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Zwischen Dekadenz und ModernismusСодержание книги
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Der literarische Expressionismus kommt als Richtung um das Jahr 1910 auf. Zunächst wurde aber der Begriff von der bildenden Kunst und von der Musik geprägt und später von der Literatur übernommen, und zwar von einem Berliner Dichterklub, zu dem auch Gottfried Benn und Georg Heym gehörten. Den Expressionismus versteht man häufig als Ausdruckskunst. Expressionistisch waren die Gemälde der französischen Maler Paul Cezanne, Henri Matisse und Vincent van Gogh. In Deutschland kam die expressionistische Malerei etwas später auf. Sie wurde durch die Künstlervereinigung „Die Brücke“ in Dresden 1905 (Nolde, Kirchner, Pechstein) und die Künstlergemeinschaft „Der Blaue Reiter“(Paul Klee, Franz Mark und Kandinsky) 1911 in München vertreten. Ihre Gemälde zeichneten sich durch großflächige Komposition, sich verselbständigendes Kolorit und verzerrte Konturen aus. Diese Eigenheiten der expressionistischen Malerei führten später zur Herausbildung des sogenannten „Kubismus“. Zu den Wegbereitern des literarischen Expressionismus werden häufig der Schwede Strindberg, der Russe Dostojewski und der Deutsche Frank Wedekind gezählt. Der Expressionismus beherrschte die deutsche Literatur etwa 15 Jahre lang, Mitte der zwanziger Jahre wurde er durch die Literatur der „Neuen Sachlichkeit“ abgelöst. Er war gleichwie andere literarische und künstlerische Richtungen Ausdruck und Resultat tiefgreifender sozialpolitischer und kultureller Wandlungen der Zeit. Ihn kann man auch als Antwort der deutschen kleinbürgerlichen Intelligenz auf die brennendsten Probleme der Epoche betrachten. Die meisten Dichter des Expressionismus wurden zwischen 1875 und 1895 geboren, also nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs. Sie erlebten die rapide Industrialisierung und Urbanisierung in Deutschland, die Regierungszeit Wilhelms II. und den Ersten Weltkrieg mit. Eben dieser historische Hintergrund prägte sie als antibürgerlich und rebellisch gesonnene Dichterpersönlichkeiten. Ihre kritische Haltung zur sozialpolitischen Umwelt resultierte eben daher. Eben damit erklärt sich ihre Unzufriedenheit mit dem neureichen, selbstzufriedenen Bürgertum des Wilhelminischen Reiches und ihr Konflikt mit der Gründerzeitgeneration. Diese Stimmungen und Haltungen bestimmten vielfach die gesamte expressionistische Dichtung. Allerdings darf man nicht aus den Augen verlieren, dass ihr Rebellentum vielfach individualistisch und abstrakt war. Kein einziger expressionistischer Dichter hatte ein klares sozialpolitisches Programm, sie lehnten Nationalismus, Militarismus und Kapitalismus ab und forderten stattdessen Kosmopolitismus, Pazifismus und gelegentlich Sozialismus. Ihre Zukunftsvorstellungen hatten utopisch-illusionären Charakter, sie paarten sich in ihren Werken häufig mit bodenlosen apokalyptischen Visionen oder mit riesenhaften, kosmischen Bildern. Im Gegensatz zum Naturalismus und der Dekadenz durchdringt ihre Werke ein völlig neues Lebensgefühl, nämlich der Protest gegen das Wilhelminische Bürgertum und die zunehmende Mechanisierung des Lebens als Resultat der Industrialisierung und Verstädterung. Sie leben im Vorgefühl einer herannahenden Katastrophe, die sie sich in apokalyptischen Bildern vorstellen. Sie empfinden große Angst vor der Bedrohung des Geistes und der Kultur, die diese Katastrophe mit sich bringen werde. Sie begehren dagegen auf und träumen von einem neuen „geistigen“ Zeitalter, von einer erneuerten Menschheit, wobei sie sich ekstatisch zum individuellen Menschentum bekennen., das nicht selten religiöse und mystische Züge trug. Man darf aber auch nicht vergessen, dass ihre Vorstellungswelt ziemlich verschwommen und abstrakt war. Die Schrecken und Greueltaten des künftigen Krieges beschworen sie häufig in ihren Werken in abstrakt-allegorischen, visionären Bildern als Weltende und allgemeinen Untergang, und dies mindert selbstverständlich den künstlerischen Wert ihrer Dichtungen in erheblichem Maße herab. Der Kabarettist und Schriftsteller Hugo Ball (1886—1927) verwies in seinem Vortrag über Wassilij Kandinskij 1916 auf folgende Merkmale des expressionistischen Zeitgeistes, indem er ihn diagnostizierte: auf die Auflösung der tradierten Weltbilder, auf das geistige und moralische Chaos, das sich in kultureller Anarchie und in der Verachtung des Menschen offenbarte, und auf die im Resultat der naturwissenschaftlichen Experimente „unheimlich“ gewordene Welt sowie auf die Ausbildung der anonymen Massengesellschaft, in der der Einzelmensch in den anonymen Machtstrukturen seiner sozialen und politischen Umgebung untergegangen sei. Als Folge ergebe sich als allgemeines Lebensgefühl „Angst“ vor der wissenschaftlich-technischen Zivilisation als einer Welt abstrakter Dämonen, gegen die der einzelne machtlos sei. Und im