Der Haarschnitt: Mitte April 1941 


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Der Haarschnitt: Mitte April 1941



Das Leben passte sich nun eilfertiger der Normalität an:

Hans und Rosa stritten sich im Wohnzimmer, wenn auch viel leiser als früher. Liesel blieb, wie immer, Zuschauerin.

Der Streit drehte sich um die vorangegangene Nacht, als Hans und Max gemeinsam mit Farbeimern, Worten und Lumpen im Keller gesessen hatten. Max hatte gefragt, ob Rosa ihm irgendwann einmal die Haare schneiden könnte.»Sie fallen mir in die Augen«, hatte er gesagt, woraufhin Hans erwidert hatte:»Ich werde sie mal fragen.«

Jetzt kramte Rosa in den Schubladen herum. Ihre Worte schob sie, mit dem Rest des Gerumpels in der Kommode, Papa entgegen.»Wo ist diese verdammte Schere?«

»Liegt sie denn nicht in der unteren Schublade?«

»Da habe ich schon gesucht.«

»Vielleicht hast du sie übersehen.«

»Glaubst du vielleicht, ich bin blind?«Sie hob ihren Kopf und bellte:»Liesel!«»Ja?«

Hans duckte sich.»Verdammt nochmal, Frau, von deinem Geschrei wird man ja taub.«

»Halt's Maul, Saukerl.«Rosa suchte und kramte weiter und fragte unterdessen das Mädchen:»Liesel, wo ist die Schere?«Aber Liesel wusste es auch nicht.»Saumensch, du bist aber auch zu gar nichts nutze!«

»Halt Liesel gefälligst da raus!«

Mehr Worte flogen hin und her, von der Frau mit den elastischen Haaren zu dem silberäugigen Mann und zurück, bis Rosa die Schublade mit einem Mal zudonnerte.»Wahrscheinlich würde ich ihm sowieso nur lauter Löcher ins Haar schneiden.«

»Löcher?«Zu diesem Zeitpunkt machte Papa den Eindruck, als wollte er sich am liebsten seine eigenen Haare ausreißen. Jetzt aber senkte er seine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern.»Es sieht ihn doch keiner!«Er wollte fortfahren, doch da tauchte die fedrige Gestalt von Max Vandenburg auf und blieb höflich und peinlich berührt im Türrahmen stehen. Max hatte seine eigene Schere dabei und trat vor, reichte sie weder Hans noch Rosa, sondern dem zwölfjährigen Mädchen. Er wählte die ruhigste Person im Zimmer. Sein Mund bebte eine Sekunde, ehe er fragte:»Würdest du?«

Liesel nahm die Schere und klappte sie auf. Sie war gleichermaßen glänzend und an einigen Stellen verrostet. Sie wandte sich zu Papa um, und als er nickte, folgte sie Max hinunter in den Keller.

Der Jude setzte sich auf einen Farbeimer. Ein kleines, farbbespritztes Tuch lag um seine Schultern.»Schneide so viele Löcher hinein, wie du willst«, sagte er zu ihr.

Papa stellte sich auf die Treppe.

Liesel hob die erste fedrige Strähne von Max Vandenburgs Haaren an.

Während sie hineinschnitt, wunderte sie sich über den Klang der Schere. Es war kein Schnappen, sondern das Knirschen des einen Metallarms über den anderen, während beide die Haarfasern durchtrennten.

Als sie fertig war, hier ein bisschen zu kurz, dort ein bisschen schief, ging sie mit dem abgeschnittenen Haar in der Hand nach oben und warf es in den Ofen. Sie zündete ein Streichholz an und schaute zu, wie der Haufen schrumpfte und in sich zusammensank. Orange und rot.

Wieder stand Max im Türrahmen, diesmal auf der obersten Stufe der Kellertreppe.»Danke, Liesel.«Seine Stimme war groß und rau, und in ihr versteckt lag ein Lächeln.

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, verschwand er auch schon wieder unter die Erde.

DIE ZEITUNG: ANFANG MAI

»In meinem Keller ist ein Jude.«

»In meinem Keller. Ist ein Jude.«

Liesel saß auf dem Boden in der Bibliothek des Bürgermeisters und lauschte diesen Worten. Der Sack voller Wäsche stand neben ihr, und die geisterhafte Gestalt der Bürgermeistergattin saß über den Schreibtisch gebeugt. Vor ihren Augen las Liesel Der Pfeifer, und zwar die Seiten zweiundzwanzig und dreiundzwanzig. Sie schaute auf. Sie stellte sich vor, wie sie zu der Frau gehen, sanft ein bisschen von dem fusseligen Haar zur Seite schieben und ihr ins Ohr flüstern würde:

»In meinem Keller ist ein Jude.«

Das Buch in ihrem Schoß zitterte. Das Geheimnis saß in ihrem Mund, machte es sich dort gemütlich. Schlug die Beine übereinander.

