I. 2. Dekadenz als gegenposition zum 


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I. 2. Dekadenz als gegenposition zum



NATURALISMUS

 

Um 1890 wird der deutsche Kapitalismus der freien Konkurrenz monopolistisch. Dies führt zur Verschärfung des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zum weiteren Erstarken der deutschen Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie. Diese wirtschaftlichen und sozialpolitischen Vorgänge bewirken letztendlich eine tiefgreifende weltanschauliche und künstlerische Krise, die ihren Ausdruck in weltanschaulich-philosophischer Unsicherheit und kultureller Dekadenz findet.

Die Industrialisierung und Urbanisierung in Deutschland und in der Welt schreiten nach wie vor rapide voran. Dies verstärkt die Entfremdungsprozesse der menschlichen Persönlichkeit, die sich nunmehr bedroht und ohnmächtig fühlt. Sie vereinsamt und isoliert sich häufig ganz bewusst von der Gesellschaft, um ihre geistig-seelische Integrität zu bewahren. Infolgedessen bildet sich allmählich dekadentes Lebensgefühl heraus, das mit den Stimmungen von Ausweg- und Hoffnungslosigkeit einhergeht. Und diese Lebensempfindung erfasst den Großteil der Schriftsteller der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts.

Die jungen Dichter der Dekadenz begeben sich auf die Suche nach neuen Wegen, indem sie Gegenpositionen zum Naturalismus beziehen. Sie wollen sich nicht mehr von den Ideen des philosophischen Positivismus, der Vererbungslehre und der Milieutheorie beeinflussen lassen, sie verzichten darauf und suchen neue Möglichkeiten des künstlerischen Gestaltens. Sie entwickeln neue Darstellungstechniken, die der Naturalismus nicht kannte. Die Wege, die sie einschlagen, sind verschieden, so dass man die Dekadenz als eine inhaltlich und formell heterogene künstlerische Erscheinung ansehen muss. Sie ist nichts weniger als einheitlich. Sie setzt sich aus verschiedenen Stilrichtungen zusammen. Es sind dies Impressionismus, Symbolismus, Neuromantik, Neuklassizismus und Heimatkunst. Manche Literaturwissenschaftler gliedern aus der Dekadenz noch den sogenannten Jugendstil heraus. Unserer Ansicht nach ist aber der letztere Begriff vor allem für bildende Künste brauchbar.

Die dekadenten Künstler und Literaten beziehen Gegenpositionen zum Naturalismus. Im Gegensatz zu Naturalisten, die eine naturgetreue Wiedergabe der Wirklichkeit anstrebten und die Kluft zwischen Kunst und Leben zu überbrücken versuchten, flüchten sie in ihren Werken in Schein- und Traumwelten. Sie stehen auf den Standpunkten des Eskapismus, der Weltflucht und des Entweichens in Exotik und Esoterik, so dass ihre Werke „reine Kunst“, „Kunst um der Kunst willen“ darstellen. Die Franzosen nennen solche Werke „l’ art pour l’ art“. Im Gegensatz zu Naturalisten bekunden die dekadenten Dichter totale Gleichgültigkeit dem Schicksal des Volkes gegenüber oder sogar zynische Volksfeindlichkeit. Sie verzichten auf gnoseologische und erzieherische Funktionen von Kunst und Literatur, sie wollen niemand bilden, belehren und informieren. In dieser Hinsicht sind ihre Kunstwerke völlig beziehungslos. Von sozialen Aufgabenstellungen in ihren Werken wollen sie nichts wissen. Ihre Werke sind im Gegensatz zu den naturalistischen formalistisch, denn in ihnen ist der Inhalt von der künstlerischen Form völlig losgelöst. Sie wirken manchmal sogar sinnentleert und bedeutungslos, sie enthalten keine wichtigen Fragestellungen und bevorzugen abstoßende, krankhafte oder sogar barbarisch-animalische Stoffe, Themen und Motive. Dies kann gelegentlich zur Verzerrung und Verzeichnung des Wirklichkeits- und Menschenbildes führen.

Im Gegensatz zum Naturalismus, der „hässliche“ Schattenseiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellte, bekunden dekadente Werke häufig hohlen Ästhetizismus, der im Grunde Jagd nach abstraktem Schönheitsideal bedeutet und die Widrigkeiten der sozialen Realität völlig ausklammert..

Die Dekadenten verzichten auf die großen humanistischen und fortschrittlichen Traditionen der Weltkunst und –Literatur. Sie leugnen das Kulturerbe und werten realistische Errungenschaften der Vergangenheit ab.

Dekadente Werke sind auf „Eingeweihte“ und „Auserwählte“ berechnet, sie sind elitär und dem Großteil der Kunst- und Literaturkonsumenten unverständlich. Nicht zuletzt darin zeigt sich ihre Volksfremdheit.

Zu den größten Schwächen und Mängeln der Dekadenz kann man auch ihren Agnostizismus zählen, ihren Verzicht auf die Erkenntnis und Darstellung grundlegender Lebensprobleme sowie die Animalisierung des Menschenbildes, was ein Resultat der Züchtung und Kultivierung des Instinktmäßig-Triebhaften, zumal des Sexuellen, und des Krankhaft-Nervösen ist.

Derartige Einstellungen und Positionen der Dekadenz sind nicht auf leerem Boden entstanden, sie hatten ihre philosophisch-weltanschaulichen Quellen und Begründungen in der subjektiv-idealistischen Philosophie der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Diese Philosophie war nichts weniger als einheitlich. Sie war durch viele Denker vertreten, durch Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, durch Neukantianer, „Lebensphilosophen“, Repräsentanten der sogenannten Immanenzphilosophie und der des Empiriokritizismus. Auch Siegmund Freud, Begründer der Tiefenpsychologie, beeinflusste weitgehend die dekadente Literatur.

Der Modephilosoph des Nachmärz Arthur Schopenhauer (1788—1860) wirkte auf die Intellektuellen seiner Zeit vor allem durch seinen Voluntarismus und Pessimismus. Seine Philosophie war subjektiv-idealistisch und eklektisch und schloss in sich, um mit Friedrich Engels zu sprechen, „Abfälle vergangener Philosophien“ ein. Sie war eine Reaktion auf die materialistischen und revolutionären Ideen der Denker der voraufgegangenen Periode, auf die Dialektik und den Rationalismus Hegels. Besonderer Beliebtheit erfreute sich bei den Intellektuellen sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Der subjektiv-idealistische Charakter seiner Philosophie erhellt bereits aus dessen Titel. Der Autor behauptet darin, dass keine Wahrheit gewisser sei…als diese, dass alles, was für die Erkenntnis das sei, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt sei, Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort, Vorstellung. Die Welt als Vorstellung werde von dem wahrnehmenden Subjekt nicht begriffen. Es gebe Einbildungen und Träume. Die Dinge erschienen dem Subjekt gleich Träumen. Es gebe keine bestimmte Grenze, die den Zustand des Wachseins vom Traumzustand trenne. Das Leben sei ein langes, der Traum ein kurzes Träumen.

Als zweiter Grundpfeiler der Philosophie Schopenhauers dient die Lehre vom Willen, der nach Schopenhauer das innere Wesen, der Kern jeder einzelnen Erscheinung wie auch der Welt als Ganzes sei. Er manifestiere sich in allen Äußerungen der anorganischen und organischen Welt genauso wie in den überlegten Handlungen des Menschen. Der irrationale sinnlose Wille sei der Welt immanent und er gehöre untrennbar zu jeder Erscheinung. Der Wille sei die innere Urkraft, die die Welt aus sich selbst schaffe, bewege und sie beseele. In dem letzteren Gedanken zeigt sich bereits die objektiv-idealistische Tendenz der Philosophie Schopenhauers.

Das Hauptwerk des Philosophen enthält viele bemerkenswerte Ideen, zum Beispiel die davon, dass die Welt durch Hunger und Liebe zusammengehalten werde oder dass jede Generation dazu verurteilt sei, zu hungern, Nahrung zu suchen und zu erwerben, sich zu vermehren. Dieses Gesetz sei das Perpetuum mobile der organischen Natur.

Die Behauptung Schopenhauers, dass das Leben des Menschen stets und unter allen Bedingungen ein von Leiden und Qualen erfülltes Dasein sei, ist christlichen Ursprungs. Der Philosoph behauptet, dass jedes Leiden verdient sei und jedes Dasein sei Sühne. Der Mensch müsse daher sein Dasein ohne Murren fristen. Der Denker predigt somit die Ethik der Demut und des Mitleids.