weiteren kommt der Referent zu der Schlussfolgerung, dass der Künstler einer Welt gegenüberstehe, in der er nur „Zufall, Unordnung, Disharmonie“ wahrnehmen könne und dass sein Leben deshalb „ein Kampf mit dem Irrsinn“ sei. Dieses Welt- und Lebensgefühl kommt in dem Gedicht von Jakob van Hoddis „Weltende“ zum adäquaten künstlerischen Ausdruck: Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei, Und an den Küsten—liest man—steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Dieses Gedicht von Jakob van Hoddis wurde am 11. Januar 1911 in der Berliner Zeitschrift „Der Demokrat“ veröffentlicht. Gottfried Benn datierte von ihm her den Beginn des Expressionismus in der deutschen Literatur. Dies bezeugen auch andere expressionistische Dichter. Einer von ihnen war Johannes Robert Becher. Dieses Gedicht steht als erstes in der Anthologie expressionistischer Lyrik „Menschheitsdämmerung“ von Kurt Pinthus. Es veranschaulicht das Prinzip der Zusammenhangslosigkeit, das der Welt angeblich zugrunde liege. Das katastrophale, apokalyptische Geschehen wird hier ins Spielerische aufgelöst, in Distanz gerückt und somit verharmlost. Was in diesem Gedicht noch auffällt, so ist es die Collage-Technik und der sogenannte „Reihungsstil“, mittels dessen die Zusammenhangslosigkeit in der Welt veranschaulicht wird. Der Expressionismus hatte gleichwie andere literarisch-künstlerische Richtungen weltanschauliche Quellen. Zu geistigen Vätern des deutschen Expressionismus zählt man für gewöhnlich den deutschen Philosophen Edmund Husserl und den Franzosen Henri Bergson. Beide Denker vertraten in der Philosophie den subjektiven Idealismus. Husserl meinte zum Beispiel, dass die Erkenntnis der „Wesenheiten“ (der objektiven Realität) intuitiv erfolge, ohne Zutun von Verstand und Vernunft. Daher wird seine philosophische Lehre „Philosophie der reinen Wesensschau“ genannt.. Auch Henri Bergson verneinte das Erkenntnisvermögen des Intellekts. Im Geiste der „Lebensphilosophie“ betrachtete er das „Leben“ und die objektive Realität als „Erleben“, das nur auf dem Wege der mystischen Intuition erkannt werden könne. Die Ästhetik des Expressionismus hatte gleichfalls subjektiv-idealistischen Charakter. Edmund Husserl, der geistige Vater des Expressionismus, sah in der Kunst einen Selbstausdruck des „schöpferischen Geistes“. Aus dem subjektiv-idealistischen Wesen des Expressionismus entsprang die Auffassung, dass nur Gefühl und Intuition imstande seien, die Gesetze des Daseins zu erkennen. Wichtiger sei nicht die Außen-, sondern die Innenwelt des Künstlers. Zu der objektiven Realität verhält sich der expressionistische Künstler nicht als Gestalter, sondern als Deuter. Er will nicht die „Natur“, das „Leben“ abbilden, er will eine neue Wirklichkeit setzen. Der Expressionist lehnt die Umwelthörigkeit der Naturalisten, die passive Reizempfänglichkeit der Impressionisten, die neuromantische Flucht in die „reine Kunst“ und deren Schönheitskult ab. Die äußere Wirklichkeit der Welt wird für ihn völlig belanglos. Er verlässt sich ausschließlich und allein auf die innerlich geschaute Wahrheit und schleudert sie in visionären Bildern aus sich heraus. Und dies tut er mit leidenschaftlichem Pathos. Seine Dichtung könnte man mit einem neuen „Sturm und Drang“ vergleichen, so explosiv und ekstatisch wirkt sie. Der Expressionist vermeidet in seinen Werken alles Sinnlich-Konkrete, seine Dichtung tendiert zur Abstraktion der poetischen Bilder. Das Individuelle und Einmalige der künstlerischen Bilder wird total ausgeklammert. Er will nur noch das Antlitz der Epoche und der Menschheit zeichnen, in Übereinstimmung mit seiner abstrakten Typisierungsmethode. Dies realisiert sich bei ihm durch das übersteigerte Pathos und die monologische Rhetorik, überspannte, hochgepeitschte Dynamik, scharfe Dissonanzen und Groteske. Die expressionistische Ausdrucksweise charakterisiert sich nahezu immer durch Unruhe und Erregtheit. Sie besitzt ein hohes Maß an Emotionalität, allerdings hat diese Emotionalität intellektualistischen Charakter. Was den Inhalt der expressionistischen Werke betrifft, so fällt bereits bei der ersten Bekanntschaft damit ihr revolutionäres Aufbegehren gegen die soziale, politische und kulturelle Scheinwelt des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts auf. Ihr erstes Anliegen und Wunschtraum ist es, die morsche Welt des Kapitalismus zu zertrümmern und auf seinen Ruinen eine neue, bessere Welt aufzubauen. Die Expressionisten sympathisieren mit allen Leidenden und Unterdrückten, sie träumen von allgemeiner Menschheitsverbrüderung. Sie fassen sich als „Kameraden der Menschheit“ auf, dazu zwingt sie die um sich greifende Untergangsstimmung angesichts des herannahenden Krieges, die sie als „Menschheitsdämmerung“ empfinden. