Er hob den Kopf und sprach das Offensichtliche aus: »Du solltest sie Max schenken, Liesel. Vielleicht kannst du sie auf den Nachttisch legen, wie all die anderen Sachen.« 


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Er hob den Kopf und sprach das Offensichtliche aus: »Du solltest sie Max schenken, Liesel. Vielleicht kannst du sie auf den Nachttisch legen, wie all die anderen Sachen.«



Liesel schaute ihn an, als ob er den Verstand verloren hätte.»Wie soll das gehen?«

Er klopfte sanft mit seinen Fingerknöcheln gegen ihren Schädel.»Präge sie dir ein. Und dann schreibe sie auf.«

»Sie war wie ein großes weißes Tier«, sagte sie bei ihrer nächsten Wache neben seinem Bett,»und sie kam über die Berge.«

Als der Satz etliche Veränderungen und Ergänzungen erfahren hatte, hatte Liesel das Gefühl, es vollbracht zu haben. Sie stellte sich vor, wie die Wolke von ihrer Hand in seine glitt, durch die Decken hindurch, und sie schrieb es auf ein Stück Papier, auf das sie den runden, flachen Stein legte.

GESCHENKE NUMMER 10 BIS 13

Ein Zinnsoldat. Ein wundersames Blatt. Ein ausgelesener Pfeifer. Eine Scheibe Kummer.

Der Soldat lag im Dreck vergraben, nicht weit von Tommi Müllers Haus entfernt. Er war zerkratzt und zertreten, was ihn für Liesel noch wertvoller machte. Selbst mit seinen Wunden und Blessuren stand er immer noch aufrecht.

Das Blatt stammte von einem Ahorn, und sie fand es in der Besenkammer der Schule, zwischen Eimern und Staubwedeln. Die Tür hatte einen Spalt offen gestanden. Das Blatt war trocken und hart, wie geröstetes Brot, und auf seiner Haut wölbten sich Hügel und Täler. Irgendwie hatte es sich erst in den Flur und später in die Besenkammer verirrt. Wie ein halber Stern mit einem Stiel. Liesel nahm es und drehte es zwischen ihren Fingern hin und her.

Anders als die anderen Gegenstände legte sie das Blatt nicht auf den Nachttisch. Sie befestigte es mit einer Stecknadel an den geschlossenen Vorhängen, kurz bevor sie die letzten vierunddreißig Seiten des Pfeifers las.

An diesem Tag aß sie kein Abendessen und ging nicht auf die Toilette. Sie trank keinen Tropfen. In der Schule schwor sie sich, dass sie heute das Buch zu Ende lesen und dass Max Vandenburg zuhören würde. Er würde aufwachen.

Papa saß auf dem Boden in der Ecke, ohne Beschäftigung, wie immer. Glücklicherweise würde er sich schon bald mit seinem Akkordeon auf den Weg zum»Knoller«machen. Sein Kinn ruhte auf den Knien, und er lauschte dem Mädchen, dem er mühsam das Alphabet beigebracht hatte. Stolz las sie Max Vandenburg die letzten, beängstigenden Worte des Buches vor.

DAS ENDE VOM PFEIFER

An diesem Morgen vernebelte die Wiener Luft die Fenster des Zuges, und während die Menschen ahnungslos zur Arbeit fuhren, pfiff ein Mörder fröhlich seine Weise.

Er kaufte sich eine Fahrkarte. Er tauschte Höflichkeiten mit dem Schaffner und Mitreisenden aus. Er bot sogar einer älteren Dame seinen Sitzplatz an und unterhielt sich angeregt mit einem Glücksspieler, der von amerikanischen Pferden erzählte. Der Pfeifer liebte die Unterhaltung.

Er redete mit den Menschen und narrte sie, indem er sie dazu brachte, ihn zu mögen, ihm zu vertrauen. Er redete mit ihnen, während er sie tötete, sie folterte und das Messer umdrehte. Nur wenn er niemanden zum Reden hatte, pfiff er, was auch der Grund war, warum er es so häufig nach einem Mord tat.

»Also glauben Sie, dass Nummer sieben die Rennbahn liegen wird, ja?«

»Natürlich.«Der Glücksspieler grinste. Schon war das Vertrauen erschaffen.»Er wird von hinten kommen und den anderen das Fell über die Ohren ziehen!«Er musste schreien, um den Lärm des Zuges zu übertönen.»Wenn Sie meinen.«Der Pfeifer grinste ebenfalls. Dann dachte er ausgiebig darüber nach, wann man wohl die Leiche des Inspektors in dem brandneuen BMW finden würde.

»Jesus, Maria und Josef.«Hans konnte sich einen ungläubigen Ton nicht verkneifen.»Eine Nonne hat dir das geschenkt?«Er stand auf, ging zu ihr und küsste sie auf die Stirn.»Mach's gut, Liesel, der >Knoller< wartet.«

»Mach's gut, Papa.«

»Liesel!«Sie achtete nicht darauf.»Komm, und iss etwas!«

Jetzt antwortete sie.»Ich komme, Mama.«Sie sprach die Worte zu Max. Sie kam näher und legte das fertig gelesene Buch auf den Nachttisch, zu allen anderen Dingen. Über ihn gebeugt, konnte sie nicht anders.»Komm schon, Max«, flüsterte sie. Selbst als sie merkte, dass Mama hinter sie trat, hörte sie nicht auf, lautlos zu weinen. Sie hörte nicht auf. Sie ließ einen Klumpen Salzwasser aus ihrem Auge fallen und fütterte damit Max Vandenburgs Gesicht.

