im Text? Welchen Rhythmus bewirkt das?

3. Was kann man von der Wortwahl im Text sagen?

4. Erklären Sie die Schlüsselwörter.

5. Wie geht der Autor mit Tropen um? Sind sie zahlreich oder?

 

Inventur

 

Dies ist meine Mütze,

dies ist mein Mantel,

hier mein Rasierzeug

im Beutel aus Leinen.

 

Konservenbüchse:

Mein Teller, mein Becher,

ich hab in das Weißblech

den Namen geritzt.

 

Geritzt hier mit diesem

kostbaren Nagel,

den vor begehrlichen

Augen ich berge.

 

Im Brotbeutel sind

ein Paar wollene Socken

und einiges, was ich

niemand verrate,

 

so dient es als Kissen

nachts meinem Kopf.

Die Pappe hier liegt

Zwischen mir und der Erde.

 

Die Bleistiftmine

lieb ich am meisten:

Tags schreibt sie mir Verse,

die nachts ich erdacht.

 

Dies ist mein Notizbuch,

dies meine Zeltbahn,

dies ist mein Handtuch,

dies ist mein Zwirn.

Fragen und Aufgaben zum Text:

 

I.

1. Was ist das Thema des Gedichts?

2. Was exponiert der Titel?

3. Wie verstehen Sie die Idee des Gedichtes?

4. Zu welcher literarischen Stilrichtung kann dieser Text gerechnet werden?

5. Was wissen sie von der amerikanischen Schreibweise „understatement“?

II.

1. Welche Stilmittel bevorzugt der Dichter in diesem Text?

2. Was kann man von der Wortwahl im Gedicht sagen?

3. Wodurch charakterisiert sich die Satzstruktur im Text?

 

 

II.19. Paul Celan (1920—1970)

 

Wurde 1920 im rumänischen Czernowitz geboren und ist 1970 in Paris freiwillig aus dem Leben gegangen. Seine Eltern waren deutschsprachige Juden, die im KZ starben. 1938 machte er das Abitur und studierte einige Semester Medizin in Paris. 1939 wechselte er zur Romanistik über. Der Krieg überraschte ihn während eines Urlaubs in Czernowitz. Bald kam er in ein Arbeitslager. In Bukarest arbeitete er als Übersetzer und Verlagslektor. Aus Wien, wo 1948 sein erster Gedichtband „Sand aus den Urnen“ erschien, gelangte er erneut nach Paris, wo er Germanistik und Sprachwissenschaft studierte. Von Beruf war er Sprachlehrer und Übersetzer. Ab 1959 unterrichtete er an der Ecole Normale Superieur und machte sich einen Namen als Übersetzer von Block, Jessenin, Mandelstam, Rimbaud, Valery, Baudelaire und Shakespeare.

Als Lyriker brachte er Sprache und Geist chassidischer Geschichten und Legenden mit und eignete sich die Lyriktradition von der Romantik bis zu Rilke und Benn an. Viele Motive seiner Gedichte erinnern an die der Lyrik von Novalis. Auch französischer und russischer Symbolismus diente ihm nicht zuletzt zum Vorbild. Seine bekanntesten Lyrikbände sind: „Sand aus den Urnen“ (1948), „Mohn und Gedächtnis““(1952), „Von Schwelle zu Schwelle“ (1955), „Sprachgittrer“ (1959), „Die Niemandsrose“ (1963), „Atemwende“ (1967), „Lichtzwang“(1970) und „Schneepart“ (1971).1976 erschien postum sein letzter Lyrikband, „Zeitgehöft“. Die ersten drei Gedichtbücher enthalten lyrische Texte, die von bitteren Erfahrungen der Kriegsjahre durchdrungen sind. Das sind meist „hermetische“ Gedichte über Tod und Vereinsamung in einer metaphorischen Ciffren- und Zeichensprache. Inmitten des allgemeinen Verlustes bleibt dem Dichter allein die Sprache „unverloren“. Häufigste Schlüsselwörter seiner Poesie sind die Nacht, das Dunkel, der Stein, aber auch das Haar, der Sand und die Asche. Im Mittelpunkt vieler Gedichte steht das Totengedenken, wie das bei Novalis der Fall war.