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die Dichtung des Expressionismus nichts weniger als einheitlich war. Bei aller Gemeinsamkeit der ästhetischen Plattform der expressionistischen Dichter lassen sich bei ihnen mannigfaltige Differenzierungen in allen Lebensbereichen feststellen, sowohl im sittlichen als auch im politischen. Bei den einen überwog Aufbruch-Stimmung und der Ruf nach einem „kommenden Menschen“, bei den anderen Schwermut, Lebensangst und sogar Verzweiflung, was sie nicht selten zum Gottsuchertum führte. Die einen wussten um die Brüchigkeit und totale Fragwürdigkeit der marktwirtschaftlichen Wirklichkeit des Kapitalismus, und die anderen gingen damit Kompromiss ein und resignierten. Die einen begehrten gegen das morsche Alte auf und protestierten dagegen, während die anderen die Ideen von Gewaltlosigkeit und unverbindlichem, abstraktem Humanismus predigten. Die einen setzten sich für die Dichtung ein, die von den politischen Lebensproblemen überhaupt nichts wissen wollte, die anderen politisierten sie und sahen darin ihre wichtigste Aufgabe. Und so kann man von zwei Richtungen innerhalb des Expressionismus sprechen, die sich voneinander prinzipiell unterschieden. Die Anhänger der unpolitischen, „reinen“ Kunst, die im Grunde in der Nähe der Dekadenz standen, gruppierten sich um die Zeitschrift „Der Sturm“, die in den Jahren 1910—1932 herausgegeben wurde. Die politisch aktiven Dichter scharten sich um die Zeitschrift „Die Aktion“. Die letztere entstand ein Jahr später, und zwar 1911. Und ihr Ende fällt in das Jahr 1932, wie das der ersteren. Die „Sturm“-Dichter proklamierten totale Unabhängigkeit und Freiheit der Kunst von jeglichen sozialen, politischen und sittlichen Fragestellungen. Die künstlerische Tätigkeit wurde von ihnen als Selbstzweck, als „Kunst um der Kunst willen“ angesehen. Die „Aktion“-Dichter vertraten einen diametral entgegengesetzten Standpunkt: sie unterstrichen immer wieder die sozialpolitische Sendung der Dichtkunst, die sie als politischen Aufruf verstanden. Das Theater war für sie eine politische Tribüne, die die Welt verändern könne. Der prominenteste Vertreter dieser Gruppe war Johannes Robert Becher, der künftige erste Präsident des „Verbandes der proletarisch-revolutionären Schriftsteller“, des „Kulturbundes“ im Jahre 1945 und der Kulturminister der Deutschen Demokratischen Republik. Er gilt darüber hinaus als einer der Begründer des „sozialistischen Realismus“ in Deutschland. Was Form und Sprache anbetrifft, so bevorzugten die Expressionisten in der Lyrik Hymne mit ihrem überspitzten Pathos und Rhetorik und im Drama chorisch-oratorisches Stimmenspiel oder locker verknüpfte Bilderfolgen mit ausgedehnten Monologen, lyrisch-hymnischen Einlagen, Tanz und Pantomime. Man verwendete völlig abstrakte Bühnenbilder. Die handelnden Personen waren in zeitlose, unzeitgemäße Kostüme gekleidet. Sie waren typisierte Figuren ohne jegliche sinnliche Konkretheit und Individualität. Dies galt vor allem für die bildende Kunst („Dame in Schwarz“ oder „Figur in Blau“). Sie waren im Grunde allegorisierende Träger von abstrakten Ideen und stellten total subjektiv-idealistische Ich-Projektionen des Künstlers dar. Statt klassischer Akteinteilung verwendete man im Drama die sogenannte „Stationentechnik“. Die Sprachgestaltung vieler expressionistischer Dichtungen reduzierte sich nicht selten auf die Sprengung und Zertrümmerung aller herkömmlichen Normen und Formen. Auf morphologische und syntaktische Regeln wurde häufig keine Rücksicht genommen. Die Sprache verwandelte sich gelegentlich in ein überspitzt leidenschaftliches Stammeln oder gar in einen ekstatischen Schrei. Die Wörter wurden nicht selten völlig willkürlich verwendet, sie wurden fetzenartig aneinandergereiht und bildeten bizarre Wortzusammenballungen. Das poetische Wort war somit aus tradierten Zwängen und Normen „befreit“, was Ausdruck äußersten Subjektivismus war. Im Zusammenhang damit verwendeten die Dichter „kühne“, weit hergeholte Metaphern, griffen zur ungewöhnlichen Farbsymbolik und verwandelten ihre Texte in sinnentleerte Aussagen in Form von Laut- und Klanggedichten. Die letztere Verfahrensweise wurde später vom Dadaismus, von der „Konkreten Poesie“ und „Wiener Gruppe“ übernommen und reichlich genutzt. Die poetische Willkür der Expressionisten war durch nichts begrenzt. Weder inhaltlich noch künstlerisch-formell. Der junge Arzt Gottfried Benn bevorzugte als Themen seiner Gedichte Krebsbaracken und allerlei Erkrankungen und sammelte sie in einem kleinen Lyrikband, der einen zynisch-nihilistischen Titel führt: „Morgue“. In dieser Gedichtsammlung findet sich der für den Dichter typische Text „Kleine Aster“: Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster Zwischen die Zähne geklemmt. Als ich von der Brust aus unter der Haut mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt, muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn. Ich packte sie ihm in die Brusthöhle zwischen die Holzwolle, als man zunähte. Trinke dich satt in deiner Vase! Ruhe sanft, kleine Aster!