Schopenhauer lehnte die Idee des gesellschaftlichen Fortschritts ab. Die menschliche Natur sei ewig, unveränderlich, schlecht und egoistisch. Den einfachen Menschen betrachtete er als „Fabrikware der Natur“, als „Pack“ und „Schurken“ und die menschliche Gemeinschaft als „Herde“, die von einem Monarchen regiert werden solle.

Eine viel größere Rolle in der Herausbildung des dekadenten Denkens und Fühlens spielte aber Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 –1900), der reaktionärste subjektiv-idealistische Philosoph der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Er war entschiedener Gegner der Arbeiterbewegung und der „Vermassung des Jahrhunderts“. Daher forderte er die „Umwertung aller Werte“ der Vergangenheit und revidierte das ideelle Arsenal des Liberalismus und Humanismus. Er kleidete seine Ideen mit nackter Offenheit und Zynismus in Worte, die dank ihres glänzenden Stils sehr wirksam waren und ein großes Publikum fanden. Seine reaktionäre voluntaristische Philosophie war gegen Sozialismus und Proletariat gerichtet. Über das letztere sprach und schrieb er immer hochmütig und verächtlich. Nicht zuletzt darin äußert sich sein rigoroser Antihumanismus. In seinen Schriften warnt er die Bourgeoisie vor der Gefahr seitens der Arbeiterschaft, gegen die er ein Gegenmittel kenne, und zwar die Errichtung einer eisernen, tyrannischen Diktatur der neuen „Herren der Erde“, der sogenannten „Übermenschen“. Er prophezeit, dass dem nächsten Jahrhundert es hie und da gründlich rumoren werde und die Pariser Kommune vielleicht nur eine leichtere Unverdaulichkeit gewesen sei im Vergleich zu dem, was komme.

Fälschlicherweise behauptete er, dass seine Philosophie weder materialistisch noch idealistisch sei. In Wahrheit ist aber sein philosophisches System hundertprozentiger subjektiver Idealismus, der auf Agnostizismus aufbaut. Die Wirklichkeit betrachtet er als Illusion, Traum und Hirngespinst der Philosophen. Es gebe keine objektive Realität. Die Welt der „Phänomene“ sei die zurechtgemachte Welt, die wir als real empfänden. Der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist nicht die wahre Welt, sondern die formlos-unformulierbare Welt des Sensationen-Chaos. Die Stofflichkeit und das Subjekt erklärt er am Ende als Fiktion und schlägt vor, den Begriff „Subjekt“ und „Objekt“, „Materie“ und „Geist“ überhaupt aufzugeben.

Die Philosophie Nietzsches gründet sich nicht nur auf den Agnostizismus, sondern auch auf den Voluntarismus. Indem er die objektive Realität als Fiktion deklariert, versucht er eine eigene Konstruktion der Welt zu geben, die sich auf den mystischen Willen zur Macht gründet. Der Wille zur Macht sei ein unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht und ein schöpferischer Trieb.

Nietzsche überwindet den passiven Pessimismus Schopenhauers, dessen Voluntarismus er in eine Philosophie aktiven Handelns verwandelt. Er belegt den Verstand mit dem Bannfluch und wird somit zum Prediger des Irrationalismus. Der Instinkt und die Intuition seien nach ihm zuverlässiger als der Verstand.

Sein Menschenideal ist ein starker, schöner Übermensch, der jenseits von Gut und Böse steht, der alle alten humanistischen Werte umgewertet hat und einen ausgeprägten Willen zur Macht in sich trage. Die Sklaverei und verschiedene Formen der Abhängigkeit seien notwendige Voraussetzungen der höheren Kultur. Die eigentlichen Philosophen seien Befehlende und Gesetzgeber, behauptet Nietzsche in seinem Buch „Jenseits von Gut und Böse“, ihr Erkennen sei Schaffen, ihr Schaffen sei eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit sei Wille zur Macht.

Sehr scharf zieht Nietzsche auch gegen die Dialektik zu Felde, weil die Dialektik den vornehmen Menschen verdränge und weil mit der Dialektik der Pöbel obenauf komme.

Bemerkenswert ist auch die Meinung des Philosophen über das Kriterium der Wahrheit. Er identifiziert die Wahrheit mit dem Nutzen und Vorteil und nimmt damit die Ideen des philosophischen Pragmatismus des zwanzigsten Jahrhunderts vorweg.

Nietzsches Soziologie vereint den Agnostizismus mit voluntaristischer Mystik. Nach ihm sei die menschliche Gesellschaft eine bloße Anhäufung von Individuen, die sich wenig von den Tieren unterscheide. Das Leben meide jeden Altruismus, ihm lägen raue egoistische Instinkte zugrunde.

Nietzsches Ethik baut eine „Herrenmoral“ auf. Sein Menschenideal ist der Barbar arischer Abstammung, “die blonde Bestie“. Er teilt die Menschen in Herren und Sklaven ein. Die Soziologie Nietzsches ist von rassistischen Phantastereien durchsetzt. Die Geschichte der Menschheit fasst er als ewigen Kampf zweier Rassen auf: der Rasse der „Starken“(der Herren) und der Rasse der Schwachen. Der deutsche dekadente Dichter Stefan George wird von diesen Ideen geradezu fasziniert sein.

Nietzsche träumte von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Sein Traum wurde im zwanzigsten Jahrhundert Wirklichkeit, allerdings auf anderer ideologischer Grundlage.

Er begrüßte mit Begeisterung die Militarisierung Europas, denn in den Kriegen sah er das gediegenste Mittel zur „Renaissance“ der Menschheit auf den Prinzipien der Barbarei und der Zügelung der werktätigen Massen.

Nietzsche appellierte an die deutschen Intellektuellen nicht ohne Erfolg. Viele von ihnen waren von seinen Ideen fasziniert, auch viele fortschrittliche Vertreter der deutschen Intelligenz. Ihnen gefiel seine radikale Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Sie bemerkten allerdings nicht, dass diese Kritik von rechten Positionen aus erfolgte. Vielen Intellektuellen imponierte auch sein glänzender poetischer Stil. Nietzsche war kein trockener akademischer Philosoph. Seine philosophische Sprache war zugleich eine poetische. Er war beides zugleich: Philosoph und Poet. Und dies musste notwendigerweise gefallen.

Die Universitätsphilosophen akzeptierten ihn zunächst nicht. Jetzt spricht man auch in den offiziellen akademischen Kreisen von ihm als einem „hervorragenden Denker“, „großen Fragenden“ und „Propheten“. Der Nietzscheanismus beeinflusste im zwanzigsten Jahrhundert den Intuitionismus, das Spenglerianertum, den Pragmatismus, den Existentialismus und die sogenannte „Wissenssoziologie“. Deutsche und italienische Faschisten erblickten in ihm ihren Vorboten und Propheten..

Auch der in Deutschland in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts weitverbreitete Neukantianismus, eine Ideologie der liberalen Schichten der deutschen Bourgeoisie, war nicht ohne Einfluss auf die dekadenten Künstler und Literaten. Besonders populär unter ihnen war die Parole der Neukantianer „Hin zum Individuum und weg von den Massen“. Es war eine konservative philosophische Lehre, die sich auf die deutsche idealistische klassische Philosophie stützte, und vor allem auf Immanuell Kant. Sie beruhte auf ausgeklügelter erkenntnistheoretischer Scholastik und den spitzfindigen Urteilen über die „Werte“ des Guten, des Schönen und des Heiligen. Ihre Vertreter deklarierten sich als „Volksfreunde“ und behaupteten zugleich, dass sie angeblich außerhalb der Politik stünden. Eduard Bernstein und Karl Vorländer standen an der Spitze der revisionistischen Strömung in der deutschen Sozialdemokratie und bezogen im Grunde antimarxistische Positionen, was durchaus nicht zu verwundern ist. Im Frühstadium des Neukantianismus in den sechziger und siebziger Jahren bildeten sich darin zwei Hauptströmungen heraus: die neukantianische „Metaphysik“ und der „physiologische Idealismus“. Die erstere verknüpfte den kantianischen Idealismus mit der Religion. Ihre Hauptvertreter waren Otto Liebmann und Johannes Volkelt.. Die zweite Strömung vertrat Friedrich Albert Lange. Sie legte den Kantischen Apriorismus nicht als logische, sondern als psychisch-physiologische Theorie aus. Er bestritt die Möglichkeit der wissenschaftlichen Soziologie und meinte, dass das Proletariat unfähig sei, den Sozialismus aufzubauen. Auf der Lehre von Malthus fußend versuchte er die Unvermeidlichkeit der Verelendung des Proletariats zu beweisen. In den siebziger und achtziger Jahren wurde der Neukantianismus an den deutschen Universitäten vorherrschend. Es wurden die Zeitschrift „Kant-Studien“ und später die „Kant-Gesellschaft“ gegründet. Gleichzeitig entstanden zwei Hauptrichtungen des Neukantianismus—die „Marburger“ und die „Südwestdeutsche“ (Badensche, Freiburger) Schule.