Das berühmteste Gedicht Celans war seine „Todesfuge“, eine Dichtung mit ausgeprägter Bildkombinatorik und herber Klangstruktur eines Musikwerks. Sprachlich bewegt sich das Gedicht bis an die Grenze des Verstummens. Der Dichter zeigt sich in seinem Text als Sprecher aller Verfolgten, indem er die Motive des Henkers und seiner Opfer verwendet. Das Gedicht wirkt gleichsam ein Mahnmal für die Juden, die in Lagern wie Auschwitz umgekommen sind.

Von „Sprachgitter“ an steigert sich die Verschlüsselung und Hermetik der Celanschen Lyrik, die esoterischen Charakter annimmt. Sie wird zur schwermütigen, sinndunklen „reinen Poesie“, deren Rhythmen klangvoll fließen und deren Wortfügungen kristallklar wirken. Im Resultat entsteht phantasievolles irrationales Wirklichkeitsbild. Der Dichter erstrebt in seinen Gedichten das Unsagbare und dies gelingt ihm häufig voll und ganz. Derartige Lyrik beinhaltet gelegentlich Anspielungen auf Glaubensvorstellungen und Mythen, vornehmlich aus jüdischer Vergangenheit. Die Hinwendung zur Geschichte und Religion des jüdischen Volkes wird häufig zum Hauptthema vieler seiner Gedichte. Die sprachliche Komprimierung, zu der Celan immer wieder greift, erinnert an die Gedichte Eichs aus den sechziger Jahren.

Dieser Prozess begann im Grunde bereits früher. In einem Gedicht aus „Von Schwelle zu Schwelle“ bekennt sich der Dichter zur „absoluten Poesie“, wie sie Gottfried Benn damals predigte. Er erklärt darin: „Wahr spricht, wer Schatten spricht“. Damit verzichtet er im Grunde genommen auf die Abbildung objektiver Wirklichkeit. Aber in seiner poetischen Praxis realisiert sich dieser Verzicht nicht immer. Man kann bei ihm viele Beispiele für das Gegenteil finden. So zeigt sich Celan in seinem „Schibboleth“ als Verbündeter der kämpferischen Antifaschisten. Er ergreift Partei für die französische Resistance im Gedicht „In memoriam Paul Eluard“.

Besonders wichtig für das Verständnis des poetischen Standorts Celans sind seine Reden, die er bei der Entgegennahme zweier Literaturpreise gehalten hatte, des Bremer und des Büchner-Preises. Im letzteren formulierte er für seine Lyrik Askese und Kreativität zugleich. Diese Tendenzen sind im „Sprachgitter“ vollauf realisiert. Die Langzeile der „Todesfuge“ wird nunmehr karg und „grau“. Der metaphorische Ballast verschwindet aus den Gedichten. Die Rhythmik in den Versen stockt. Es dominiert das Nomen, das Verb wird zahlenmäßig seltener. Der Dichter greift gerne zu elliptischen Sätzen.

Celans letzte Lyrikbände Celans „Fadensonnen“(1968) und „Lichtzwang“

(1970) und „Zeitgehöft“ enthalten Gedichte, die am Rande der Zerstörung stehen. Die gewohnte Sprache zerfällt darin, so dass sie das Denken und Wollen des Dichters nicht in Worte fassen kann.

 

Die Halde. Vor einer Kerze.

Grabinschrift für Francois

 

Die Halde

 

Neben mir lebst du, gleich mir:

als ein Stein

in der eingesunkenen Wange der Nacht.

 

O diese Halde, Geliebte,

wo wir pausenlos rollen,

wir Steine,

von Rinnsal zu Rinnsal.

Runder von Mal zu Mal.

Ähnlicher, Fremder.

 

O dieses trunkene Aug,

das hier umherirrt wie wir

und uns zuweilen

staunend in eins schaut.

 

Vor einer Kerze

 

Aus getriebenem Golde, so

wie du’s mir anbefahlst, Mutter,

formt ich den Leuchter, daraus

sie empor mir dunkelt inmitten

splitternder Stunden:

deines

Totseins Tochter.

 

Schlank von Gestalt,

ein schmaler, mandeläugiger Schatten,

Mund und Geschlecht

umtanzt von Schlummergeister,

entschwebt sie dem klaffenden Golde,

steigt sie hinan

zum Scheitel des Jetzt.