Auch der Telegrammstil, den August Stramm in seinen Gedichten verwendet, ist Ausdruck der poetischen Willkür, die für die expressionistische Schreibweise kennzeichnend ist. Als gutes Beispiel dafür könnte das Gedicht „Patrouille“ dienen: Die Steine feinden Berge Sträucher blättern raschlich Fenster grinst Verrat gellen Äste würgen Tod.
Zusammenfassend muss man unbedingt noch einmal auf die wichtigsten Merkmale der expressionistischen Dichtung hinweisen. Es sind dies Katastrophenstimmung; Zivilisationskritik, Ich-Zerfall und Vorliebe für das negative Extrem. Die Katastrophenstimmung, eine kollektive europäische Stimmungslage, wurde nicht zuletzt durch das Wiedererscheinen des Halleyschen Kometen im Mai 1910 heraufbeschworen, jedenfalls gefördert. Und trotzdem lag die politische Katastrophe viel näher als die kosmische. Die Welt, in der man leben musste, wurde von den meisten Intellektuellen abgelehnt. Die relative Stabilität der Verhältnisse wurde als Sinnleere und Beziehungslosigkeit empfunden. Davon zeugt die Bemerkung Georg Heyms in seinem Tagebuch vom 29.09.1909: „ Ich weiß auch gewiss nicht, warum ich noch lebe. Ich meine, keine Zeit war bis auf den Tag so inhaltslos wie diese.“ Auch in der Zeitschrift „Aktion“ vom 19.06.1911 findet man eine ähnliche Bemerkung: „ Unsere Krankheit ist, in dem Ende eines Welttages zu leben, in einem Abend, der so stickig ward, dass man den Dunst seiner Fäulnis kaum ertragen kann“. Die damalige Bewusstseinsverfassung äußerte sich als Gefühl der Monotonie, Sinnlosigkeit und Banalität des Daseins, als Angst und Furcht vor der krisenhaften Zivilisation. Man sehnte sich, wie Ernst Stadler in seinem Gedicht „ Der Aufbruch“ schreibt, nach dem „Sturm auf allen Wegen“ und „dem Kugelregen“ als „herrlichste Musik der Erde“. Ähnliches empfindet auch Georg Heym, er träumt von Krieg oder Revolution: „Ich wäre mit einem Mal gesund, ein Gott, erlöst, wenn ich irgendwo eine Sturmglocke hörte, wenn ich die Menschen herumrennen sähe mit angstzerfetzten Gesichtern, wenn das Volk aufgestanden wäre, und eine Straße hell wäre von Pieken, Säbeln, begeisterten Gesichtern und aufgerissenen Hemden.“. Anlässlich der Marokkokrise äußerte er sich ähnlich:“ Geschähe doch einmal etwas. … Oder sei es auch nur, dass man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln“. Was den Ich-Zerfall als Merkmal der expressionistischen Dichtung betrifft, so muss man sagen, dass er mit dem Thema der Großstadt aufs engste verbunden ist. Das letztere ist bekanntlich naturalistischen Ursprungs. Beide Richtungen vertraten den Standpunkt, dass die Großstadt die Hauptursache für den Ich-Zerfall sei. Die großstädtische Umwelt dringe übermächtig auf den Menschen ein und mache ihn zum Opfer. Die Großstädte seien die Stätten des Elends. Eben in den Großstädten gebe es Irrenanstalten, Bettlerasyle, Bordelle und Leichenschauhäuser. Die großstädtische Situation wird ganz adäquat im Gedicht „Punkt“ von Alfred Lichtenstein wiedergegeben, wo es heißt:
Die wüsten Straßen fließen lichterloh Durch den erloschenen Kopf. Und tun mir weh. Ich fühle deutlich, dass ich bald vergeh. Dornrosen meines Fleisches, stecht nicht so.
In den expressionistischen Dichtungen kehrt sich das althergebrachte Verhältnis von Subjekt und Objekt um. Die Dinge werden aktiv und die Helden werden passiv. Manche Literaturwissenschaftler bezeichnen dies als Anthropomorphisierung oder als Depersonalisierung. Die Dichter des Expressionismus bekunden häufig eine besondere Vorliebe für das Negative und Hässliche. Es werden Themen bevorzugt wie Wahnsinn und Selbstmord, Krankheit, Tod und Hinrichtung, die bis dahin in der Literatur nahezu Tabuthemen waren, zumal das letztere, das dem Gedicht von Georg Heym „Robespierre“ zugrunde liegt:
Er meckert vor sich hin. Die Augen starren Ins Wagenstroh. Der Mund kaut weißen Schleim. Er zieht ihn schluckend durch die Backen ein. Sein Fuß hängt nackt heraus durch zwei der Sparren.