Beiden Richtungen war die Kritik der Kantischen Philosophie „von rechts“ gemeinsam. Sie eliminierten aus dem Dualismus Kants die materialistischen Elemente und beließen nur noch subjektiv-idealistische. Insofern wir von den „Dingen an sich“ nichts wüssten, meinten sie, seien sie nichts als Produkte des Verstandes. Das ist reinster subjektiver Idealismus. Auch Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ deuteten sie im Geiste des subjektiven Idealismus. Nach ihnen seien ethische Lehrsätze lediglich Fiktionen und „Werte“, von deren objektiven Existenz wir nichts sagen könnten. Diese ethischen Wertfiktionen wurden später auch auf die Lehrsätze der Ästhetik und Religion übertragen. Und als solche wirkten sie auf die Weltanschauung vieler dekadenter Dichter ein.

Die Marburger Schule des Neukantianismus brachte in der Person von Hermann Cohen (1842—1918) einen bedeutenden Vertreter hervor. Seine Bücher „Kants Theorie der Erfahrung“ (1871), „Kants Begründung der Ethik“ (1877), „Kants Begründung der Ästhetik“ (1889) und „Logik der reinen Erkenntnis“ waren in den intellektuellen Kreisen sehr populär. Cohen verzichtet auf das Kantische „Ding an sich“ und auf die sinnliche Anschauung als Gegenstand der Erkenntnis. Nach ihm liege das Seiende seinem Grunde nach ausschließlich in dem Denken, wie die Wissenschaft ausschließlich in der Vernunft. Der Weg der Erkenntnis sei alles, das Ziel nichts. Das Denken konstruiere nach Cohen die Dinge als Gesamtheit der logischen Verhältnisse und Formen.

Begründer der Südwestdeutschen (Badenschen, Freiburger) Schule war Wilhelm Windelband (1848—1915). Im Gegensatz zur Marburger Schule schloss sie in sich scharf ausgeprägte irrationalistische Momente ein. Sie verband die historische Entwicklung mit dem Irrationalismus. Die Philosophie sei nach Windelband eine „Wissenschaft vom Normalbewusstsein“, deren Gegenstand gewisse absolute „Werte“ seien, die den logischen Gesetzen nicht unterworfen sind. Die philosophische Wissenschaft sei ein System der „absoluten Werte“ der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Guten, der Schönheit und der Heiligkeit.

Die Geschichtsauffassung der Neukantianer war antimaterialistisch. Sie verneinten jeglichen sozialen Fortschritt und begnügten sich mit der subjektiven Beurteilung sozialer Prozesse. In seinem Hauptinhalt deckte sich der Neukantianismus mit der subjektiv-idealistischen Linie des Machismus und des Positivismus.

Subjektiv-idealistisch war auch der Empiriokritizismus. Er entstand in den siebziger und achtziger Jahren als Philosophie der „reinen Erfahrung“, die man häufig als Machismus bezeichnet und als Variante des Positivismus ansieht. Der Empiriokritizismus verstand sich als Philosophie der modernen Naturwissenschaft. In Wirklichkeit war er aber eine eklektische Verknüpfung des subjektiven Idealismus mit wenigen Elementen des Materialismus. Er versuchte die Energielehre und die Thermodynamik idealistisch zu interpretieren.. Eigentliche Begründer des Empiriokritizismus waren Richard Avenarius (1843—1896), Lehrstuhlinhaber für induktive Philosophie an der Universität Zürich, und Ernst Mach (1838—1916), zunächst Professor der Physik an der Prager Universität und später Professor der induktiven Philosophie an der Universität Wien. Ihre philosophischen Ideen legten sie in ihren allgemein bekannten Büchern nieder. Avenarius schrieb „Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes“ (1876), „Kritik der reinen Erfahrung“ (1888—1890), „Der menschliche Weltbegriff“ (1891) und „Bemerkungen zum Gegenstand der Psychlogie“ (1894—95), und Ernst Mach ist bekannt als Autor der Sammelbände “Die Analyse der Empfindungen und des Verhältnisses des Physischen zum Psychischen“ (1885) und „Erkenntnis und Irrtum“ (1905).

Mach und Avenarius verkündeten die Lehre von der „reinen Erfahrung“. Sie leugneten die Objektivität der Gesetze der Wissenschaft und den Begriff der Kausalität. Mach behauptete, dass es in der Natur keine Ursache gebe und keine Wirkung, dass alle Formen des Kausalgesetzes subjektiven Trieben entsprängen, welchen zu entsprechen eine Notwendigkeit für die Natur nicht bestehe.

Nach Avenarius sei das Verhältnis zwischen dem Subjekt des Erkennens und der Umgebung oder zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich die Prinzipialkoordination, der zufolge das Subjekt (das Zentralglied) nicht ohne die Umgebung (Gegenglied) und die Umgebung nicht ohne das Subjekt existieren könne. Auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Gehirn des Menschen und der Erkenntnistätigkeit antwortete Avenarius, dass das Denken kein Bewohner oder Befehlshaber, keine andere Hälfte oder Seite, aber auch kein Produkt, ja nicht einmal eine physiologische Funktion oder nur ein Zustand überhaupt des Gehirns sei. Auch solche Ideen fanden zahlreiche Anhänger in den Reihen der dekadenten Dichter.

Auf den Positionen des subjektiven Idealismus stand auch die Immanenzphilosophie, die von Wilhelm Schuppe (1836—1913) und Johannes Rehmke (1848—1930) vertreten wurde. Die letzteren traten sogar in der Rolle der Verfechter des Fideismus auf. Bereits die Titel ihrer Werke besagen schon viel: „Der Solipsismus“ von Schuppe und „Die Welt als Wahrnehmung und Begriff“. Die Immanenzler leugnen die Existenz der objektiven Realität. In seiner „Erkenntnistheoretischen Logik“ (1878) behaupte Schuppe, dass diese ganze allerrealste Welt, Sonne, Mond, Sterne und die Erde mit allem Gestein und Getier, feuerspeienden Bergen Bewusstseinsinhalt sei. Ihr Solipsismus ist besonderer Art. Ihr Solipsismus sei kein „metaphysischer“ Solipsismus, sondern „gnoseologischer“. Sie sprechen vom „Gattungs-Ich“, das in allen individuellen „Ichs“ vertreten sei.

In der Nähe des Nietzscheanismus und der subjektiv-idealistischen philosophischen Systeme stand auch die „Lebensphilosophie“, die das Leben als „letzte Wurzel“ der Weltanschauung, als „inneres Wesen der Welt“ auffasste. Nach ihr sei das Leben nur durch sich selbst zu messen. Es sei Objekt des Erlebens. Die Außenwelt existiere nur insoweit, als sie vom Subjekt erlebt werde. Außerhalb des subjektiven Erlebens gebe es kein Leben und somit keine objektive Realität.

Bemerkenswert sind auch die lebensphilosophischen Kriterien der Wahrheit. Laut dieser Philosophie wahr sei nur, was dem Leben diene. Andere Kriterien der Wahrheit gebe es nicht. Dieses vitalistische Prinzip ist seinem Wesen nach antirationalistisch, wenn behauptet wird, dass die Erkenntnis am allerwenigsten eine Tätigkeit des Intellekts ist. Die Erkenntnis entspringe dem Instinkt des Menschen, der die Welt entsprechend seinen eigenen Bedürfnissen und Zwecken erschaffe. Die „Lebensphilosophen“ verstanden das Leben im Sinne Schopenhauers und Nietzsches als etwas Irrationales, als mystisch-religiöse Wesenheit, die nur mittels des Instinkts und der Intuition erkannt werde. Nur die letzteren vermöchten es, die Welt von innen zu erfassen. Und nur so könne das „wahre“ Wissen erreicht werden.

