Wie schaffte sie es, sich zu bewegen? 


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Wie schaffte sie es, sich zu bewegen?



Das ist etwas, was ich nie wissen oder begreifen werde - wozu menschliche Wesen fähig sind.

Sie hob ihn auf und lief weiter. Das Mädchen blieb dicht an ihrer Seite.

Ihr nächster Weg führte sie zu den Behörden. Fragen wurden gestellt, über ihre Verspätung und den Jungen, und diese Fragen brachten sie dazu, die verletzlichen Köpfe zu heben. Liesel blieb in der Ecke des kleinen, staubigen Büros, während ihre Mutter mit verkrampften Gedanken auf einem sehr harten Stuhl saß.

Dann kam das Durcheinander des Abschieds.

Der Abschied war feucht. Das Mädchen vergrub den Kopf in den wollenen, fadenscheinigen Tiefen des Mantels der Mutter. Wieder nahm das Gezerre seinen Anfang und sein Ende.

Eine ganze Wegstrecke außerhalb von München lag eine Kleinstadt namens Molching. Dorthin brachte man sie, in eine Straße, die nach dem Himmel benannt war.

Wer immer der Himmelstraße ihren Namen gegeben hatte, war offensichtlich mit einem gesunden Sinn für Humor gesegnet gewesen. Nicht dass es die Hölle auf Erden wäre. Das nicht. Aber so sicher, wie es nicht die Hölle war, so sicher war es auch nicht der Himmel.

Dessen ungeachtet warteten die Pflegeeltern auf ihren Schützling.

Die Hubermanns.

Sie hatten ein Mädchen und einen Jungen erwartet, für deren Pflege sie eine magere Unterstützung bekommen sollten. Niemand wollte Rosa Hubermann erklären müssen, dass der Junge die Reise nicht überlebt hatte. Tatsache war, dass überhaupt niemand jemals den Wunsch hatte, ihr irgendetwas erklären zu müssen. Was ihre Natur anging, so war sie nicht gerade als umgänglich bekannt, obwohl sie in Bezug auf Pflegekinder einen guten Ruf genoss. Sie hatte etliche von ihnen geradegerückt.

Liesel fuhr in einem Auto.

Sie war noch nie in einem Auto gefahren.

Ihr Magen hob und senkte sich unentwegt, gemeinsam mit ihrer vergeblichen Hoffnung, dass sie sich verfahren würden oder irgendjemand seine Meinung ändern würde. Inmitten von all dem kehrten ihre Gedanken immer wieder zu ihrer Mutter zurück, die am Bahnhof darauf wartete, wieder abfahren zu können. Zitternd. Eingehüllt in diesen nutzlosen Mantel. Sie kaute an den Nägeln und wartete auf den Zug. Der Bahnsteig war lang und ungemütlich, ein Band aus kaltem Zement. Würde sie bei ihrer Rückfahrt nach der Grabstätte ihres Sohnes Ausschau halten? Oder würde der Schlaf übermächtig sein?

Der Wagen fuhr weiter, und Liesel sah voller Angst der letzten, endgültigen Kurve entgegen.

Der Tag war grau, die Farbe Europas.

Vorhänge aus Regen waren um den Wagen gezogen.

»Wir sind gleich da.«Die Dame von der Pflegevermittlung, Frau Heinrich, wandte sich um und lächelte.»Dein neues Zuhause.«

Liesel wischte einen blanken Kreis auf die angelaufene Fensterscheibe und schaute hinaus.

MOMENTAUFNAHME DER HIMMELSTRASSE

Die Gebäude scheinen zusammengeklebt zu sein, meistens kleine zweistöckige Häuser und Mehrfamilienhäuser, die nervös wirken. Schmutziger Schnee liegt ausgebreitet da wie ein Teppich. Zement, leere Hutständerbäume und graue Luft.

Im Auto saß auch ein Mann. Während Frau Heinrich im Haus verschwand, blieb er bei dem Mädchen. Er sagte kein Wort. Liesel vermutete, dass er sie im Zweifelsfall am Weglaufen hindern oder sie nach drinnen schleppen sollte, wenn sie versuchte, Ärger zu machen. Als der Ärger jedoch anfing, saß er einfach nur da und sah zu. Vielleicht war er nur der letzte Ausweg, wenn nichts anderes mehr half.