Bei jedem Wagenstoß fliegt er nach oben. Der Arme Ketten rasseln dann wie Schellen. Man hört der Kinder frohes Lachen gellen, Die ihre Mütter aus der Menge hoben.
Man kitzelt ihn am Bein, er merkt es nicht. Da hält der Wagen. Er steht auf und schaut Am Straßenende schwarz das Hochgericht. Die aschengraue Stirn wird schweißbetaut. Der Mund verzerrt sich furchtbar im Gesicht. Man harrt des Schreis. Doch hört man keinen Laut.
Im Mittelpunkt vieler expressionistischer Gedichte steht, trotz des subjektivistischen Charakters der expressionistischen Ästhetik, nicht die persönliche Situation des Autors, sondern die Beziehungen aller Menschen untereinander. Humanität, Menschenliebe und Frieden auf der einen Seite, Krieg, Hass und Tod, auf der anderen, stehen als Thematik im Vordergrund vieler Texte. Als gute Beispiele dafür können „Der Weltfreund“ von Gottfried Benn, „Der Krieg“ von Georg Heym, „Krieg“ von August Stramm und „Grodek“ von Georg Trakl dienen. Das Gedicht „Krieg“ von August Stramm ist im Telegrammstil geschrieben: Wehe wühlt Harren starrt entsetzt Kreißen schüttert Bären spannt die Glieder Die Stunde blutet Frage hebt das Auge Die Zeit gebärt Erschöpfung Jüngt Der Tod
Der expressionistische Telegrammstil setzt Kurzsätze, Ellipsen, einzelne Wörter und sogar Wortfetzen in der Verszeile, aber auch Weglassen von Artikeln, Partikeln und verschiedenen Füllwörtern voraus. In ihm können auch Neuwörter sowie allerlei Konnotationen vorkommen. Er hat auch nichts gegen den Reihungsstil, der als Aneinanderreihung von kurzen Hauptsätzen ohne jeglichen logischen oder syntaktischen Zusammenhang zu verstehen ist, und Worthäufungen. Es sei noch ein Beispiel für den Telegrammstil angeführt:
Wache
Das Turmkreuz schrickt ein Stern Der Gaul schnappt Rauch Eisen klirrt verschlafen Nebel Streichen Schauer Starren Frösteln Frösteln Streicheln Raunen Du!
Bei den Expressionisten war die Lyrik als literarisches Genre am erfolgreichsten. Auch die Dramatik wies bedeutende Errungenschaften auf, während in der Epik die Resultate viel schwächer waren. Der Expressionismus brachte eine Vielzahl von Dichtern hervor, die heutzutage ganz vergessen sind, deren literarische Werke nur noch literaturhistorischen Wert haben. Ihr Aufbegehren gegen das saturierte preußisch-deutsche Bürgertum und dessen Reich interessiert den heutigen Leser so gut wie gar nicht mehr. Das mangelnde Interesse der Leser für die expressionistische Literatur erklärte einer der prominentesten Literaturwissenschaftler der DDR wie folgt: „ Die Berserkerwut, mit der diese literarische Jugend rhetorisch gegen die „Väterwelt“ anrannte, ist heute schwer nachempfindbar und nur verständlich; wenn man sich klar macht, dass die radikale Negation nur Ersatz für einen fehlenden positiven Lebensinhalt in der bürgerlichen Gesellschaft war“. Als bekannteste Lyriker des dekadenten und links orientierten Expressionismus gelten Gottfried Benn (1886—1956), Theodor Däubler (1876—1934), Albert Ehrenstein (1886—1950), Georg Heym (1887—1912), Jakob van Hoddis (1887—1942), Else Lasker–Schüler (1869—1945), Ernst Stadler (1883—1940), Georg Trakl (1887—1914), Franz Werfel (1890—1945) sowie Ludwig Rubiner (1881—1920) und Johannes Robert Becher (1891—1958). Die letzteren zwei wurden in den zwanziger Jahren proletarisch-revolutionäre Dichter. Als wichtigste Dokumente expressionistischer Lyrik wurden bereits 1919 zwei Lyriksammlungen bekannt. Es waren dies „Die Menschheitsdämmerung“ von Kurt Pinthus und „Die Kameraden der Menschheit“ von Ludwig Rubiner. Als bedeutendste Dramatiker des Expressionismus wurden Frank Wedekind als dessen Vorläufer und Wegbereiter, Walter Hasenclever (1890—1940) und Hans Henny Jahnn(1894—1959) bekannt. Nach dem Ersten Weltkrieg erfreuten sich großer Popularität auch die Stücke von Ernst Toller (1893—1939) und Georg Kaiser (1878—1945). In der Epik vermochte sich der Expressionismus nicht durchzusetzen, nicht zuletzt, weil das Epische viel Objektivität voraussetzt. Nur noch kleinere epische Formen konnten an Bedeutung gewinnen. Es waren vor allem die Texte Klabunds „Kreidekreis“, „Moreau“ und „Mohammed“. Und nur der Roman von Alfred Döblin „Berlin Alexanderplatz“ brachte es fertig, weltberühmt zu werden. Die Romane von Heinrich Mann „Professor Unrat“ und „Der Untertan“ enthalten auch stellenweise expressionistische Züge, aber insgesamt gehören sie der Richtung des kritischen Realismus an. Dasselbe lässt sich auch über den Roman „Der 9. November“ von Bernhard Kellermann und „Die Räuberbande“ von Leonhard Frank sagen. Die expressionistische Schreibweise war in der deutschen Literatur auch viele Jahre nach ihrer Ablösung durch die „Neue Sachlichkeit“ von nachhaltiger Wirkung, zumal nach Kriegsbeendigung 1945. Sein Einfluss machte sich besonders in den Werken von Wolfgang Borchert ganz eindeutig bemerkbar.