Prominenteste Vertreter der Lebensphilosophie waren Wilhelm Dilthey (1834—1911) und Georg Simmel (1858—1918). Der erstere gilt als deren Begründer. Sein philosophisches Hauptwerk war „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (1883). Wie alle subjektiven Idealisten leugnet auch Dilthey den objektiven Charakter der Gesetze der Natur und der Gesellschaft. Die Geisteswissenschaften seien mit der psychischen Tätigkeit des Menschen verbunden. Das Wesen des Seelenlebens sieht er in der Irrationalität und im Unterbewusstsein. Das Seelenleben sei die einzige zuverlässige Realität. Die Geschichte der Menschheit ist für ihn vor allem die Geschichte des „Geistes“, der Kultur, deren Träger und Schöpfer große Persönlichkeiten seien. Das Wirken der letzteren gründe sich auf die Intuition, den Instinkt und die Offenbarung.

Georg Simmels Philosophie vereinigt in sich Elemente der Lebensphilosophie und des Nietzscheanismus. Er versteht das Leben als unaufhörliches „Entstehen aus sich selbst“. Er spricht von „Mehr Leben“ und „Mehr als Leben“. Unter ersterem versteht er anorganische und organische Natur, Familie und Gesellschaft, unter dem zweiteren die Kultur, die sich aus Religion, Kunst und Wissenschaft zusammensetze. Dabei verzichtet er auf wissenschaftliche Erkenntnismethoden und stellt Instinkt und Intuition bei der Erkenntnistätigkeit in den Vordergrund, insbesondere bei der historischen Forschung.

Seine soziologischen Auffassungen haben konservativ-apologetischen Charakter, sie beruhen vielfach auf dem Sozialdarwinismus und dem Malthusianismus. Gleichwie Schopenhauer behauptet er, dass die Welt vom Hunger und von der Liebe regiert werde. Der Kampf ums Dasein und die Konkurrenz bestimmten das Leben aller Lebewesen, einschließlich der Menschen. Ziel dieses Kampfes sei höheres Lebensniveau. Alle Mittel seien tauglich und moralisch gerechtfertigt.

Den größten Einfluss auf die Dekadenz übte aber vor allem der Begründer und Entdecker der Tiefenpsychologie Siegmund Freud.. Er beeinflusste nicht nur die Literatur der Dekadenz, sondern auch die des Modernismus. Auch viele bürgerlich-humanistische, kritisch-realistische Autoren nutzten seine tiefenpsychologischen Erkenntnisse.

Siegmund Freud erschütterte das Gebäude der positivistischen Psychologie. Er erfasste seelische Kräfte, die bis dahin unerkannt waren. Er entdeckte das Unterbewusstsein und das Unbewusste im Seelenleben des Menschen. In seinem Buch „Die Psychopathologie des alltäglichen Lebens“ räumte er dem Bewussten und Verstandesmäßigen nur noch etwa fünf Prozent des gesamten Seelenlebens ein. Große Bedeutung maß er vor allem den sexuellen Trieben des Menschen bei, deren Rolle im menschlichen Leben und in der künstlerischen Tätigkeit er zweifelsohne überschätzte. Nichtsdestoweniger waren seine tiefenpsychologischen Erkenntnisse in mancher Hinsicht ein Schritt vorwärts, sie erschütterten manche tradierten spießbürgerlichen Moralnormen, und dies hatte nichts Schlimmes an sich.

All diese philosophischen Lehren bestimmten direkt oder indirekt das dekadente Denken und Fühlen der jungen Dichter um die Jahrhundertwende.

Die dekadente Ästhetik hatte antimaterialistischen Charakter. Sie basierte auf dem

subjektiven philosophischen Idealismus. Die Kunst und Literatur waren für sie keine Widerspiegelung des Lebens mehr, sondern Ausdruck des subjektiv gefassten Innenlebens des Künstlers. Man sprach von einer „reinen Kunst“, von der „Kunst um der Kunst willen“. Solche subjektiv-idealistische Kunst- und Literaturauffassung führte zur Verinnerlichung der Kunst und letztendlich zur Kultivierung des Geheimnisvollen, Mystischen und Übersinnlichen. Die Literatur beschränkte sich auf die Darstellung ausgesuchter Erlebnisse, seltener Nervenerkrankungen und anormaler Geschehnisse. Man flüchtete in die Welt der Träume, ins Berauschtsein, in exotische Räume. Die Sprachgestaltung gewann häufig esoterischen Charakter. Nicht zuletzt deswegen wurde die Literatur elitär und schwer zugänglich. Bevorzugt wurden als Themen und Stoffe nur noch schöne Seiten des Lebens. Und dies führte zu einseitigem Ästhetizismus und Schönheitskult. Melancholie, Sentimentalität und Traumseligkeit wurden häufig zu bestimmendem Pathos von Kunstwerken.

Die soziale Thematik wurde von den dekadenten Autoren völlig ignoriert, bevorzugt wurden Nippsachen und Kleinigkeiten des privaten Lebens. Viele Literaturwerke wurden durch ironische Intonationen durchklungen. Satirische Groteske und Stilisierung wurden zu Lieblingsmitteln der künstlerischen Gestaltung. Modisch wurden altägyptische und altchinesische sowie Negerkunst, Gilgamesch und Majakultur. Für viele Dichter der Dekadenz wurde das katholisch-feudale Mittelalter zum Zufluchtsort. Mystik und Irrationalismus, Krankhaftes und Brüchiges beherrschten die neue Dichtung. Auf jegliche soziale Kommunikation wurde verzichtet. Auch Volkstümlichkeit von Kunst und Literatur, die in der humanistischen Klassik hochgeschätzt wurde, galt nicht mehr als Vorzug. Gefördert wurde Anormales und Ungesundes. „Nervös“ wurde zum Modewort in der dekadenten Literatur. Und das Kranksein galt als Merkmal und Kennzeichen der Ausgesuchtheit. Erotik und Sexualität gewannen nunmehr an Bedeutung.

Im Nachstehenden werden vereinzelte Stilrichtungen der Dekadenz und deren zahlreiche Vertreter etwas ausführlicher behandelt. Man muss aber dabei im Auge haben, dass im Schaffen ein und desselben Dichters gewöhnlich gleichzeitig Merkmale vieler Stilrichtungen entdecken lassen, so dass es in der dekadenten Literatur keine „reinen“ Impressionisten und Symbolisten gab, geschweige denn Neuromantiker oder Neuklassizisten. Dies gilt vor allem für die größten Dichter der Dekadenz, allen voran Stefan George, Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal.

Kontrollfragen:

1. Welche sozialpolitischen und wirtschaftlichen Ursachen bewirkten das Aufkommen der Dekadenz?

2. Welche philosophischen Lehren beeinflussten die Weltanschauung der Dekadenz?

3. Welche Rolle spielte Arthur Schopenhauer in der Herausbildung des dekadenten Lebensgefühls?

4. Was wissen sie von Friedrich Nietzsche und seiner Philosophie?

5. Welche Neukantianer kennen Sie?

6. Was behaupteten die Vertreter der Immanenzphilosophie?

7. Welche „Lebensphilosophen“ sind Ihnen bekannt?

8. Wodurch charakterisiert sich die Tiefenpsychologie Sigmund Freuds?

9. Welche Besonderheiten weist die dekadente Ästhetik auf?

 

I.2.1. Impressionismus als Stilrichtung der Dekadenz

 

Der Name dieser Stilrichtung der Dekadenz kommt aus der Malerei her. 1874 wurde in Paris das Gemälde des französischen Malers Claude Monet „Impression“ ausgestellt, und dieses Ereignis kann man als Beginn des Impressionismus ansehen. Bald fand das neue malerische Gestaltungsprinzip weite Verbreitung in ganz Europa. Als Impressionisten wurden in Frankreich die Maler Corot, Manet, Degas, Pissaro, Renoir und Sisley bekannt. Auch deutsche impressionistische Maler Liebermann, Corinth und Slevogt erfreuten sich großer Popularität. Kurz darauf wurden die neuen Gestaltungsprinzipen auch auf andere Kunstgattungen übertragen: auf die Literatur, Musik, Bildhauerkunst und auf das Theater. Als Anreger der neuen Stilrichtung in der Literatur gelten vor allem ausländische Dichter: die Franzosen Baudelaire, Verlaine, die Skandinavier Jakobsen, Bang und Hamsun. Auch die Russen waren nicht ohne Einfluss auf die deutschen Impressionisten, zum Beispiel Tschechow, der ebenfalls die schleierhaft verhüllte, feinnervige, zarte Stimmungskunst des Impressionismus glänzend beherrschte.