Nach ein paar Minuten kam ein sehr großer Mann nach draußen. Hans Hubermann, Liesels Pflegevater. An seiner einen Seite ging die mittelgroße Frau Heinrich. An seiner anderen befand sich die klobige Gestalt von Rosa Hubermann, die aussah wie ein kleiner Schrank, über den man einen Mantel geworfen hatte. Sie watschelte mehr, als dass sie ging. Man hätte es fast niedlich nennen können, wenn da nicht ihr Gesicht gewesen wäre, verkniffen wie zerdrückte Pappe und verärgert, als ob sie sich mit allem und jedem nur gerade eben so abfinden könnte. Ihr Mann ging aufrecht und hatte eine brennende Zigarette zwischen den Fingern. Eine selbst gedrehte.

Folgendes geschah:

Liesel weigerte sich auszusteigen.

»Was ist los mit dem Kind?«, wollte Rosa Hubermann wissen. Sie wiederholte es:»Was ist los mit diesem Kind?«Sie steckte ihr Gesicht in den Wagen und sagte:»Na, komm. Komm.«

Der Vordersitz flog auf das Armaturenbrett zu. Ein Korridor aus kaltem Licht öffnete sich Liesel. Sie rührte sich nicht.

Durch den Kreis auf der Fensterscheibe, den sie gewischt hatte, konnte Liesel die Finger des großen Mannes draußen sehen, die immer noch die Zigarette hielten. Asche taumelte von ihrer Spitze, wirbelte ein paar Mal herum und fiel dann zu Boden. Es dauerte fast fünfzehn Minuten, bis sie sich aus dem Auto locken ließ. Es war der große Mann, dem das Kunststück gelang.

Still.

Dann kam das Gartentor. Sie klammerte sich daran.

Tränen stürmten aus ihren Augen, während sie sich festhielt und sich weigerte, ins Haus zu gehen. Die Leute kamen aus ihren Häusern auf die Straße und gafften, bis Rosa Hubermann ihnen Flüche entgegenschleuderte, die dafür sorgten, dass sie dahin zurückeilten, woher sie gekommen waren.

WAS ROSA HUBERMANN IHNEN ZU SAGEN HATTE

»Was glotzt ihr denn so, ihr Arschlöcher?«

Schließlich trat Liesel Meminger zögernd ein. Hans Hubermann hielt ihre Hand. Der kleine Koffer hielt ihre andere. Vergraben in den Falten ihrer Kleidung im Innern des Koffers lag ein kleines schwarzes Buch, nach dem - so dürfen wir vermuten - ein vierzehnjähriger Totengräber in einem namenlosen Dorf stundenlang gesucht hatte.»Ich schwöre Ihnen«, höre ich ihn zu seinem Vorgesetzten sagen,»ich habe keine Ahnung, wo es geblieben ist. Ich habe überall gesucht. Überall!«Ich bin sicher, dass er niemals das Mädchen verdächtigt hätte. Und doch war es hier - ein schwarzes Buch mit silbernen Buchstaben unter der Decke ihrer Kleidung:

HANDBUCH FÜR TOTENGRÄBER

In zwölf Schritten zum Erfolg. Wie man ein guter Totengräber wird. Herausgegeben von der Bayerischen Friedhofsvereinigung.

Die Bücherdiebin hatte zum ersten Mal zugeschlagen. Es war der außergewöhnlichen Karriere.

ALS SAUMENSCH AUFZUWACHSEN

Ja, eine außergewöhnliche Karriere.

Ich sollte allerdings vorausschicken, dass zwischen dem ersten Diebstahl und dem zweiten eine nicht unerhebliche Zeitspanne lag. Eine weitere bemerkenswerte Tatsache ist, dass das erste Buch aus dem Schnee gestohlen wurde und das zweite aus dem Feuer. Und es darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass sie Bücher geschenkt bekam. Alles in allem besaß sie vierzehn Bücher, aber ihre Geschichte besteht - aus ihrem Blickwinkel heraus betrachtet - hauptsächlich aus zehn. Von diesen zehn waren sechs gestohlen. Eines tauchte auf dem Küchentisch auf, zwei fertigte ein versteckter Jude für sie an, und eines wurde ihr an einem weichen, gelbgekleideten Nachmittag überreicht.

Als sie ihre Geschichte aufschrieb, fragte sie sich, ab welchem Augenblick genau die Bücher und Worte nicht mehr nur irgendetwas bedeuteten, sondern alles. War es, als sie das erste Mal jenen Raum erblickte, in dem sich die Regale bis zur Zimmerdecke streckten? Oder als Max Vandenburg in der Himmelstraße eintraf und zwei Hände voll Leid und eine Ausgabe von Hitlers Mein Kampf' bei sich trug? War es das Vorlesen im Luftschutzraum? Der letzte Marsch nach Dachau? War es Die Worteschüttlerin? Vielleicht würde es niemals eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Wann und Wo geben. Überhaupt greife ich mir selbst vor. Bis wir zu den genannten Ereignissen kommen, müssen wir uns zunächst Liesel Memingers Anfängen in der Himmelstraße widmen und der Frage, was es mit Saumenschen auf sich hat.