Mama nahm sie.

Ihre Arme verschluckten sie.

»Ich weiß«, sagte sie.

Sie wusste es.

FRISCHE LUFT, EIN ALTER ALBTRAUM UND DIE FRAGE, WAS MAN MIT EINER JÜDISCHEN LEICHE ANSTELLEN SOLL

Sie saßen an der Amper, und Liesel hatte Rudi gerade erklärt, dass sie gerne ein weiteres Buch aus der Bibliothek des Bürgermeisters stehlen würde. Nach dem Pfeifer hatte sie, an Max' Seite sitzend, mehrmals den Überstehmann gelesen. Das dauerte jeweils nur wenige Minuten. Sie versuchte es auch mit dem Schulterzucken und sogar mit dem Handbuch für Totengräber, aber nichts davon schien geeignet zu sein. Ich brauche etwas Neues, dachte sie.

»Hast du denn das letzte Buch überhaupt gelesen?«

»Natürlich habe ich das.«

Rudi warf einen Stein ins Wasser.»War es gut?«

»Natürlich war es das.«

»Natürlich habe ich das, natürlich war es das«, äffte er sie nach. Er versuchte, einen neuen Stein aus dem Boden zu graben, schnitt sich dabei aber in den Finger.

»Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein.«

»Saumensch.«

Wenn das letzte Wort, das jemand zu erwidern hat,»Saumensch«oder»Saukerl«ist, weiß man, dass man gewonnen hat.

Die Bedingungen für einen Diebeszug waren perfekt. Es war ein trüber Nachmittag Anfang März und nur ein paar Grad über dem Gefrierpunkt - irgendwie unangenehmer als zehn Grad minus. Nur wenige Leute waren unterwegs. Regen wie Bleistiftspäne.

»Machen wir's?«

»Wir nehmen die Räder«, sagte Rudi.»Du kannst eins von uns haben.«

Rudi bestand darauf, dass diesmal er es war, der einstieg.»Heute bin ich dran«, sagte er, während seine Finger am Lenker festfroren.

Liesel dachte schnell nach.»Vielleicht besser nicht, Rudi. Da steht überall Zeug herum. Und es ist dunkel. Ein Depp wie du fällt bestimmt über irgendwas oder wirft etwas um.«

»Herzlichen Dank.«Rudi ließ sich nicht beirren.

»Und dann musst du springen. Es ist tiefer, als man denkt.«

»Glaubst du vielleicht, ich könnte das nicht?«

Liesel stellte sich in den Pedalen auf.»Nein, ganz und gar nicht.«

Sie überquerten die Brücke und schlängelten sich den Hügel zur Großen Straße hinauf. Das Fenster stand offen.

Wie beim letzten Mal nahmen sie das Haus genau unter die Lupe. Sie konnten ein wenig ins Innere sehen, dort wo im Erdgeschoss ein Licht brannte, wahrscheinlich in der Küche. Ein Schatten bewegte sich hin und her.

»Wir fahren ein paar Mal um den Block«, sagte Rudi.»Wie gut, dass wir die Fahrräder mitgenommen haben.«

»Pass bloß auf, dass du daran denkst, deins wieder mit heimzunehmen.«

»Sehr witzig, Saumensch. Immerhin ist es ein bisschen größer als deine verdreckten Schuhe.«

Sie fuhren etwa eine Viertelstunde lang hin und her. Immer noch befand sich die Frau des Bürgermeisters im Erdgeschoss, ein bisschen zu nah an der Bibliothek, als dass sie es gewagt hätten einzusteigen. Es war beinahe unverschämt, mit welcher Ausdauer sie sich in der Küche aufhielt. Rudi betrachtete die Küche als eigentliches Ziel. Er wäre hineingegangen, hätte so viele Lebensmittel eingepackt, wie er tragen konnte, und dann - und nur dann - hätte er sich, wenn er noch Zeit gehabt hätte, auf dem Weg nach draußen irgendein Buch in den Hosenbund gestopft.

Aber Rudis Schwäche war seine Ungeduld.»Es wird spät«, sagte er und wollte wegfahren.»Kommst du?«

Liesel kam nicht.

Es gab nichts, worüber sie nachdenken musste. Sie hatte sich mit diesem rostigen Fahrrad der ganzen Hügel hinaufgeschleppt, und sie würde nicht ohne ein Buch gehen. Sie legte den Lenker in den Rinnstein, schaute sich nach den Nachbarhäusern um und ging dann zum Fenster. Sie ging zügig, aber ohne Eile. Sie zog die Schuhe aus, wobei sie mit der Fußspitze den jeweils anderen Absatz nach unten trat.



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