»Ich gehe jetzt besser heim.«Diesmal sprach sie laut. Ihre Hände zitterten. Trotz des Schimmers von Sonnenschein in der Ferne trabte eine sanfte Brise durch das offene Fenster und trug Regen wie Sägemehl hinein.

Liesel stellte das Buch zurück, und der Stuhl der Frau ruckte gegen den Fußboden. Die Frau kam zu Liesel. So war es immer am Ende. Der zarte Kreis aus Sorgenfalten bebte einen Moment lang, während sie die Hand ausstreckte und das Buch wieder aus dem Regal holte.

Sie bot es Liesel an.

Liesel schreckte zurück.

»Nein«, sagte sie.»Danke, aber ich habe zu Hause genügend Bücher. Vielleicht ein andermal. Ich lese gerade ein anderes Buch mit Papa, schon zum zweiten Mal. Sie wissen schon, dasjenige, das ich an dem Abend aus dem Feuer gestohlen habe.«

Die Frau des Bürgermeisters nickte. Was immer man Liesel nachsagen mochte, sie stahl nicht unnötig. Sie tat es nur, wenn sie das Gefühl hatte, dass es nötig war. Derzeit hatte sie genug. Sie hatte Die Menschen aus Lehm vier Mal gelesen und genoss die erneute Begegnung mit dem Schulterzucken. Und jede Nacht, bevor sie schlafen ging, öffnete sie die Anleitung zum Gräbergraben. Wohl verwahrt zwischen den Seiten lag Der Überstehmann. Sie formte die Worte stumm mit ihrem Mund und berührte die Vögel. Sie wendete die geräuschvollen Blätter. Langsam.

»Auf Wiedersehen, Frau Hermann.«

Sie verließ die Bibliothek, ging über den Dielenboden des Flurs und durch die monströse Eingangstür hinaus. Wie es ihre Gewohnheit war, stand sie eine Weile auf den Stufen und betrachtete das vor ihr liegende Molching. An diesem Nachmittag war die Stadt von gelbem Dunst bedeckt, der über die Dächer streichelte, als wären sie Haustiere. Der Dunst füllte die Straßen wie eine Badewanne.

Als sie in die Münchener Straße kam, wich die Bücherdiebin den mit Regenschirmen bewaffneten Menschen nach rechts und links aus - ein Mädchen in einer Regenjacke, das schamlos von einem Mülleimer zum nächsten wanderte. Wie ein Uhrwerk.

»Da!«

Sie lachte die kupfernen Wolken an und feierte ihren Fund, ehe sie hineingriff und die zerknitterte Zeitung herausholte. Obwohl die Vorder- und Rückseite mit schwarzen Tränen aus Druckerschwärze beschmiert waren, faltete das Mädchen die Zeitung sorgfältig zusammen und steckte sie sich unter den Arm. So machte sie es seit ein paar Monaten jeden Donnerstag.

Donnerstag war mittlerweile der einzige Tag, an dem Liesel Meminger Wäsche austrug oder abholte, und es verging kaum ein Donnerstag, der ihr nicht den einen oder anderen Nutzen brachte. Sie schaffte es nie, das Gefühl eines Sieges zu unterdrücken, wenn sie eine Ausgabe des Molchinger Abendblatts oder einer anderen Zeitung fand. Eine Zeitung bedeutete einen guten Tag. Wenn es eine Zeitung war, in der das Kreuzworträtsel noch nicht gelöst worden war, war es sogar ein großartiger Tag. Sie kam nach Hause, schloss die Tür hinter sich und brachte die Zeitung zu Max Vandenburg in den Keller.

»Kreuzworträtsel?«, fragte er dann.

»Leer.«

»Ausgezeichnet.«

Der Jude lächelte, nahm den Packen Papier entgegen und fing in dem bescheidenen Licht des Kellers an zu lesen. Oft beobachtete Liesel ihn dabei, wie er sich auf das Lesen konzentrierte, das Kreuzworträtsel löste und dann die Zeitung erneut durchlas, von vorne bis hinten.