 

Mit nachverhangnen

Lippen

sprech ich den Segen:

Im Namen der Drei,

die einander befehlen, bis

der Himmel hinabtaucht ins Grab der Gefühle,

im Namen der Drei, deren Ringe

am Finger mir glänzen, sooft

ich den Bäumen im Abgrund das Haar lös,

auf dass die Tiefe durchrauscht sei von reicherer Flut-,

im Namen des ersten der Drei,

der aufschrie,

als es zu leben galt dort, wo vor ihm sein Wort schon gewe-

sen,

im Namen des zweiten, der zusah und weinte,

im Namen des dritten, der weiße

Steine häuft in der Mitte,-

sprech ich dich frei

vom Amen, das uns übertäubt,

vom eisigen Licht, das es säumt,

da, wo er turmhoch ins Meer tritt,

da, wo die graue Taube

aufpickt die Namen

diesseits und jenseits des Sterbens:

Du bleibst, du bleibst, du bleibst

einer Toten Kind,

geweiht dem Nein meiner Sehnsucht,

vermählt einer Schrunde der Zeit,

vor die mich das Mutterwort führte,

auf dass ein einziges Mal

erzittre die Hand,

die je und je mir ans Herz greift!

 

Grabschrift für Francois

 

Die beiden Türen der Welt

stehen offen:

geöffnet von dir

in der Zwienacht.

Wir hören sie schlagen und schlagen

und tragen das ungewisse,

und tragen das Grün in dein Immer.

Oktober 1953.

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

I.

1. Wie soll man den Autor und die vorliegenden Texte literaturgeschichtlich einstufen? Zu welcher Literaturrichtung kann man sie rechnen?

2. Vergleichen Sie diesen Autor mit den früheren und sagen Sie, was Ihnen in seinem Stil besonders auffällt.

3. Sprechen Sie zu Themen und Motiven von Paul Celan.

4. Wie geht der Autor mit jedem Titel um? (Generalisierung, Konkretisierung)

5. Nehmen Sie Stellung zu den Begriffen „autopsychologisches“ und „Rollengedicht“.

6. Ist es möglich, das Genremäßige in jedem Gedicht festzustellen? Bestimmen Sie das.

7. Kann man diese Gedichte ohne literarische Vorkenntnisse sachgemäß interpretieren?

8. Wie verstehen Sie die Idee des Gedichtes?

9. Was kann man von der Struktur dieses Gedichtes sagen?

10. Welcherart Schreibweise nutzt hier der Autor? Verwendet er hier Blankverse oder freie Rhythmen?

11. Was kann man von den Versenden in diesen Texten sagen?

II.

1. Analysieren Sie die Sprachform dieser Texte aus stilistischer Sicht.

2. Welche Satzlängen verwendet hier der Dichter?

3. Was kann man von der Wortwahl in diesem Text sagen?

4. Welche Mittel der Bildkraft bevorzugt der Dichter in diesem Text?

Todesfuge

 

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends

wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts

wir trinken und trinken

wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der

schreibt

der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes

Haar Margarete

er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne

er pfeift seine Rüden herbei

er pfeift seine Juden hervor lässt schaufeln ein Grab in der Erde

er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

 

 

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends

wir trinken und trinken

Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen

der schreibt

der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes

Haar Margarete

Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den

Lüften da liegt man nicht eng

 

 

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet

und spielt

er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen

sind blau

stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum

Tanz auf

 

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends

wir trinken und trinken

ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete

dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus

Deutschland

er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch

in die Luft

dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

 

 

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus

Deutschland

wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken

der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau

er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau

ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete

er hetzt seine Rüden auf und er schenkt uns ein Grab in der Luft

er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein

Meister aus Deutschland

dein goldenes Haar Margarete

dein aschenes Haar Sulamith

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

 

I.

1. Erzählen Sie von der Entstehungsgeschichte des Gedichts.

2. Formulieren Sie Thema und Motive des Werkes.

3. Erklären Sie den Titel und verbinden Sie ihn mit der Idee.

4. Ist das Gedicht strophisch aufgebaut?

5. Charakterisieren Sie die Verse im Gedicht.

6. Welche Merkmale des Modernismus weist das Gedicht auf?

II.

1. Auf welchen Stilmitteln basiert die Sprachgewalt des Textes?

2. Mit welchen Arten der Wiederholung operiert der Dichter?

3. Bestimmen Sie die Funktion der Wiederholungen in der „Todesfuge“.

 



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