Kontrollfragen:
1.Was wissen Sie von der Entstehungsgeschichte des Expressionismus? 2. In welchem Land und in welcher Kunstgattung kam der Expressionismus zuerst auf? 3. Welche französischen und deutschen expressionistischen Maler kennen Sie? 4. Wie lange beherrschte der Expressionismus die deutsche Literatur? 5. Welche sozialpolitischen Entwicklungen bewirkten das Aufkommen des Expressionismus? 6. Welche Hauptforderungen der Expressionisten sind ihnen bekannt? 7. Welches Lebensgefühl durchdringt die Dichtungen der Expressionisten? 8. Wogegen begehren die Expressionisten auf und wozu bekennen sie sich? 9. In welchen Bildern beschworen die Expressionisten die Schrecknisse und Greueltaten des künftigen Krieges? 10.Von welchen Merkmalen des Expressionismus sprach Hugo Ball in seinem Vortrag über Wassilij Kandinskij? 11. Wovon handelt das Gedicht von Jakob van Hoddis „Weltende“? 12. Was wissen Sie von den weltanschaulichen Quellen des Expressionismus? 13. Nennen Sie die geistigen Väter des Expressionismus. 14. Worin bestanden die Besonderheiten der expressionistischen Ästhetik? 15. Was verneinten die Expressionisten in der Dekadenzdichtung? 16. Welche Züge wiesen die poetischen Bilder des Expressionismus auf: _ abstrakte oder sinnlich-konkrete, nüchtern geschaute oder pathetisch übersteigerte, unruhig erregte und überspannte? 17. Was können sie vom Inhalt und der Thematik expressionistischer Werke sagen? 18. Womit sympathisierten die Expressionisten und wogegen begehrten sie auf? 19. Was wissen Sie von den Differenzen innerhalb des Expressionismus? 20. Welche expressionistische Zeitschrift vertrat die unpolitische „reine Kunst“? 21. Welcherart Standpunkte vertraten die Dichter um die Zeitschrift „Aktion“? 22. Was können sie von Form und Sprache der expressionistischen Werke sagen? 23. Worauf reduzierte sich die Sprachgestaltung vieler expressionistischer Werke? 24. Welche Stimmungen waren im Zeitalter des Expressionismus vorherrschend? 25. In den Äußerungen welcher Dichter zeigt sich das Gefühl der Monotonie, Sinnlosigkeit und Banalität des Daseins? 26. Wie sieht das Verhältnis von Subjekt und Objekt in den expressionistischen Dichtungen aus? 27. Welche Thematik weist das Gedicht von Georg Heym „Robespierre“ auf? 28. Worin besteht die Eigenart des Telegrammstils von August Stramm? 29. Warum sind heute die meisten Expressionisten vergessen? 30. Welche Lyriker des Expressionismus kennen Sie? 31. Welche Lyriksammlungen des Expressionismus könnten Sie nennen? 32. Welche Dramatiker des Expressionismus sind Ihnen bekannt? 33. Was können sie von der expressionistischen Epik sagen?
I.4. DADAISMUS
Dada oder Dadaismus war eine zugleich künstlerische und literarische Bewegung, die zunächst in der Schweiz aufkam und kurz darauf in ganz Europa und sogar in Amerika Verbreitung fand. Und so spricht man von Zürich-Dada, Berlin-Dada, Hannover-Dada, Köln-Dada und sogar von Paris-Dada und von New-York-Dada. Gegründet wurde diese Bewegung im Jahre 1916 im neutralen europäischen Staat, in der Schweiz, in Zürich, einem Sammelpunkt für Emigranten aus aller Welt, überwiegend Pazifisten und politische Flüchtlinge, als der Erste Weltkrieg bereits zwei Jahre in Europa tobte. Ihr Treffpunkt war „Cabaret Voltaire“, das von ihnen selbst eröffnet worden war. Der Name des Kabaretts war nicht zufällig, er spielte auf die Sarkasmen des Voltaireschen „Candide“ an. Die neue Literaturbewegung ist im Grunde als Kunst- und Literaturrichtung aus dem Expressionismus hervorgegangen und war eigentlich in vieler Hinsicht dessen Fortsetzung. Als Begründer des Dadaismus werden häufig Hugo Ball, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Hans Arp genannt. Viele Literaturwissenschaftler erblicken im Dadaismus den Versuch, den Expressionismus bis zum Absurden zu steigern. Und man sieht in ihm nur noch eine kurzlebige, radikal antibürgerliche Kunst- und Literaturepoche. Ein gewisser Pongs nannte ihn sogar „eine snobistische Erfindung von Literaten“, die aus Ekel und Langerweile die künstlerische Anarchie und chaotische Gesetzlosigkeit verkündet habe. Hans-Joachim Willberg nennt den Dada sogar eine Dichtung ohne Sinnzusammenhang und Sprachlogik, verweist aber zu Recht darauf, dass er kein bleibendes Werk hinterlassen habe, aber bis heute im Surrealismus und „Montagelyrik“ fortwirke. Viele Literaturforscher weisen darauf hin, dass der Dadaismus das Äußerste an