Was die literaturgeschichtliche Einordnung des Impressionismus betrifft, so muss man unbedingt sagen, dass der Impressionismus trotz der Gegensätzlichkeit dem Naturalismus gegenüber eben aus ihm hervorging. Der „Sekundenstil“ des Naturalismus führte letztendlich zum Impressionismus. Das Stilideal der Detailtreue wurde auch von den Impressionisten übernommen. Hauptkriterium der Wahrhaftigkeit der literarischen Darstellung wurde die Genauigkeit augenblicklicher Wahrnehmungen des Dichters. Die Ganzheit des Dinges und des Menschen interessierte niemand mehr. Der augenblickliche Zustand der dargestellten Gegenstände, Landschaften und Menschen wird nunmehr zur Hauptsache. Ihr objektives Dasein wird nicht mehr interessant. Reale Umrisse und Konturen der Dinge, ihre Farben und Düfte gehen nunmehr in der künstlerischen Darstellung verloren, sie verwischen sich und werden unbestimmt. In den Vordergrund rücken vor allem die augenblicklichen, flüchtigen Empfindungen, Wahrnehmungen und Eindrücke, die man als Momentaufnahmen oder als pointillistische Folgen stimmungsvoller Impressionen, wie dies im Romanfragment „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von Rainer Maria Rilke der Fall ist, bezeichnen könnte. Nicht von ungefähr nennt man die impressionistische Kunst „die Kunst der Nuance“. Subjektive Sinneseindrücke, Augenblicksstimmungen, flüchtige Reize von Licht und Schatten, immer feinere Zwischentöne und Schattierungen des Lichtes, der Farbe und des Duftes werden nunmehr in erster Linie eingefangen und wiedergegeben. Man genießt die Flüchtigkeit der Geschehnisse. Die eingefangenen Augenblickseindrücke werden im Text skizzenhaft aneinandergereiht. Sie wechseln von Augenblick zu Augenblick. Diese subjektivistische Schreibweise erstreckt sich nicht nur auf die Außenwelt, sondern auch auf seelische Bereiche. Die künstlerische Darstellung der menschlichen Innenwelt, der psychischen Vorgänge verwandelt sich in beeindruckende Tiefenforschung. Die Dichter verwenden dabei nuancierte, fragmentarische Verfahrenweisen. Sie fühlen sich zum Fernen, Abseitigen und Einmaligen hingezogen. Typisches, Gewöhnliches interessiert sie nicht mehr. Zu ihren Helden werden nicht mehr Alltagsmenschen, wie das bei den Naturalisten der Fall war, sondern Ausnahmemenschen, die von Milieu und Vererbung völlig unabhängig sind. Das sozialkritische Element und das politische Engagement des Naturalismus wird gegen den Rückzug auf die Subjektivität und den Individualismus im Geiste der subjektividealistischen Philosophie der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eingetauscht. Subjektive Realität seelischer Vorgänge, elitäres, ästhetizistisches Leben in einer bizarren, exotischen Scheinwelt und Flucht vor der sozialen Realität werden zu vorherrschenden, immer wiederkehrenden Themen der impressionistischen Dichtung.

Die Weltliteratur kannte viele stilistische Abarten des Impressionismus auch auf realistischer Grundlage. Als markanteste Vertreter derartigen Impressionismus galten die Engländer Stevenson und Conrad. Die Brüder Goncourts waren als Begründer des „psychologischen Impressionismus“ bekannt. Unter ihrem Einfluss standen auch die realistischen Schriftsteller Thomas Mann, Stefan Zweig und Knut Hamsun.Ihre Weltempfindung basierte auf nüchterner realistischer Wahrnehmung der Welt. Diametral entgegengesetzt war die dunkle, unbestimmte, subjektivistische Weltempfindung der Literatur des „Bewusstseinsstroms“, zum Beispiel der Romane von Marcel Proust. Und dies war bereits eine Erscheinungsart der Dekadenz. Impressionistische „Momentaufnahmen“ finden sich auch bei dem Engländer Oscar Wilde. Der „Eindruck“ wurde zum Niveau einer neuen „Lebensphilosophie“ erhoben, nach der der Mensch in dieser Welt hoffnungslos einsam sei und die Kriterien von Gut und Böse nicht mehr zu unterscheiden seien. Wertvoll und einzig und allein real sei, was flüchtig-augenblicklich und durch nichts auszudrücken sei. Diese Ideen fanden Ausdruck auch bei H. Bahr, dem Wortführer einer österreichischen Dichtergruppe. Der Impressionismus wurde bei ihnen Programm. Dunkelheit, Verschweigen und halbe Aussagen, Anspielungen auf etwas Geheimnisvolles und Schicksalhaftes prägen ihre fragmentarischen Phrasen.

In der russischen Literatur um die Jahrhundertwende machten sich auch impressionistische Tendenzen bemerkbar, aber viel schwächer als im Westen. Impressionistisch wirken gelegentlich die erzählenden psychologischen Studien von Saizew und die sujetlosen Novellen von Dymow. Die impressionistische „Philosophie des Augenblicks“ ist vor allem in der Lyrik von Annenskij und Balmont verkörpert. „Reine“ Impressionisten gab es in Russland nicht. Der Impressionismus vereinigt sich häufig mit dem Symbolismus, was übrigens nicht nur in Russland der Fall war, sondern auch in Deutschland. Alle dekadenten Schreibweisen waren von kurzer Dauer, sie überlagerten sich häufig sogar in Einzelwerken der Dichter, geschweige denn in ihrem Gesamtschaffen. Als Beispiel könnten die Werke von Rainer Maria Rilke dienen. Bei ihm finden sich in verschiedenen Etappen seines Schaffens sowohl impressionistische und symbolistische, als auch neuromantische und existentialistische Stilelemente. Detlev von Liliencron und Richard Dehmel begannen ihre literarische Tätigkeit als Vorläufer des Naturalismus, machten aber auch den Impressionismus und andere Stilrichtungen der Dekadenz mit. Am stärksten waren impressionistische Stilelemente in den Werken von Arthur Schnitzler und Peter Altenberg ausgeprägt. Dazu griffen auch Max Dautendey, Otto zur Linde, Peter Hille und Graf Eduard von Keyserling. Impressionistische Periode in ihrem Schaffen erlebten auch Friedrich Nietzsche, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Stefan George und Hans Carossa.

Die auffälligsten impressionistischen „Momentaufnahmen“ enthalten zum Beispiel folgende Auszüge aus den Werken von Detlev von Liliencron und Rainer Maria Rilke. Zunächst führen wir das lyrische Gedicht von Liliencron „ Märztag“ an und dann einen Auszug aus dem Prosagedicht Rilkes „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“.

 

Märztag

 

Wolkenschatten fliehen über Felder,

Blau umdunstet stehen ferne Wälder.

 

 

Kraniche, die hoch die Luft durchpflügen,

kommen schreiend an in Wanderzügen.

 

Lerchen steigen schon in lauten Schwärmen,

überall ein erstes Frühlingslärmen.

 

Lustig flattern, Mädchen, deine Bänder,

kurzes Glück träumt durch die weiten Länder.

 

Kurzes Glück schwamm mit den Wolkenmassen,

wollt es halten, musst es schwimmen lassen.

 

Aus: „Cornet“:

 

„Als Mahl beganns. Und ist ein Fest geworden, kaum weiß man wie. Die hohen Flammen flackten, die Stimmen schwirrten, wirre Lieder klirrten aus Glas und Glanz., und endlich aus den reifgewordenen Takten: entsprang der Tanz. Und alle riss er hin. Das war ein Wellenschlagen in den Sälen, ein Sich-Begegnen und ein Sich-Erwählen, ein Abschiednehmen und ein Wiederfinden, ein Glanzgenießen und ein Lichterblinden und ein Sich-Wiegen in den Sommerwinden, die in den Kleidern warmer Frauen sind.—Aus dunklem Wein und tausend Rosen rinnt die Stunde rauschend in den Traum der Nacht“.