Als es wärmer wurde, blieb Max die ganze Zeit im Keller. Tagsüber ließ man die Kellertür offen, um ein kleines Rinnsal aus Tageslicht aus dem Flur nach unten zu lassen. Der Flur selbst war nicht gerade lichtdurchflutet, aber in bestimmten Situationen nimmt man, was man kriegen kann. Gedämpftes Licht war besser als gar keines, und es war nötig, sparsam zu sein. Das Kerosin war zwar noch nicht so weit zur Neige gegangen, dass Grund zur Besorgnis bestanden hätte, aber es war besser, es nur dann herzunehmen, wenn es unbedingt nötig war.

Gewöhnlich setzte sich Liesel auf ein paar Lumpen. Sie las, während Max sich über das Kreuzworträtsel beugte. Sie hatten ein paar Meter zwischen sich, redeten sehr selten, sodass oft einzig das Geräusch der Seiten zu hören war, die umgeblättert wurden. Oft ließ sie Max ihre Bücher da, während sie in der Schule war. Hans Hubermann und Erik Vandenburg hatte die Musik verbunden; Max und Liesel wurden zusammengeschweißt durch das stille Ansammeln von Wörtern.

»Hallo, Max.«

»Hallo, Liesel.«

Und dann saßen sie da und lasen.

Manchmal beobachtete sie ihn. Sie dachte sich, dass er am besten als ein Bild bleicher Konzentration zu beschreiben sei. Beigefarbene Haut. Ein Sumpf in jedem Auge. Und er atmete wie ein Flüchtling. Verzweifelt und doch lautlos. Es war nur seine Brust, die verriet, dass er am Leben war.

Immer öfter bat Liesel Max, die Wörter abzufragen, die sie immer noch falsch schrieb. Sie schloss die Augen und fluchte jedes Mal, wenn ihr wieder ein Fehler beim Buchstabieren unterlief. Dann stand sie auf und malte die Wörter an die Wand, irgendwohin, manchmal ein Dutzend Mal. Gemeinsam atmeten Max Vandenburg und Liesel Meminger den Duft von Lösungsmittel und Zement ein.

»Auf Wiedersehen, Max.«

»Auf Wiedersehen, Liesel.«

Im Bett lag sie dann wach und stellte sich ihn unten im Keller vor. In diesen Visionen schlief er stets vollständig bekleidet, einschließlich der Schuhe, für den Fall, dass er fliehen musste. Er schlief. Ein Auge war geschlossen. Das andere wachsam.

WETTERBERICHT: MITTE MAI

Liesel öffnete gleichzeitig die Tür und ihren Mund.

Auf der Himmelstraße hatte ihre Mannschaft die von Rudi vernichtend mit 6: 1 geschlagen. Triumphierend stürzte sie in die Küche und erzählte Mama und Papa von dem Tor, das sie geschossen hatte. Dann sauste sie weiter in den Keller, um dort die ganze Geschichte noch einmal vorzutragen, Wort für Wort. Max legte die Zeitung zur Seite und lauschte und lachte mit dem Mädchen.

Als Liesel geendet hatte, herrschte einige Minuten lang Stille. Dann schaute Max langsam auf.»Würdest du mir einen Gefallen tun, Liesel?«

Immer noch erregt von dem Tor, sprang das Mädchen auf. Sie musste nichts sagen; ihre Körpersprache versicherte ihm wortlos, dass sie alles tun würde, was er verlangte.

»Du hast mir alles über das Tor erzählt«, sagte er,»aber ich weiß nicht, was für ein Tag da oben ist. Ich weiß nicht, ob du in der Sonne getroffen hast oder ob die Wolken alles verdeckt haben.«Seine Hand schob und zog an seinem kurz geschorenen Haar, und seine sumpfigen Augen baten um das Einfachste aller einfachen Dinge.»Würdest du hinaufgehen und mir dann sagen, wie das Wetter ist?«

Selbstverständlich eilte Liesel die Stufen hinauf. Sie stand ein paar Meter von der mit Spucke befleckten Tür entfernt, schaute in den Himmel und drehte sich dabei um die eigene Achse.

Dann kehrte sie in den Keller zurück und erzählte ihm alles.

»Der Himmel ist heute blau, Max, und da oben hängt eine große, lang gezogene Wolke, die aussieht wie ein Seil. Am Ende hängt die Sonne wie ein gelbes Loch...«

Max war sich darüber im Klaren, dass nur ein Kind ihm einen solchen Wetterbericht geben konnte. An die Wand malte er ein langes, fest geknüpftes Seil mit einer daran herabhängenden Sonne, in die man gerne hineingesprungen wäre. Auf das Wolkenseil malte er zwei Gestalten -ein dünnes Mädchen und einen ausgemergelten Juden -, die mit weit ausgebreiteten Armen darauf balancierten und auf die purzelnde Sonne zugingen. Unter das Bild schrieb er einen Satz.



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