Er brachte sich um, weil er hatte leben wollen. 


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Er brachte sich um, weil er hatte leben wollen.



Natürlich sah ich Liesel Meminger an diesem Tag nicht. Wie üblich ermahnte ich mich, dass ich viel zu viel zu tun hatte, um in der Himmelstraße zu bleiben und dem Geschrei zu lauschen. Es ist schlimm genug, wenn die Menschen mich auf frischer Tat ertappen, und daher entschied ich mich wie üblich zu einem raschen Abgang, hinein in die frühstücksfarbene Sonne.

Ich hörte nicht die Detonation der Stimme eines alten Mannes, als er den erhängten Körper fand, noch das Geräusch rennender Schritte und herunterklappender Kiefer, als sich mehr Menschen dort versammelten. Ich hörte nicht, wie ein hagerer Mann mit einem Schnurrbart murmelte:»Eine Schande, eine himmelschreiende Schande...«

Ich sah nicht Frau Holzinger flach auf der Himmelstraße liegen, mit weit ausgebreiteten Armen und einem schreienden Gesicht, voller Verzweiflung. Nein, ich erfuhr erst ein paar Monate später davon, als ich zurückkehrte und etwas las, was Die Bücherdiebin hieß. Dort wurde mir berichtet, dass Michael Holzinger nicht seiner verletzten Hand oder einer anderen Wunde erlegen war, sondern der Schuld zu leben.

Im Vorfeld seines Todes hatte das Mädchen bemerkt, dass er nicht schlief, dass jede Nacht Gift für ihn war. Ich stelle mir oft vor, wie er wach lag, schweißgebadet in Laken aus Schnee oder mit Visionen der abgetrennten Beine seines Bruders vor Augen. Liesel schrieb, dass sie ihm manchmal beinahe von ihrem eigenen Bruder erzählt hätte, wie sie es bei Max getan hatte, aber zwischen dem weit entfernten Husten und zwei abgerissenen Beinen schien ihr ein zu großer Unterschied zu bestehen. Wie tröstet man einen Menschen, der so etwas gesehen hatte? Sollte man ihm sagen, dass der Führer stolz auf ihn war, dass der Führer ihn liebte für das, was er in Stalingrad getan hatte? Wie hätte man das je wagen können? Man konnte nur ihm das Reden überlassen. Das Dilemma ist allerdings, dass solche Menschen die wichtigsten Worte für danach aufheben, wenn die Mitmenschen das Pech haben, sie zu finden. Ein Zettel, ein Satz, sogar eine Frage - oder ein Brief, wie in der Himmelstraße im Juli 1943.

MICHAEL HOLZINGERS ABSCHIED

Liebe Mama, kannst du mir verzeihen? Ich konnte es einfach nicht länger ertragen.

Ich gehe zu Robert. Es ist mir egal, was die verdammten Katholiken dazu sagen.

Es muss im Himmel einen Platz geben für Menschen, die dort gewesen sind, wo ich war. Du denkst vielleicht, dass ich dich nicht liebe, weil ich tat, was ich tat, aber ich liebe dich. Dein Michael

Ausgerechnet Hans Hubermann wurde gebeten, Frau Holzinger die Nachricht zu überbringen. Er stand auf ihrer Türschwelle, und sie las es wohl in seinen Augen. Zwei Söhne in sechs Monaten.

Der Morgenhimmel stand brennend hinter ihm, als die drahtige Frau an ihm vorbeiging. Sie rannte schluchzend auf die Ansammlung zu, weiter unten an der Himmelstraße. Sie sagte den Namen Michael, zwanzig Mal und mehr, aber Michael hatte ihr bereits geantwortet. Die Bücherdiebin schrieb, dass Frau Holzinger den Körper fast eine Stunde lang umarmt hielt. Dann kehrte sie zu der blendenden Sonne der Himmelstraße zurück und setzte sich hin. Sie konnte nicht mehr laufen.

Aus der Ferne schauten die Leute zu. So etwas war leichter, wenn man weiter weg war. Hans Hubermann saß bei ihr.

Er legte seine Hände auf die ihren, und sie fiel mit dem Rücken auf die harte Erde. Er ließ es zu, dass ihre Schreie die Straße erfüllten.

Viel später begleitete Hans sie mit äußerster Sorgfalt durch ihr Tor und ins Haus hinein. Und egal wie oft ich versuche, es anders zu sehen, ich kann den Anblick nicht abschütteln...

Wenn ich mir die Szene mit der am Boden zerstörten Frau und dem hochgewachsenen, silberäugigen Mann vorstelle, schneit es in der Küche der Himmelstraße 31.