 

Ein gutes Beispiel ist auch ein Auszug aus der „Wintersonne“ von Max Dauthendey: „Es geht ein Licht vom Himmel wie Rosenmilch. Geht durch die leeren Bäume über den Schnee, über das Schilfdach einer Hütte, über einen kauernden blauen Mann und eine gelbe ziehende Herde….

Vergissmeinnichtblüten und Rosa in den Schneegruben. Der Schnee knistert fiebernd wie Seide. Seiden die Luft, goldweiß und goldrosig gestrählt. Opalfarben schweben über den Schnee, kaum hörbar, zart wie der Atem der Perlen. Aber über allem bricht rauschend das Licht im Duftguss aus weißem Kern“.

 

Kontrollfragen:

 

1. Woher kommt der Name „Impressionismus“?

2. Welche ausländischen Anreger des Impressionismus kennen Sie?

3. Warum nennt man den Impressionismus die „Kunst der Nuance“?

4. Wodurch charakterisiert sich die impressionistische Schreibweise?

5. Welche Abarten des Impressionismus kannte die Weltliteratur?

6. Welche russischen Impressionisten kennen Sie?

7. Welche deutschsprachigen Dichter kennen Sie, in deren Werken die Züge des Impressionismus besonders stark ausgeprägt sind?

8. Welche Züge und Motive machen das Gedicht „Märztag“ Liliencrons impressionistisch?

9. Worin bestehen die Züge des Impressionismus im Text „Cornet“ Rilkes?

 

 

I.2.2. Symbolismus als Stilrichtung der Dekadenz

 

Hans Joachim Willberg nennt den Symbolismus eine Sammelbezeichnung für mehrere literarische Strömungen zwischen Naturalismus und Expressionismus: Neuromantik, Neuklassik, Dekadenzdichtung. Unserer Ansicht nach bedeutet derartige Definition totale Begriffsvermischung. Der Symbolismus ist eine Stilrichtung innerhalb der Dekadenz. Allerdings sind wir mit ihm einverstanden, wenn er schreibt, dass sich der Symbolismus im Rückgriff auf die Klassik und Romantik gegen den Wirklichkeitskult und die Tendenzliteratur des Naturalismus wende und dessen Form- und Stillosigkeit sowie dessen Sprachvernachlässigung ablehne. Wir sind mit ihm auch einverstanden, wenn er behauptet, dass der Symbolismus, über die impressionistische Oberflächenkunst hinausgehend, auf die hinter der Oberfläche liegenden Ideen, die im Symbol beschworen würden, weise. Es stimmt auch, dass die Verwendung des Symbols Ausdruck für die Geheimnisse des Lebens, auch der übersinnlichen Welt sei. Richtig ist auch die Behauptung, dass im Symbolismus an die Stelle eines optimistischen Rationalismus ein pessimistisch gefärbter Irrationalismus trete. Weiterhin unterstreicht er den individualistischen, volksfremden Charakter der symbolistischen Kunst und Literatur, ihre aristokratische Grundhaltung und Ablehnung aller sozialen und politischen Bindungen. Recht hat er auch, wenn er die symbolistische Literatur als Flucht in den “elfenbeinernen Turm“ der Kunst bezeichnet. Der Standpunkt des Symbolismus ist wirklich der der „reinen Kunst“, „der Kunst um der Kunst willen“ oder, wie die Franzosen sagen, der „l' art pour l’ art“. Alle Literaturwissenschaftler verweisen durchaus zu Recht auf den elitären Charakter der symbolistischen Dichtung, die als Geheimsprache einer kleinen auserlesenen Schar aufgefasst wird.

Was die Form und Sprache der symbolistischen Literatur angeht, so verweisen alle Literaturforscher auf äußerste Musikalität und Kunstfertigkeit der Sprache, auf die Magie und Zauberkraft des poetischen Wortes, und vor allem auf den verfeinerten Wohlklang und Schönheit des lyrischen Sagens und Sprechens.

Die Stilrichtung des Symbolismus hat gleichwie andere dekadente Stilrichtungen internationalen Charakter. Sie ist erstmals in Frankreich aufgekommen, dann fand sie in Deutschland und Russland weite Verbreitung. Französische Symbolisten Charles Baudelaire, Stephane Mallarme, Paul Verlaine und Arthur Rimbaud beeinflussten weitgehend die deutschen und russischen Symbolisten. Die bekanntesten Dichter, in deren Schaffen sich stark ausgeprägte symbolistische Züge finden, waren in Deutschland Friedrich Nietzsche und Stefan George, aber auch bei Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal lassen sie sich nicht verkennen.

Was den russischen Symbolismus betrifft, so fand er auch internationale Anerkennung. Die Namen der russischen Symbolisten sind in ganz Europa gut bekannt. Im Gegensatz zum deutschen Symbolismus war der russische Symbolismus eine relativ einheitliche Bewegung, die viele literarische Manifeste hervorbrachte. Als Geburtsjahr des russischen Symbolismus wird das Jahr 1892 angegeben. Dmitrij Mereschkowskij hält 1892 eine Vorlesung über die neuere russische Literatur und Walerij Brjussow gibt eine Anthologie über die russischen Symbolisten heraus. Der letztere gilt als Wortführer des Symbolismus, der andere als dessen Ideologe. In den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts wird sehr viel und leidenschaftlich über die realistischen und symbolistischen Tendenzen in der russischen Literatur diskutiert. Von vielen wird die realistische Methode verworfen. Sie gilt als ausgedient. So denkt zum Beispiel Konstantin Balmont. Man spricht häufig über die Existenz von zwei symbolistischen Dichtergruppen in Russland, über die jüngeren und älteren. Die jüngere Gruppe vertreten Andrej Bely, Alexander Blok und Wjatscheslaw Iwanow, während zu den älteren Symbolisten Innokentij Annenskij, Walerij Brjussow, Konstantin Balmont, Sinaida Hippius, Dmitrij Mereschkowskij und Fjodor Sologub gerechnet werden. Die letzteren standen, wie behauptet wird, dem dekadenten französischen Symbolismus näher als die jüngeren. Ihnen ging es vor allem um geistig-ideelle Werte, sie suchten einen Weg zur Erschließung der Welt. Sie betrachteten den Dichter als eine Art Medium und tendierten zu spiritueller Mystik. Die Werke der jüngeren Symbolisten waren eher von religiösen Ideen geprägt und verrieten den Einfluss der Sophiologie des Philosophen und Schriftstellers Solowjow.

Am 18. September 1886 veröffentlichte Jean Moreas das Manifeist „Le symbolisme“, in dem er die Verdrängung des Naturalismus aus der Literatur verkündete und dessen “klaren Sinn, Deklamationen, falsche Sentimentalität und sachliche Beschreibung“ verwarf. Als Ziel der Literatur gab er an, „das Ideal in erkennbare Form zu kleiden“. Die Literatur solle im Gegensatz zum Naturalismus, der nur den Wert der Verneinung besitze, in erster Linie das Ideal ausdrücken.

Als Bezeichnung der dichterischen Richtung wurde der Begriff „Symbolismus“ von Jean Moreas erstmals im Vorwort zur Sammlung „Kantilenen“ verwendet. Dies geschah vor der Veröffentlichung des Manifestes, allerdings im selben Jahr.

In seinem Manifest nannte er als Vorläufer des Symbolismus den Dichter der englischen Renaissance Shakespeare, den Verfasser des „Hamlet“, den altgriechischen Dichter Pindar mit seiner “Dunkelheit und Vieldeutigkeit“, den italienischen Dichter Dante, den Verfasser der „Vita nuova“, den deutschen Klassiker Goethe als Schöpfer des zweiten Teils des „Faust“ und den französischen Romancier Flaubert als Autor der „Versuchung des heiligen Antonius“. Auch bei Rabelais und Villon fand er Züge des Symbolismus..

Daselbst formulierte Moreas die Aufgabe der neuen Richtung wie folgt, die Poesie sei bestrebt, die Idee in wahrnehmbarer Gestalt zu verkörpern, die jedoch kein Selbstzweck sei, die aber, indem sie zum Ausdruck der Idee diene, ihre untergeordnete Stellung bewahre.

