Sie wandten sich in unterschiedliche Richtungen, unter den Sparren aus Zweigen und dem hohen Dach aus Baumkronen hindurch. 


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Sie wandten sich in unterschiedliche Richtungen, unter den Sparren aus Zweigen und dem hohen Dach aus Baumkronen hindurch.



»Nicht stehen bleiben, Liesel!«»Was ist mit den Rädern?«»Scheiß auf die Räder!«

Sie rannten, und nach etwa hundert Metern rückte ihnen der geduckte Atem des Soldaten auf den Pelz. Er überholte Liesel, und sie wartete auf die dazugehörige Hand.

Sie hatte Glück.

Alles, was sie traf, war ein Stiefeltritt in den Hintern und eine Faustvoll Worte:»Renn weiter, Mädchen, du hast hier nichts verloren!«Sie rannte und rannte, etwa einen Kilometer weit. Zweige zerschnitten ihre Arme, Tannenzapfen rollten vor ihre Füße, und der Geschmack von Weihnachtsbäumen legte sich auf ihre Lunge.

Etwa eine Dreiviertelstunde war vergangen, als sie zurückkehrte. Rudi saß neben den rostigen Rädern. Er hatte den Rest des Brotes zusammengeklaubt und kaute nun auf den trockenen Krusten herum.

»Ich hab dir doch gesagt, dass du nicht zu nah rangehen sollst«, sagte er.

Sie drehte sich um und präsentierte ihm ihr Hinterteil.»Habe ich da einen Stiefelabdruck?«

DAS VERSTECKTE SKIZZENBUCH

Ein paar Tage vor Weihnachten kam der nächste Luftangriff, doch Molching blieb verschont. Der Radiosprecher erklärte, dass die meisten Bomben auf unbewohntem Land niedergegangen waren.

Bedeutsamer als diese Tatsache war die Stimmung im Keller der Fiedlers. Nachdem alle eingetroffen waren, setzte man sich mit ernsten Mienen nieder und wartete. Alle schauten Liesel auffordernd an.

Papas Stimme kam zu ihr, klang laut in ihren Ohren.

»Und wenn es noch mehr Luftangriffe gibt, lies den Leuten im Keller weiter vor, ja?«

Liesel wartete ab. Sie wollte sichergehen, dass sie es wirklich wollten.

Rudi erhob seine Stimme und sprach für alle anderen.»Lies schon, Saumensch.«

Sie öffnete das Buch, und wieder fanden die Worte ihren Weg aus den Seiten zu allen, die im Keller anwesend waren.

Nachdem die Sirenen Entwarnung gegeben hatten, kehrte Liesel mit ihrer Mama nach Hause zurück und setzte sich zu ihr in die Küche. Etwas nagte an der Stirnseite von Rosa Hubermanns Gesichtsausdruck, und es dauerte nicht lange, da nahm sie ein Messer und ging aus der Küche.»Komm mal mit.«

Sie ging ins Wohnzimmer und zog das Laken von einer Ecke ihrer Matratze. An der Seite befand sich ein zugenähter Riss. Wenn man nicht wusste, dass er da war, konnte man ihn unmöglich entdecken. Vorsichtig trennte Rosa die Naht auf und schob ihre Hand hinein, dann den ganzen Arm. Als sie ihn wieder herauszog, lag in ihrer Hand Max Vandenburgs Skizzenbuch.

»Er meinte, wir sollen es dir geben, wenn du dafür bereit bist«, sagte sie.»Ich dachte an deinen Geburtstag. Oder vielleicht Weihnachten.«Rosa Hubermann stand da, mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Es lag kein Stolz darin. Vielleicht eine gewisse Dichte, die Schwere der Erinnerung.»Ich glaube, du warst schon immer bereit dafür, Liesel. Vom ersten Tag an, als du hierherkamst und dich an das Tor geklammert hast. Das Buch ist für dich geschaffen.«

Rosa gab es ihr.

Auf dem Einband stand Folgendes:

DIE WORTESCHÜTTLERIN

Eine Sammlung von Gedanken für Liesel Meminger

Liesel hielt es mit weichen Händen. Sie starrte darauf.»Danke, Mama.«Dann umarmte sie sie.

Sie verspürte das heftige Verlangen, Rosa Hubermann zu sagen, dass dass sie es nicht tat.

Sie wollte das Buch eigentlich im Keller lesen, um der alten Zeiten willen, aber Mama schüttelte den Kopf.»Max ist nicht zufällig da unten krank geworden«, sagte sie,»und ich verspreche dir eines: Ich lasse nicht zu, dass du auch noch krank wirst.«

Sie las also in der Küche.

Rote und gelbe Lücken im Ofen.

Sie las die unzähligen Geschichten, betrachtete die Bilder und entzifferte die Bildunterschriften. Da war Rudi auf einem Podest mit drei Goldmedaillen um den Hals.»Haare wie Zitronen«stand darunter. Der Schneemann war da, ebenso wie eine Liste der dreizehn Geschenke und die Schilderung von unzähligen Nächten im Keller oder vor dem Kamin.

Natürlich gab es auch viele Gedanken, Skizzen und Träume, die von Stuttgart handelten, von Deutschland und dem Führer. Auch Erinnerungen an Max' Familie. Schlussendlich konnte er nicht anders, als sie mit einzubeziehen. Er musste es tun.

Dann kam Seite 117.

Die Worteschüttlerin betrat die Bühne.