DER KRIEGSTREIBER

Der Geruch eines frisch geschreinerten Sargs. Schwarze Kleidung. Riesige Koffer unter den Augen. Liesel stand wie alle anderen auf dem Gras. Am selben Nachmittag las sie Frau Holzinger vor. Der Traumträger, das Lieblingsbuch der Nachbarin.

Es war ein geschäftiger Tag, für alle.

JULI 1943

Michael Holzinger wurde beerdigt, und die Bücherdiebin las der Hinterbliebenen vor. Die Alliierten bombardierten Hamburg - und diesbezüglich kann man von Glück sagen, dass ich ein wandelndes Wunder bin. Niemand außer mir könnte über fünfunddreißigtausend Menschen in so kurzer Zeit forttragen. Nicht in einer Million Menschenjahren.

Den Deutschen wurde nun langsam, aber sicher die Rechnung präsentiert. Die pickligen, klapprigen Knie des Führers fingen an zu zittern.

Aber eines muss man diesem Führer lassen.

Er hatte einen eisernen Willen.

Weder ließ er nach in seiner Kriegstreiberei noch verringerte sich die Bestrafung und Ausrottung der sogenannten jüdischen Plage. Mittlerweile befanden sich überall in Europa Konzentrationslager, viele auch auf deutschem Boden.

In diesen Lagern zwang man die Menschen zu arbeiten und zu laufen.

Max Vandenburg war ein solcher Jude.

DER WEG DER WORTE

Es passierte in einer Kleinstadt im Herzen von Hitlers Reich.

Die Flut des Leidens wurde mit schöner Regelmäßigkeit herausgepumpt, und gerade war wieder ein Stück davon angekommen.

Juden wurden durch die Randbezirke von München getrieben, und ein junges Mädchen tat das Undenkbare, bahnte sich ihren Weg durch die anderen und ging mit den Gefangenen. Die Soldaten zerrten sie weg und stießen sie zu Boden. Sie stand auf und ging weiter.

Der Morgen war warm.

Ein herrlicher Tag für eine Parade.

Die Soldaten und die Juden gingen durch etliche Städte und hatten nun Molching erreicht.

Möglicherweise gab es in den Lagern mehr Arbeit, oder einige Gefangene waren gestorben. Was immer der Grund dafür war, jedenfalls brachte man einen neuen Schub frischer, müder Juden zu Fuß nach Dachau.

Wie immer rannte Liesel gemeinsam mit der üblichen Schar Schaulustiger zur Münchener Straße.

»Heil Hitler!«

Sie hörte den ersten Soldaten schon aus weiter Ferne und schob sich durch die Menge, auf die Stimme und die Prozession zu. Die Stimme erstaunte sie. Sie verwandelte den unendlichen Himmel in eine Zimmerdecke, an die sie fast mit ihrem Kopf stieß, und die Worte prallten ab, landeten irgendwo auf dem Boden vor den humpelnden jüdischen Füßen.

Ihre Augen.

Sie schauten auf die unter ihnen hinweggleitende Straße, einer nach dem anderen. Als Liesel einen guten Aussichtspunkt erreicht hatte, blieb sie stehen und betrachtete sie. Ihre Augen rasten durch die Akten aus Gesichtern und verglichen sie mit dem des Juden, der Der Überstehmann und Die Worteschüttlerin geschrieben hatte.

Haare wie Federn, dachte sie.

Nein, Haare wie Geäst. So sahen sie aus, wenn sie nicht gewaschen waren. Halt Ausschau nach Haaren wie Zweige und sumpfigen Augen und einem Splitterbart.

Gott, es waren so viele.

So viele Paare sterbender Augen und schlurfender Füße.

Liesel suchte sie ab, und es war nicht so sehr ein Erkennen von Gesichtszügen, das Max Vandenburg verriet. Es war die Art, wie sich das Gesicht benahm - es betrachtete ebenfalls die Menge. Starr vor Aufmerksamkeit.

Liesel fühlte, wie sie innehielt, als sie das einzige Gesicht entdeckte, das die deutschen Zuschauer direkt anblickte. Es prüfte sie mit solcher Entschlossenheit, dass die Leute rechts und links der Bücherdiebin es bemerkten und auf ihn deuteten.

»Was guckt der denn so?«, fragte eine männliche Stimme neben ihr.

Die Bücherdiebin trat auf die Straße.

Noch nie war ihr eine Bewegung so zur Last gefallen. Noch nie war das Herz in ihrer jungen Brust so entschieden und so groß gewesen.

Sie trat vor und sagte sehr leise:»Er sucht nach mir.«



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