Die neue Bewegung gruppierte sich um den Verlag L. Vannier und die Zeitschriften „Symboliste“, „Escrits pour l’ art“, „Plume“ u.a. Die Kritiker verwiesen immer wieder auf die Unklarheit und Unlogik des Symbolismus. Theoretische Wurzeln des Symbolismus fanden sie bei Schopenhauer und E. Hartmann, dem Philosophen des Unterbewussten, bei dem nordamerikanischen Romantiker A.E. Poe sowie bei R. Wagner, als auch bei Fr. Nietzsche. Besonders wirksam war die Idee Schopenhauers davon, dass nicht die Außenwelt real sei, sondern nur der „Weltwille“, der ewige Formen der Dinge bilde, ihre Ideen. Die Kunst sei ein Mittel des Beschauens, des intuitiven Erkennens urewiger Ideen-Formen durch die Realität.

Die Doktrin des Symbolismus geht von der Idee aus, dass in der Tiefe der Dinge, die in der alltäglichen Erfahrung gegeben sind, sich das Geheimnis verberge, die Idee, die nur der Kunst zugänglich sei, und vor allem der Musik, aber auch der Lyrik, die sich musikalischer Redemittel bediene. Die wichtigste Eigenschaft der Poesie sei das Gefühl des Geheimnisses. Die Lyrik sei die höchste Form des Wissens. Sie nähere sich in dieser Hinsicht der Religion an. Ihr Schöpfer sei gottgleich, allmächtig.

Viele Symbolisten sehen die wichtigste Aufgabe der Poesie in der Entdeckung und Gestaltung der Idee der Schönheit, durch die die Idee des Guten aufgedeckt werde. Nicht weniger wichtig sei auch die Wiedergabe der Einheit der Welt, die sich in den „Entsprechungen“ manifestiere. Die Symbolisten schätzten sehr hoch das Sonett Baudelaires „Entsprechungen“, in dem Platons Idee ausgedrückt sei, dass Gerüche, Farben und Laute mit- und durcheinander ausgedrückt werden könnten. Zu diesem Zweck setzten sie in ihrer Lyrik häufig solche Stilmittel wie Synästhesie und Onomatopoeia ein.

Die Symbolisten meinen, dass der Dichter Übersetzer, Dechiffrierer sei, der sich der Vergleiche, Metaphern und Epitheta bediene, die aus den bodenlosen Tiefen der Weltanalogie geschöpft seien. Das Symbol sei der vollste Ausdruck der „Weltanalogie“, der ideellen Einheit der Welt. Es sei der Gipfel der poetischen Bildkraft, die höchste Verkörperung der Idee. Es solle die Eigenschaft der metaphysischen Verallgemeinerung besitzen und zeitlose, ewige Sinne und Inhalte in sich enthalten. In dieser Hinsicht stehe das Symbol dem „Typus“ entgegen, der sich durch die sozial-historische Konkretheit unterscheide.

Manche Symbolisten betonen die Nähe des poetischen und religiösen Symbols, indem sie behaupten, dass die Welt symbolisch der katholischen Kathedrale gleich sei und dass die Aufgabe des Dichters in der Aufdeckung der Symbole bestehe, die sich in allen Naturerscheinungen verbergen. Alles Konkrete sei hintergründig, und dies solle entdeckt werden.

Als Beispiel für die symbolistische Schreibweise könnten folgende Texte von Friedrich Nietzsche und Stefan George angeführt werden:

 

Ecce homo

 

Ja, ich weiß, woher ich stamme!

Ungesättigt gleich der Flamme

Glühe und verzehr ich mich.

Licht wird alles, was ich fasse,

Kohle alles, was ich lasse:

Flamme bin ich sicherlich!

 

Fr. Nietzsche

Das Motiv der Flamme im Gedicht symbolisiert das intensive, schöne, starke Leben, das dem spießbürgerlichen Lebensideal diametral entgegengesetzt ist. Ähnliche Lebenshaltung durchdringt auch zwei Auszüge aus den Gedichten von Stefan George: „Wer je die flamme umschritt“ und „lied“

 

Wer je die flamme umschritt

Bleibe der flamme trabant.

Wie er auch wandert und kreist:

Wo noch ihr schein ihn erreicht.

 

Irrt er zu weit nie vom ziel,

Nur wenn sein blick sie verlor

Eigener schimmer ihn trügt:

Fehlt ihm der mitte gesetz

Treibt er zerstiebend ins all.

 

lied

 

Du schlank und rein wie eine flamme

Du wie der morgen zart und licht

Du blühend reis vom edlen stamme

Du wie ein Quell geheim und schlicht

 

Begleitest mich auf sonnigen matten

Umschauerst mich im abendrauch

Erleuchtest meinen weg im schatten

Du kühler wind du heißer hauch

 

Kontrollfragen:

 

1. Wie charakterisiert der deutsche Literaturwissenschaftler Willberg den Symbolismus?

2. Auf welche Besonderheiten der symbolistischen Schreibweise verweisen die Literaturwissenschaftler?

3. Wo ist der Symbolismus zuerst aufgekommen?

4. Was können Sie über den russischen Symbolismus sagen?

5. Was wissen sie vom Manifest des Symbolismus von Jean Moreas?

6. Was warfen die Literaturkritiker den Symbolisten vor?

7. Von welchen Ideen geht die Doktrin des Symbolismus aus?

8. Worin sehen die Symbolisten die wichtigsten Aufgaben der Poesie?

9. Wie bestimmen die Symbolisten die Rolle des Dichters?

10. Welche Rolle weisen die Symbolisten dem Symbol zu?

 

I.2.3. Neuromantik

 

Die Neuromantik ist auch eine der Stilrichtungen der Dekadenz. Sie ist ebenfalls nichts weniger als homogen. Nichtsdestotrotz enthält sie viele gemeinsame Tendenzen und Züge, die sie vom Impressionismus und Symbolismus unterscheiden. Es sind dies Hinwendung zum Irrationalismus und rauschhafter Lebenskult, reizbare Todesmystik und Überbewertung des Formalen, mystische Verinnerlichung und kosmische Weltschau, übersteigertes Interesse für das Mittelalter. Diese Züge und die Sehnsucht nach dem Schönen, Wunderbaren, Geheimnis-Magischen und Phantastischen sowie die Erneuerung von Märchen, Sagen und Mythen machen die Neuromantik mit der traditionellen historischen Romantik verwandt. Die letztere zeigte großes Interesse für das Volk, für die Folklore. Jene zeichnet sich aber durch Volks- und Naturfremdheit, eine gewisse Kulturmüdigkeit und durch ihre zerrissene Seelenhaltung aus. In der Neuromantik fehlt die inbrünstige Gottesgläubigkeit und die Vaterlandsliebe der alten Romantiker.

Im Westen gibt es Literaturhistoriker, die die Neuromantik als „literarischen Jugendstil“ bezeichnen. Sie identifizieren die Neuromantik mit der gesamten Dekadenz und betrachten sie als Gegenbewegung nicht nur zum Naturalismus, sondern auch zur „Moderne“(Modernismus). Unserer Ansicht nach ist das einfach eine Verwirrung der Begriffe.

Auch die Neuromantik hat internationalen Charakter. Neuromantische Tendenzen lassen sich in den meisten dekadenten Literaturen des Westens verfolgen. Und sogar in Russland.

Die Neuromantik war auch eine Reaktion auf den Naturalismus, aber auch manchmal auf den Pessimismus und den “Unglauben“ der Dekadenz. Sie verachtete die prosaische Existenz des Spießbürgers und besang Mut und Heldentat und vor allem die Heroik der Abenteuer. Typischer neuromantischer Held war ein mutiger Ausnahmemensch, der der Gesellschaft oder dem Volk entfremdet war. Die Sujets neuromantischer Dichtungen waren meist zugespitzt und gespannt, weil häufig Kämpfe, Gefahren und geheimnisvolle Ereignisse geschildert wurden.

Die Neuromantik jedes Landes war eigenartig. Die englische stand dem symbolistischen Formalismus fremd gegenüber, sie nutzte häufig die naturalistische Detailfreudigkeit. So verfuhr zum Beispiel Kippling. Sie thematisierte nicht selten Abenteuer, historische Ereignisse und Kriminalgeschichten. Man denke an Conrad, Stevenson, Haggard und Conan Doyle. Beeindruckend waren auch Kiplings Balladen zu kolonialer Thematik.

Der Italiener Antonio Fogazzaro vereinigte zum Beispiel die neuromantische Idealisierung des Katholizismus mit der Sittenmalerei im Geiste des Verismus. Der Spanier Garcia Lorca besang die heldenhafte Vergangenheit Spaniens, aber auch das Leben der Menschen, die der bürgerlichen Zivilisation fremd waren, und allen voran das der Zigeuner. Auch Maxim Gorki verwendete in „Makar Tschudra“ und „Die Alte Isergil“ neuromantische Stilelemente.