Wert-, Wort- und Sprachauflösung geleistet habe. Wie dem auch sei, viele Forscher sehen im Dada eine Revolte gegen die Kunst von Seiten der Künstler selbst, die die Gesellschaft ihrer Zeit und deren Wertesystem abgelehnt hätten. Sie versuchen zu ergründen, was der Begriff „Dada“ bedeutet und stellen darüber sich selbst widersprechende Vermutungen an. Die einen hören daraus das Gestammel kleiner Kinder heraus, die anderen interpretieren ihn als das französische Wort, das „Steckenpferdchen“ bedeutet. Die dritten leiten diesen Begriff aus dem damals modischen Haarwaschmittel namens „Dada“ her. Die Dadaisten selbst verstehen diesen Begriff als etwas völlig Undefinierbares. Er könne nur den totalen Zweifel an allem, an allen Idealen und Normen bedeuten. Sie verneinten jegliche Ideologie und weigerten sich, sich als Vertreter des „Dadaismus“ zu verstehen, denn jeder „Ismus“ repräsentiere eine Ideologie oder Stilrichtung. Der Dadaismus bezweifelt die gesamte bisherige Kunst, indem er alles satirisch überspitzt und unsinnige Wörterhäufungen zustande bringt. Hugo Ball gilt als Erfinder sinnfreier Lautgedichte, die in den fünfziger und sechziger Jahren in Deutschland und Österreich sich großer Beliebtheit erfreuten, vor allem unter den deutschen „Konkreten Poeten“ und den österreichischen Dichtern aus der „Wiener Gruppe“. Im Lautgedicht wurde das Wort völlig sinnentleert, indem es in Laute zerlegt wurde. Dieses Verfahren betrachteten die Dadaisten als Reaktion auf den sprachlichen Missbrauch und die Perversion ihrer Zeit. Mit ihren Simultangedichten wollten sie ihre Reaktion auf die ohrenbetäubende Geräuschkulisse der modernen Welt veranschaulichen. Derartige poetische Erzeugnisse verwandelten sich zwangsweise in „Antikunstwerke“, die trotzdem ihre herausfordernde, protestierende Wirkung auslösten. Die vermeintliche Unlogik ihrer Texte richtete sich gegen Krieg und untertäniges Bürger- und Künstlertum jener Zeit. Das letztere war für die Dadaisten eine blanke ideologische Lüge oder fade Dekoration, die es durchaus verdiente niedergerissen zu werden, denn sie war Ausdruck einer Untertanen- und Apologetenkultur. Sie hatten jeglichen Glauben an die geistige Umgestaltung und den „neuen Menschen“ eingebüßt. Ihre Auftritte hatten trotzdem ausgesprochen pazifistischen Charakter. Wie die Lautgedichte klingen, kann sehr gut am Text von Hugo Ball „Karawane“ veranschaulicht werden:
jolifanto bambla o falli bambla großgiga mpfa hablahorem egiga goramen higo bloiko russula huju hollaka hollala anlogo bung blago bung blago bung bosso fataka u üü ü schampa wulla wussa olobo hej tatta gorem eschige zunbada wulubu ssubudu uluwu ssubudu tumba baßumf kusa gauma ba—umf
Der Berlin-Dada nahm extremste Formen an. Richard Huelsenbeck, Walter Mehring, Autor satirischer Kabarettexte, und Raoul Hausmann, Theoretiker der Bewegung, griffen mit Begeisterung die dadaistische Nonsens-Kunst auf. Ihnen schlossen sich auch die bildenden Künstler George Grosz und Helmut Herzfeld an, der später sich einen neuen Namen zulegte, und zwar John Heartfield. Bald gesellte sich ihnen Johannes Baader hinzu, der sich „Oberdada“ nannte und sich sehr aggressiv benahm. Die Berliner Dadaisten zogen entschieden gegen ideologisches Blendwerk und Militarismus zu Felde, indem sie mit provokativen Ausstellungen und Veranstaltungen an die Öffentlichkeit traten. Sie bedienten sich der Fotomontagen und Collagen und schufen damit völlig neue Kunstwerke. Darüber hinaus verwendeten sie das Prinzip von so genannten Militärgedenk-Dienstblättern. Damit wollten sie das bürgerliche Publikum verhöhnen, provozieren und sogar schockieren. Neue Wege schlug man auch mit der Dichtung ein. Man entwickelte die Lautgedichte der Züricher weiter. Wer sich über den Berliner Dada, aber auch den der ganzen Welt informieren möchte, der könnte aus dem Sammelband „Dada-Almanach“ von Richard Huelsenbeck viele interessante Ideen schöpfen. In Berlin wurden 12 Matineen veranstaltet, in denen das Publikum als Idioten beschimpft wurde. 