Es war eine Fabel oder ein Märchen, Liesel war sich nicht sicher, welches von beiden. Sogar Tage später noch, als sie die Begriffe im Duden Bedeutungswörterbuch nachschlug, konnte sie beide nicht unterscheiden.

Lange Zeit saß Liesel am Küchentisch und fragte sich, wo Max Vandenburg war, in dem undurchdringlichen Dickicht da draußen. Das Licht senkte sich um sie herum. Sie schlief ein. Mama schickte sie ins Bett, und sie gehorchte, mit Max' Skizzenbuch eng an ihre Brust gepresst.

Stunden später wachte sie auf und wusste die Antwort auf ihre Frage.»Natürlich«, flüsterte sie.»Ich weiß, wo er ist.«Und dann schlief sie wieder ein.

Sie träumte von dem Baum.

DIE ANZUGSAMMLUNG DES ANARCHISTEN

HIMMELSTRASSE 35, 24. DEZEMBER

In Abwesenheit zweier Väter haben die Steiners Rosa und Trudi Hubermann und Liesel eingeladen. Bei ihrem Eintreffen ist Rudi immer noch dabei, die Sache mit seiner Kleidung zu erklären. Er schaut Liesel an, und sein Mund weitet sich, aber nur ein bisschen.

Die Tage, die dem Heiligabend 1942 vorausgingen, waren dicht und schwer von Schnee. Liesel las Die Worteschüttlerin viele Male und betrachtete die Skizzen und Kommentare am Rand. An Heiligabend fällte sie eine Entscheidung, was Rudi betraf. Was machte es schon aus, wenn sie ein wenig zu spät kam?

Sie ging kurz vor Einbruch der Dunkelheit nach nebenan und erklärte ihm, dass sie ein Weihnachtsgeschenk für ihn habe.

Rudi schaute auf ihre Hände und dann rechts und links von ihren Füßen.»Na, und wo ist es?«

»Ach, vergiss es einfach.«

Aber Rudi wusste Bescheid. Er hatte sie schon früher so erlebt. Risikofreudige Augen und klebrige Finger. Der Hauch des Stehlens hing an ihren Schultern, und er konnte ihn förmlich riechen.»Dieses Geschenk«, sagte er langsam,»das hast du noch nicht, stimmt's?«

»Stimmt.«

»Und du wirst es auch nicht kaufen.«

»Natürlich nicht. Glaubst du vielleicht, ich habe Geld?«Der Schnee fiel immer noch. An der Rasenkante lag er wie zersplittertes Glas.»Hast du den Schlüssel?«, fragte sie.

»Den Schlüssel wofür?«Aber es dauerte nicht lange, bis Rudi begriffen hatte. Er ging ins Haus und kam kurz darauf wieder. Mit den Worten von Viktor Chemmel gesprochen:»Es ist Zeit, einkaufen zu gehen.«

Das Licht schwand schnell, und bis auf die Kirche waren alle Geschäfte und Häuser in der Münchener Straße geschlossen. Liesel musste sich beeilen, um mit den langen Schritten ihres Nebenmannes mitzuhalten. Sie kamen an das Schaufenster.»Steiner - Schneidermeister«. Auf der Glasscheibe lag eine dünne Schicht aus Staub und Ruß, die sich dort in den letzten Wochen angesammelt hatte. Auf der anderen Seite standen die Schaufensterpuppen wie Zeugen bei einer Gegenüberstellung. Sie waren ernst und lächerlich elegant. Das Gefühl, von ihnen beobachtet zu werden, war schwer abzuschütteln.

Rudi griff in seine Tasche.

Es war Heiligabend.

Sein Vater war irgendwo in der Nähe von Wien.

Rudi glaubte nicht, dass es ihm etwas ausmachen würde, wenn er und Liesel seinen geliebten Laden betraten. Der Umstände halber.

Die Tür öffnete sich widerstandslos, und sie gingen hinein. Rudis erster Gedanke war, das Licht einzuschalten, aber der Strom war abgestellt worden.

»Gibt's hier irgendwo Kerzen?«

Rudi war verärgert.»Immerhin habe ich den Schlüssel mitgebracht. Außerdem war das Ganze deine Idee.«

Inmitten des Wortwechsels stolperte Liesel über eine Bodenwelle und fiel. Eine Schaufensterpuppe folgte ihr nach. Sie packte Liesel am Arm und entlud die Last ihrer Kleidung auf dem Mädchen.»Schaff das Ding von mir weg!«Die Puppe war in vier Teile zerbrochen. Der Rumpf mit dem Kopf, die Beine und beide Arme. Als sie sich wieder aufgerappelt hatte, stand Liesel da und keuchte.»Jesus, Maria.«

Rudi hob einen der Arme auf und tippte ihr mit der künstlichen Hand auf die Schulter. Sie drehte sich erschrocken um, und er streckte ihr freundschaftlich die Puppenhand entgegen.»Nett, dich kennenzulernen.«

Ein paar Minuten lang schlängelten sie sich langsam durch die engen Gänge des Ladengeschäfts. Rudi ging in Richtung der Verkaufstheke. Dann fiel er über eine leere Kiste, schrie auf und fluchte und eilte zurück zum Eingang.»Das ist zu dämlich«, sagte er.»Warte mal eine Minute.«

Liesel saß da mit dem Arm der Schaufensterpuppe in der Hand, bis er mit einer Kerze aus der Kirche wiederkam.



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