In Deutschland nähert sich die Neuromantik dem Impressionismus und dem Symbolismus. Der Symbolist Stefan George poetisierte die Helden, die den „Pöbel“ verachteten und entschieden gegen die „Vermassung des Jahrhunderts“ auftraten. Hugo von Hofmannsthal flüchtete vor der Prosa des menschlichen Daseins in die Welt der romantischen Stilisierung und Exotik. Gerhart Hauptmann, Hauptvertreter des deutschen Naturalismus, machte ebenfalls die Neuromantik mit. Dies zeigt sich besonders eindrucksvoll in seinem Drama „Hanneles Himmelfahrt“. Auch Walter Hasenclever wandte sich im Geiste der Romantik der Vergangenheitsgeschichte zu, gleichwie Ricarda Huch, deren epische und dramatische Werke viele romantische Züge aufweisen. Neuromantische Züge trugen auch die Balladen der sogenannten „Heimatkünstler“ Börries von Münchhausen, der Lulu von Strauß und Torney und der Agnes Miegel.. Auch Ricarda Huchs vergangenheitsgeschichtliche Werke weisen ohne Zweifel neuromantische Tendenzen auf. Frühe Dichtungen von Hermann Hesse enthalten ebenfalls viel Neuromantisches in sich. Dasselbe kann man auch von Stefan Zweig sagen.

Rilkes „Stundenbuch“ ist thematisch und motivisch ein Ringen um Gott. Es ist ein Ausdruck des neuromantischen Gottessuchertums des Autors. Hier ein Beispiel daraus:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.

 

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

und ich kreise jahrtausendelang;

und ich weiß noch nicht: ich bin ein Falke, ein Sturm

oder ein großer Gesang.

 

Sehr viele Gedichte des „Stundenbuches“ drehen sich um Gott. Die Gottesauffassung darin ist allerdings nichts weniger als orthodox. Sie ist gelegentlich eher pantheistisch:

 

Ich finde dich in allen diesen Dingen,

denen ich gut und wie ein Bruder bin;

als Samen sonnst du dich in den geringen,

und in den großen gibst du groß dich hin.

 

Das ist das wundersame Spiel der Kräfte,

dass sie so dienend durch die Dinge gehn:

in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte

und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.

 

Kontrollfragen:

 

1. Worin bestehen die Hauptzüge der Neuromantik?

2. Was war die Neuromantik, eine Reaktion auf den Naturalismus oder auf den Pessimismus und „Unglauben“ der Dekadenz?

3. Was besang die Romantik in ihren Werken?

4. Womit erklärt sich die Eigenart der Neuromantik in verschiedenen Ländern?

5. Wie ist die Stellung der Neuromantik in Deutschland dem Impressionismus und Symbolismus gegenüber?

6. Bei welchen deutschen Autoren findet man in ihren Werken Züge der Neuromantik?

7. Was macht die angeführten Gedichte Rilkes zu neuromantischen Werken?

 

 

I.2.4. Neuklassizismus

 

Die westlichen Literaturforscher nennen die Dichtung des Neuklassizismus „Neuklassik“. Sie verstehen sie zu Recht als Reaktion auf den Naturalismus und sogar die Dekadenz. Und dies stimmt. Auch der Neuklassizismus war vor allem eine Gegenbewegung zum Naturalismus. Er erstrebt im Gegensatz zum Naturalismus Sprachzucht und Formstrenge. In dieser Hinsicht gemahnt er an den Symbolismus, dessen Sprachform zuchtvoll und formstreng war. Beide Stilrichtungen verwarfen die sprachliche Vernachlässigung der Naturalisten.

Der Neuklassizismus war auch eine internationale künstlerische Erscheinung wie die anderen dekadenten Stilrichtungen. Er war in der gesamten Literatur ein schmales Rinnsal, allerdings mit exklusivem Anspruch. Und dies gilt vor allem für deutsche Neuklassizisten.

Neuklassizistische Züge findet man bereits in der Lyrik der russischen Dichter A.I. Maikow und N.F. Schtscherbina, der französischen klassische Traditionen wieder aufnehmenden Schule der Parnassiens und ihres Vorläufers Theophile Gautiers. Auch russische Symbolisten griffen nicht selten zu antiken Themen, Motiven und Formen. Annenskij, Brjussow, Balmont, Wjatscheslaw Iwanow verwendeten in ihren Werken häufig antike Sujets und Helden. Marina Zwetajewa schrieb über die Heldinnen der antiken Mythologie „Phädra“ und „Ariadna“. Sogar Puschkins anthologische Gedichte enthielten neoklassizistische Themen und Motive, sie sind von Lebensfreude und Optimismus durchdrungen und offenbaren eindeutig hellenisches Weltgefühl.

Die Neuklassizisten ästhetisierten die Antike, sie beteten sie geradezu an. Sie besangen im Geiste der Antike die Schönheit des menschlichen Körpers, irdische Leidenschaften und Genüsse. Dessen befleißigten sich vor allem die Franzosen.

Wortführer und Theoretiker der deutschen Neuklassizisten war Paul Ernst (1866—1933)., Verfasser der „Komödiantengeschichten“ und „Erdachten Gespräche“. Einst gehörte er der reformistischen Sozialdemokratie an, wechselte dann in das Lager der deutschen Nationalisten und wurde letztendlich zu einem der eifrigsten Wegbereiter des deutschen Nationalsozialismus. Er akzeptierte weder die „niedere“ Menschengestaltung des Naturalismus noch die neuromantische Passivität vieler dekadenter Dichter. Im Gegensatz zu diesen proklamierte er einen aktiven Helden, den er bei den Nibelungen oder in der preußischen Geschichte suchte und fand. Seine Literaturposition war ausgesprochen antidemokratisch. Wie Stefan George träumte er von einer neuen Zeit „großer“ Kunst, die aber möglich sei, wenn man sich von den demokratischen Tendenzen abgrenze und sich auf die große Einzelpersönlichkeit orientiere. Der würdige Gegenstand der Kunst sei nicht die Masse, sondern der Ausnahmemensch. Dieser aber sei nicht zu begreifen nach den Gesetzen von Umwelt und Vererbung, die für die Massen gelten. Wegen ihrer Determiniertheit könnten die Massen kein Gegenstand der Kunst sein. Die Weber in Hauptmanns Drama seien so wenig tragisch wie ein Stier vor dem Pflug, dessen Leiden man ebenfalls bedauern könne. Man solle die Großen der Welt, die Helden und Könige zum Gegenstand der Kunst nehmen. Auch Wilhelm von Scholz wird dem Neuklassizismus zugeordnet, der das Drama „Der Jude von Konstanz“ und den Roman „Perpetua“ geschrieben hat. Der Schweizer Karl Spitteler (1845—1918), der Nobelpreisträger von 1919, wird ebenfalls zu den Neuklassizisten gerechnet. Er wurde als Erneuerer des großen Versepos bekannt. Sein Epos „Prometheus und Epimetheus“ wurde seinerzeit sehr viel gelobt, aber auch sein satirisches Versepos „Der olympische Frühling“.

 

Kontrollfragen:

 

1. War der Neuklassizismus auch eine Gegenbewegung zum Naturalismus und worin zeigt sich dies?

2. War der Neuklassizismus auch eine internationale künstlerische Erscheinung?

3. Was wissen Sie von neuklassizistischen Zügen in den Werken der russischen Dichter?

4. Wer war Wortführer und Theoretiker des Neuklassizismus in Deutschland?

5. Welche politischen und literarischen Positionen bezog Paul Ernst?

  1. In den Werken welcher deutschsprachigen Autoren findet man noch neuklassizistische Züge?

 

I. 2.5. Heimatkunst

Der Name „Heimatkunst“ wurde erstmals von Adolf Bartels, dem Hauptpropagandisten dieser dekadenten Stilrichtung, in den literarischen Gebrauch

eingeführt. Dies tat er in der Zeitschrift „Der Kunstwart“ im Jahre 1898. Aber diese literarische Tendenz begann sich bereits in den ersten neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts herauszubilden. Sie knüpfte an den Naturalismus unmittelbar an, sie ist im Grunde zum großen Teil aus ihm hervorgegangen wie die meisten Stilrichtungen der Dekadenz.



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