Sie stellten sich auf und rannten. 


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Sie stellten sich auf und rannten.



Ein Junge mit rostbraunen Haaren und großen Schritten gewann mit fünf Metern Vorsprung. Rudi blieb zurück.

Später, als der Tag fertig und die Sonne vom Himmel genommen worden war, saß Liesel mit ihrem Freund auf dem Bürgersteig der Himmelstraße.

Sie redeten über alles andere, von Franz Deutschers Gesicht nach dem 1500-Meter-Rennen bis zu einem elfjährigen Mädchen, das einen Anfall bekommen hatte, nachdem sie das Diskuswerfen verloren hatte.

Bevor sie sich auf den Weg nach Hause machten, griff Rudis Stimme zu ihr hinüber und überreichte Liesel die Wahrheit. Die saß eine Zeit lang auf Liesels Schulter, aber ein paar Gedankengänge später bahnte sie sich den Weg in ihr Ohr.

RUDIS STIMME

»Ich hab's absichtlich gemacht.«

Nachdem sie den Inhalt des Geständnisses begriffen hatte, stellte Liesel die einzige Frage, die sie parat hatte:»Aber warum, Rudi? Warum hast du das getan?«

Er stand da, mit einer Faust in die Hüfte gestemmt, und gab ihr keine Antwort. Nichts außer einem wissenden Lächeln und ein paar langsamen Schritten, die ihn nach Hause trieben. Sie sprachen nie wieder darüber.

Dennoch fragte sich Liesel oft, wie Rudi geantwortet hätte, hätte sie ihn gedrängt. Vielleicht, dass drei Medaillen ausreichend seien, um zu beweisen, was er hatte beweisen wollen. Oder dass er Angst gehabt habe, dieses letzte Rennen zu verlieren. Am Ende schenkte sie einer jungen Stimme Gehör, die aus ihrem Innern kam.

»Weil er nicht Jesse Owens ist.«

Erst als sie vom Bürgersteig aufstand, sah sie die drei unechten Goldmedaillen neben sich liegen. Sie klopfte an die Tür der Steiners und hielt Rudi die Medaillen entgegen.»Die hast du vergessen.«

»Nein, habe ich nicht.«Er machte die Tür zu, und Liesel nahm die Medaillen mit nach Hause. Sie brachte sie hinunter in den Keller und erzählte Max von ihrem Freund Rudi Steiner.

»Er ist wirklich dumm«, sagte sie abschließend.

»Zweifellos«, stimmte Max zu,»aber ich glaube nicht, dass er sich zum Narren halten ließ.«

Dann arbeitete Max an seinem Skizzenbuch weiter, während Liesel den Traumträger las. Sie war schon im letzten Drittel angelangt, in dem der junge Priester an seinem Glauben zu zweifeln beginnt, nachdem er eine fremde und elegante Dame kennengelernt hat.

Sie legte das Buch mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten in ihren Schoß. Max fragte, wann sie glaube, damit fertig zu sein.

»In ein paar Tagen.«

»Und dann? Ein neues Buch?«

Die Bücherdiebin schaute hinauf zur Kellerdecke.»Vielleicht, Max.«Sie schlug das Buch zu und lehnte sich zurück.»Wenn ich Glück habe.«

DAS NÄCHSTE BUCH

Es ist nicht das Duden Bedeutungswörterbuch, wie ihr vielleicht erwartet habt.

Nein, das Wörterbuch kommt erst am Ende dieser kleinen Trilogie zum Zuge, und derzeit befinden wir uns im zweiten Teil. Dies ist der Abschnitt, in dem Liesel den Traumträger zu Ende liest und eine Geschichte mit dem Titel Ein Lied im Dunkeln stiehlt. Wie immer stammte sie aus dem Haus des Bürgermeisters. Der einzige Unterschied war, dass sie diesmal allein dorthin ging. Rudi war an diesem Tag nicht bei ihr.

Der Morgen war reich an Sonne und schaumigen Wolken.

Liesel stand in der Bibliothek des Bürgermeisters. Gier klebte an ihren Fingern und Buchtitel an ihren Lippen. Heute fühlte sie sich sicher genug, um mit den Händen über die Regale zu streichen - eine abgekürzte Wiederholung dessen, was sie früher in diesem Raum getan hatte -, und sie flüsterte im Vorbeigehen viele der Titel vor sich hin.

Unter dem Kirschbaum.

Der zehnte Leutnant.