1920 fand in Berlin die Erste Internationale Dada-Messe statt, auf der als eines der Hauptthemen der Hass gegen jede Autorität gewählt wurde. Hauptfigur des Hannover-Dada war Kurt Schwitters, der in den Kreis der Berliner Dadaisten nicht aufgenommen wurde. Er nannte seine Kunst mit dem Wort „Merz“, das er aus dem Wort „Commerzbank“ herausnahm. Wie die anderen Dadaisten predigte er auch Antikunst. Seine Lautgedichte erinnerten an die der Zürcher Dadaisten. Er entwickelte seine eigene dichterische Theorie, deren Logik er als „Schwitters-Logik“ bezeichnete. Hauptprinzip dieser Logik war folgende Idee: “Nicht das Wort ist ursprünglich Material der Dichtung, sondern der Buchstabe“. Das Wort verstand er als eine Zusammensetzung von Buchstaben, Klang, Bezeichnung und Träger von Gedanken und Assoziationen. Schwitters war ein talentierter allseitiger Künstler: Maler, Komponist und Dichter. Alle Kunstformen sollten nach ihm zur Einheit verschmelzen. Im Gegensatz zu anderen Dadaisten verneinte er die Einbeziehung des Zufalls in die Kunst, denn es gebe keine Zufälle. Eine Tür könne zufallen, aber das sei kein Zufall, sondern ein bewusstes Erlebnis der Tür, die Tür, die Tür, der Tür. Er gestaltete einen Raum, den er „Merzbau“ nannte. Der Raum bestand aus zahlreichen kleinen Hohlräumen, die völlig verschieden aussahen und die er „Höhlen“ nannte. Darin gab es beispielsweise eine Arp-Höhle dem Zürcher Dadaisten zu Ehren. Als Beispiel für ein typisch dadaistisches Gedicht sei ein kurzer Auszug aus seinem Text „An Anna Blume“ angeführt:
O, du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich Liebe dir! – Du deiner dich dir, du mir…. Weißt du es, Anna, weißt du es schon? Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von vorne: „a-n-n-a.“ Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken. Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!
Zentrale Figur des Köln-Dada war Max Ernst, der zusammen mit dem Maler Johannes Theodor Baargeld die dadaistische Zeitschrift „Der Ventilator“ herausgab, die allerdings bald von der britischen Besatzungsbehörde verboten wurde. Die Hauptleistung des Dadaismus bestand in erster Linie in der Zusammenführung verschiedener Künste zu einem einheitlichen künstlerischen Geschehen, das anarchisch in sich einschloss: Tanz, Musik, Kabarett, Literatur, Rezitation und verschiedene Genres der bildenden Kunst wie Bild, Graphik, Fotomontage, Collage und Bühnenbild. Die zweitwichtigste Leistung des Dadaismus war die Entdeckung des Zufalls als schöpferisches Prinzip. Positiv wird auch die beständige Suche der Dadaisten nach neuen Erfahrungen, ihr grotesker Humor und die Ironie, die den Künstler ermöglicht, „Sinn im Unsinn“ zu finden.
Zu den bedeutenden Dadaisten im deutschsprachigen Raum zählen folgende Autoren: Hans Arp (1886—1966), Johannes Baader (1875—1955), Johannes Theodor Baargeld (1892—1927), Hugo Ball (1886—1927), John Heartfield (1891—1968), Max Ernst (1891—1976), Richard Huelsenbeck (1892—1974), Raoul Hausmann (1886—1971), Hannah Höch (1889—1978). Im Nachstehenden wollen wir einen typisch dadaistischen Text anführen, um zu zeigen, wie derartige Texte klingen und rein äußerlich aussehen können.
„Sekundenzeiger“ von Hans Arp
dass ich als ich ein und zwei ist dass ich als ich drei und vier ist dass ich als ich wie viel zeigt sie dass ich als ich tickt und tackt sie dass ich als ich fünf und sechs ist dass ich als ich sieben acht ist dass ich als ich wenn sie steht sie dass ich als ich wenn sie geht sie dass ich als ich neuen und zehn ist dass ich als ich elf und zwölf ist
Kontrollfragen:
1. Was wissen Sie von der Entstehung des Dadaismus? 2. In welchem Verhältnis steht der Dadaismus zum Expressionismus? 3. Wer begründete den Dadaismus? 4. Wie nannte Pongs den Dadaismus? 5. Hat der Dadaismus wirklich das Äußerste an Wert-, Wort- und Sprachauflösung geleistet? 6. Welche Vermutungen existieren über den Begriff „Dada“? 7. Wie definieren die Dadaisten selbst den Begriff „Dada“? 8. Wer war der Erfinder des Lautgedichts? 9. Welche Wirkung lösten die dadaistischen „Antikunst-Werke“ aus? 10. Wogegen richtete sich die Unlogik der Texte der Dadaisten? 11. Wie verhielten sich die Berliner Dadaisten zur dadaistischen Nonsens-Kunst der Schweizer? 12. Wer gehörte zum Berliner Dada? 13. Welche Veranstaltungen der Berliner Dadaisten kennen Sie? 14. Wer war die Hauptfigur des Hannover-Dada? 15. Welcherart literarische Auffassungen vertrat der Hannover-Dada? 16. Wie finden Sie den Auszug aus dem dadaistischen Text „An Anna Blume“? 17. Wer war die zentrale Figur des Köln-Dada? 18. Worin bestand die Hauptleistung des Dadaismus? 19. Und was galt als die zweitwichtigste Leistung des Dadaismus? 20.. Welche Dichter gehörten zum Dadaismus?
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