Bei ihrer Ankunft waren die Bissspuren des Schnees auf ihren Händen und das frostige Blut auf ihren Fingern noch deutlich sichtbar. Alles an ihr war unterernährt. Drahtdünne Schienbeine. Arme, hager wie Kleiderbügel. Sie zeigte es nicht oft, aber wenn es herausbrach, war auch ihr Lächeln am Verhungern.

Ihre Haarfarbe näherte sich dem Blond, das als Kennzeichen des Deutschtums galt, aber sie hatte gefährliche Augen. Dunkelbraun. Zu jener Zeit mochte man in Deutschland keine braunen Augen. Vielleicht hatte sie die von ihrem Vater geerbt, aber wissen konnte sie es nicht; sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Es gab nur eine einzige Sache, die sie von ihrem Vater wusste, ein Etikett, das sie nicht verstand.

EIN MERKWÜRDIGES WORT

Kommunist

Sie hatte es in den vergangenen Jahren einige Male gehört.»Kommunist.«

Da waren Pensionen, vollgestopft mit Menschen, Zimmer, vollgestopft mit Fragen. Und dieses Wort. Das merkwürdige Wort war immer da, irgendwo in der Nähe, stand in der Ecke, lauerte im Schatten. Es trug Anzüge und Uniformen. Egal wohin sie gingen, es war da, sobald die Sprache auf ihren Vater kam. Sie konnte es riechen und schmecken. Sie konnte es nur nicht buchstabieren und auch nicht begreifen. Wenn sie ihre Mutter fragte, was es bedeutete, wurde ihr gesagt, dass es nicht wichtig sei, dass sie sich über diese Sachen keine Sorgen machen solle. In einer Pension gab es eine Frau, die kräftiger und gesünder war als die anderen und die versuchte, den Kindern das Schreiben beizubringen, indem sie mit Kohle auf Wände malte. Liesel hätte sie zu gerne nach der Bedeutung jenes Wortes gefragt, aber es bot sich einfach nie die Gelegenheit. Eines Tages holte man die Frau zum Verhör. Sie kehrte nicht zurück.

Als Liesel in Molching eintraf, hatte sie zumindest eine Ahnung, dass sie gerettet war, aber das war ihr kein Trost. Wenn ihre Mutter sie liebte, warum setzte sie sie dann vor der Haustür von Fremden aus? Warum? Warum?

Warum?

Der Umstand, dass sie die Antwort kannte - wenn auch nur in groben Zügen -, war unwichtig. Ihre Mutter war ständig krank, und es war nie genug Geld da, um sie gesund zu machen. Liesel wusste das. Aber das hieß nicht, dass sie es auch akzeptieren musste. Auch wenn ihr immer wieder gesagt worden war, dass sie geliebt wurde, so gab es für sie keinen Grund, den Beweis dafür in der Tatsache zu sehen, dass sie zurückgelassen worden war. Nichts konnte etwas daran ändern, dass sie ein verlorenes, hageres Kind an einem weiteren fremden Ort war, mit noch mehr fremden Menschen. Allein.

Die Hubermanns lebten in einem der kleineren Häuser in der Himmelstraße. Eine Handvoll Zimmer, eine Küche und ein Toilettenhäuschen hinter dem Haus, das sie sich mit den Nachbarn teilten. Das Dach war flach, und es gab einen niedrigen Keller, wo Vorräte aufbewahrt wurden. Der Keller war wirklich sehr niedrig. 1939 war das noch kein Problem. Später, 1942 und '43, wurde es zu einem. Als die Luftangriffe begannen, mussten sie immer die Straße hinunterlaufen, bis sie zu einem geeigneten Schutzraum kamen.

Am Anfang war es das Fluchen, das den größten Eindruck auf Liesel machte. Es war so heftig und maßlos. Jedes zweite Wort war entweder Saumensch oder Saukerl oder Arschloch.

»Saumensch, du dreckiges!«, schrie Liesels Pflegemutter an jenem ersten Abend, als das Mädchen sich weigerte, ein Bad zu nehmen.»Du dreckiges Schwein! Warum willst du dich nicht ausziehen?«Zu wüten war eine ihrer großen Stärken. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass Rosa Hubermanns Gesicht permanent mit Wut bekleidet war. So waren die Knitter und Falten in ihrer Pappkartonhaut entstanden.