Wie so oft fühlte sie sich von etlichen dieser Titel in Versuchung geführt, aber nach ein oder zwei Minuten entschied sie sich für Ein Lied im Dunkeln, wahrscheinlich weil das Buch grün war und sie noch kein Buch in dieser Farbe besaß. Die geprägte Schrift auf dem Einband war weiß, und zwischen Titel und Autor befand sich das Bild einer kleinen Flöte. Mit dem Buch kletterte sie aus dem Fenster und bedankte sich dabei lautlos.

Normalerweise fehlte ihr etwas, wenn Rudi nicht da war, aber an diesem besonderen Morgen war die Bücherdiebin aus irgendeinem Grund lieber allein. Sie ging zur Amper, setzte sich ans Ufer - weit genug von dem üblichen Treffpunkt von Viktor Chemmel und Arthur Bergs ehemaliger Bande entfernt - und las. Niemand kam vorbei, niemand störte sie, und Liesel las vier der sehr kurzen Kapitel von Ein Lied im Dunkeln. Sie war glücklich.

Es war das Vergnügen und die Befriedigung.

Über einen gelungenen Diebstahl.

Eine Woche später war die Trilogie des Glücks komplett.

In den letzten Augusttagen wurde ihr ein Geschenk gemacht, oder besser gesagt: Das Geschenk wurde bemerkt.

Es war später Nachmittag. Liesel schaute Kristina Müller beim Seilspringen auf der Himmelstraße zu. Rudi Steiner kam schlitternd auf dem Fahrrad seines Bruders vor ihr zum Stehen.»Hast du Zeit?«, fragte er sie.

Sie zuckte mit den Schultern.»Wofür?«

»Ich glaube, du solltest mitkommen.«Er legte das Fahrrad ab und ging nach Hause, um ein zweites zu holen. Liesel betrachtete die kreiselnden Pedale vor ihren Füßen.

Sie fuhren die Große Straße hinauf. Rudi hielt an und wartete.»Und?«, fragte Liesel.»Was ist denn?«Rudi deutete mit dem Finger.»Schau genau hin.«

Sie schoben sich näher, um einen besseren Blick zu haben, und versteckten sich hinter einer Blautanne. Durch die stacheligen Zweige sah Liesel das angelehnte Fenster und dann einen Gegenstand hinter der Glasscheibe.

»Ist das...?«

Rudi nickte.

Sie besprachen die Situation ein paar Minuten lang, bis sie entschieden, dass es getan werden musste. Das Buch war ganz offensichtlich absichtlich dort hingestellt worden, und wenn es eine Falle war, so war es jedenfalls den Versuch wert.

Inmitten der pudrig blauen Zweige sagte Liesel:»Ein Bücherdieb würde es tun.«

Sie legte das Fahrrad auf den Boden, schaute sich auf der Straße um und ging durch den Hof. Die Wolkenschatten waren im dunklen Gras vergraben. Waren es Löcher, in die man fallen, oder dunkle Flecken, in denen man sich verbergen konnte? In ihrer Einbildung rutschte sie in eines dieser Löcher hinein, direkt in die bösartigen Fänge des Bürgermeisters. Wenn diese Gedanken etwas Gutes hatten, dann die Tatsache, dass sie Liesel ablenkten und sie das Fenster schneller als erwartet erreichte.

Alles war wie damals, als sie den Pfeifer gestohlen hatte.

Ihre Nerven leckten ihre Handflächen feucht.

Kleine Ströme aus Schweiß kräuselten sich in ihren Achseln.

Als sie den Kopf hob, konnte sie den Titel lesen: Duden Bedeutungswörterbuch. Kurz wandte sie sich zu Rudi um und formte lautlos die Worte: Es ist ein Wörterbuch. Er zuckte mit den Schultern und breitete kurz die Arme aus.

Sie ging überlegt vor, hob das Fenster an und fragte sich gleichzeitig, wie die ganze Szene vom Innern des Hauses betrachtet aussehen würde. Sie stellte sich den Anblick ihrer diebischen Hand vor, die das Fenster hochschob, bis das Buch hinausfiel. Es schien sich nur zögernd zu ergeben, wie ein gefällter Baum.

Es fiel.

Kaum ein Geräusch war zu hören.

Das Buch neigte sich ihr entgegen, und sie nahm es mit ihrer freien Hand. Sie machte sogar das Fenster wieder zu, vorsichtig und ordentlich. Dann drehte sie sich um und ging durch die Schlaglöcher aus Wolken wieder zurück.

»Saubere Arbeit«, sagte Rudi und reichte ihr den Lenker ihres Fahrrads.

»Danke.«

Sie fuhren auf die Straßenecke zu, wo sie die Bedeutsamkeit des Tages erwartete. Liesel wusste es. Da war wieder dieses Gefühl - das Gefühl, beobachtet zu werden. Eine Stimme trat in ihrem Herzen in die Pedale. Zwei Mal rundherum.

Schau zum Fenster. Schau zum Fenster.

Sie konnte nicht anders.

Wie ein Jucken, das nach einem Fingernagel verlangt, verspürte sie das unbezähmbare Bedürfnis anzuhalten.

Sie stellte die Füße auf den Boden und drehte sich um, schaute zurück zum Haus des Bürgermeisters, zum Fenster der Bibliothek, und sie sah es. Sie hätte wissen müssen, dass die Möglichkeit bestand, aber dennoch konnte sie den Schreck nicht verbergen, als sie die Frau des Bürgermeisters erblickte, die hinter der Glasscheibe stand. Sie war durchsichtig, aber sie war da. Ihre fusseligen Haare sahen so aus wie immer, und sie gab ihre verwundeten Augen, ihren verletzten Mund und ihr Gesicht Liesels Blicken preis.

Sehr langsam hob sie die Hand, grüßte die Bücherdiebin unter ihr auf der Straße. Ein bewegungsloses Winken.

In ihrem Schreck sagte Liesel nichts, weder zu Rudi noch zu sich selbst. Sie reckte nur die Schultern und hob ebenfalls die Hand, um den Gruß der Frau zu erwidern.

DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - ZWEITER EINTRAG

verzeihen: Ein Unrecht, eine Kränkung o. Ä. nicht zum Anlass für eine heftige Reaktion, eine Vergeltungsmaßnahme nehmen, sondern mit Nachsicht und Großzügigkeit reagieren. Synonyme: entschuldigen, nachsehen, vergeben.

Auf dem Heimweg hielten sie auf der Brücke an und begutachteten das schwere schwarze Buch. Rudi blätterte durch die Seiten und entdeckte einen Brief. Er zog ihn heraus und schaute langsam zur Bücherdiebin auf.

»Da steht dein Name drauf.«

Der Fluss zog dahin.

Liesel nahm das Stück Papier.

DER BRIEF

Liebe Liesel,

ich weiß, dass du mich für jämmerlich und verachtenswert hältst (schlag die Wörter nach, wenn du sie nicht kennst), aber ich bin nicht so dumm, dass ich deine Fußspuren in der Bibliothek übersehen würde.

Als ich das erste Mal bemerkte, dass ein Buch fehlt, dachte ich, dass ich es einfach verlegt hätte, aber dann sah ich die Konturen von Fußabdrücken auf dem Boden, dort, wo das Licht hinfällt.

Ich musste lächeln.

Ich war froh, dass du dir genommen hast, was ohnehin dir gehört. Dann beging ich einen Fehler. Ich dachte, es wäre zu Ende.

Als du zurückkamst, hätte ich wütend sein sollen, aber ich war es nicht. Das letzte Mal konnte ich dich hören, aber ich beschloss, dich in Ruhe zu lassen. Du nimmst ja jedes Mal nur ein Buch, und es wird tausend Besuche dauern, bis sie alle weg sind. Ich hoffe nur, dass du eines Tages an die Haustür klopfen und das Haus auf anständige Art und Weise betreten wirst.

Ich möchte dir noch einmal sagen, wie leid es mir tut, dass wir deine Pflegemutter nicht länger beschäftigen können.

Abschließend hoffe ich, dass dir das Wörterbuch von Nutzen sein wird, wenn du deine gestohlenen Bücher liest.

Mit freundlichen Grüßen Ilsa Hermann

»Wir sollten jetzt heimfahren«, schlug Rudi vor, aber Liesel machte keine Anstalten aufzubrechen.

»Kannst du zehn Minuten auf mich warten?«

»Na klar.«

Liesel strampelte wieder die Große Straße hinauf bis zur Hausnummer 8. Sie setzte sich auf die vertraute Treppenstufe. Das Buch hatte Rudi, aber sie hielt den Brief und rieb mit den Fingern über das gefaltete Papier. Unter ihr wurden die Stufen immer härter. Vier Mal machte sie Anstalten, an das einschüchternde Fleisch der Tür zu klopfen, aber sie brachte es nicht fertig. Alles, wozu sie den Mut hatte, war, ihre Fingerknöchel auf die Wärme des Holzes zu legen.



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