Liesel ihrerseits war in Angst gebadet. Auf keinen Fall würde sie in die Wanne steigen und erst recht nicht in ein Bett. Sie hatte sich in eine Ecke des wandschrankengen Badezimmers geklemmt und tastete nach nicht vorhandenen Armen an der Wand, an denen sie sich festhalten konnte. Aber da war nichts außer der Wandfarbe, gepressten Atemzügen und der Sintflut aus Rosas Beschimpfungen.

»Lass sie in Ruhe.«Hans Hubermann betrat die Szene. Seine sanfte Stimme bahnte sich den Weg hinein, als ob sie durch eine Menschenmenge schlüpfte.»Überlass sie mir.«

Er kam näher und setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Die Kacheln waren kalt und unfreundlich.

»Weißt du, wie man Zigaretten dreht?«, fragte er sie, und in der nächsten Stunde saßen sie in dem aufsteigenden Teich aus Dunkelheit, spielten mit Tabak und Zigarettenpapierchen. Hans Hubermann rauchte ihre selbst gedrehten Zigaretten.

Als die Stunde vorbei war, konnte Liesel eine halbwegs anständige Zigarette drehen. Ein Bad nahm sie noch immer nicht.

EIN PAAR WORTE ÜBER HANS HUBERMANN

Er rauchte gern. Was er am Rauchen am meisten mochte, war das Drehen der Zigaretten. Er war Anstreicher von Beruf, und er spielte Akkordeon. Das war ganz nützlich, besonders im Winter, wenn er ein bisschen Geld verdienen konnte, indem er in den Kneipen von Molching spielte, im»Knoller«beispielsweise.

Er war mir bereits in einem Weltkrieg aus dem Weg gegangen, sollte aber später in einen zweiten geschickt werden (als eine perverse Art von Belohnung), wo er es irgendwie schaffte, sich mir ein weiteres Mal zu entziehen.

Für die meisten Menschen war Hans Hubermann kaum sichtbar. Ein un-besonderer Mensch. Seine Fähigkeiten als Anstreicher waren zweifellos exzellent. Sein Können als Musiker war überdurchschnittlich. Und doch war er irgendwie in der Lage - und ich bin mir sicher, dass auch euch schon solche Menschen begegnet sind -, mit dem Hintergrund zu verschmelzen, selbst wenn er in vorderster Reihe stand. Er war immer nur da. Nicht auffällig. Nicht wichtig oder besonders wertvoll.

Das Gute an diesem Eindruck war, dass er täuschte. Denn Hans Hubermann war wertvoll, und Liesel Meminger erkannte dies. (Das Menschenkind - manchmal viel schlauer als der unfassbar schwerfällige Erwachsene.) Sie bemerkte es sofort.

Seine Haltung.

Die Ruhe, die ihn umgab.

Als er an jenem Abend das Licht in dem kleinen, lieblos wirkenden Badezimmer einschaltete betrachtete Liesel die außergewöhnlichen Augen ihres Pflegevaters. Sie waren aus Freundlichkeit gemacht und aus Silber. Weiches Silber, schmelzend. Liesel sah diese Augen und begriff, dass Hans Hubermann sogar eine ganze Menge wert war.

EIN PAAR WORTE ÜBER ROSA HUBERMANN

Sie war 1,55 Meter groß und trug die braungrauen Strähnen ihres elastischen Haars zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengefasst. Um die Haushaltskasse aufzubessern, wusch und bügelte sie die Wäsche für fünf der wohlhabenderen Familien in Molching. Ihr Essen schmeckte scheußlich. Sie besaß das unglaubliche Talent, fast jeden, den sie traf, vor den Kopf zu stoßen. Aber sie liebte Liesel Meminger. Sie hatte nur einfach eine merkwürdige Art,

diese Liebe zu zeigen. Ihre Art bestand darin, sie regelmäßig mit dem Kochlöffel und mit Beschimpfungen zu malträtieren.

Als Liesel endlich ein Bad nahm - zwei Wochen nachdem sie in der Himmelstraße eingetroffen war -, nahm Rosa sie in die Arme und drückte sie so heftig, dass ihr die Knochen knackten. Während sie das Mädchen fast erstickte, sagte sie:»Saumensch, du dreckiges - das wurde aber auch Zeit!«

Ein paar Monate später waren sie nicht mehr Herr und Frau Hubermann. Mit der ihr eigenen Arl warf Rosa Hubermann Liesel eines Tages eine Faustvoll Worte entgegen:»Jetzt hör mal zu, Liesel, von heute an nennst du mich Mama.«Sie dachte einen Moment lang nach.»Wie hast du deine richtige Mutter genannt?«



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