Auf die Anordnung des Starters hin begab er sich in eine kauernde Position - und die Pistole schoss ein Loch in die Nacht. 


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Auf die Anordnung des Starters hin begab er sich in eine kauernde Position - und die Pistole schoss ein Loch in die Nacht.



Im ersten Drittel des Rennens lagen alle gleichauf, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sich der kohlschwarze Owens löste und den anderen davonlief.

»Owens ist vorn«, schrie die schrille Stimme des Jungen, während er über die leere Aschenbahn lief, direkt auf den tosenden Applaus und den olympischen Ruhm zu. Er konnte sogar das Band fühlen, das von seiner Brust entzweigesprengt wurde, als er - der Sieger - ins Ziel lief. Der schnellste Mann der Welt.

Erst bei der Ehrenrunde wendete sich das Blatt. Inmitten der Menge stand sein Vater, genau auf der Ziellinie, wie der Leibhaftige. Na ja, wie der Leibhaftige in einem Anzug. (Wie bereits erwähnt, war Rudis Vater Schneider. Er ging meist in Anzug und Krawatte auf die Straße. In dieser Nacht trug er nur einen Anzug und ein zerknautschtes Hemd. Die Krawatte fehlte.)

»Was ist hier los?«, fragte er seinen Sohn, als der in seiner ganzen verkohlten Pracht die Ziellinie erreichte.»Was zum Teufel geht hier vor?«Die Menge verschwand. Eine Brise erhob sich.»Ich war in meinem Sessel eingeschlafen, als Kurt bemerkte, dass du nicht mehr da warst. Alle suchen nach dir.«

Herr Steiner war unter normalen Umständen ein ausgesprochen höflicher Mann. Der Anblick eines seiner Kinder, das sich in einer Sommernacht mit Kohle vollgeschmiert hatte, war kein normaler Umstand.»Der Junge ist verrückt«, murmelte er, obwohl er nicht umhinkam zuzugeben, dass man bei wenigstens einem von sechs Kindern mit so etwas rechnen musste. Es lag durchaus im Rahmen der Wahrscheinlichkeit, dass eines davon ein faules Ei war. Er schaute dieses Ei an und wartete auf eine Erklärung.»Nun?«

Rudi keuchte, beugte sich nach vorn und legte die Hände auf die Knie.»Ich war Jesse Owens.«Er gab diese Antwort, als ob dies die normalste Sache der Welt wäre. In seiner Stimme lag sogar ein tadelnder Unterton, der zu sagen schien:»Das sieht man doch wohl, oder?«Der Ton verschwand allerdings, als er die Ringe unter den Augen seines Vaters eingraviert sah.

»Jesse Owens?«Herr Steiner war ein recht hölzerner Mann. Seine Stimme war kantig und verbindlich. Sein Körper war groß und schwer, wie Eiche. Seine Haare waren wie Splitter.»Was soll mit ihm sein?«

»Du weißt doch, Papa, der mit dem schwarzen Wunder.«

»Ich geb dir gleich schwarzes Wunder!«Er packte das Ohr seines Sohns zwischen Daumen und Zeigefinger.

Rudi wand sich.»Au, das tut weh!«

»Ach ja?«Sein Vater war mehr mit dem schmierigen Belag aus Kohle und Schweiß beschäftigt, den er an seinen Fingern spürte. Gründlich ist er, dachte er. Das Zeug ist sogar in seinen Ohren, verdammt nochmal.»Komm jetzt.«

Auf dem Heimweg beschloss Herr Steiner, mit seinem Sohn über Politik zu reden, so gut er es eben vermochte. Erst mit den Jahren würde Rudi alles verstehen. Aber da war es für das Begreifen schon zu spät.

DIE WIDERSPRÜCHLICHE HALTUNG VON ALEX STEINER

Er war Mitglied der nationalsozialistischen Partei, aber er hasste keine Juden oder sonst irgendjemanden.

2. Insgeheim konnte er sich allerdings nicht einer gewissen Erleichterung (oder schlimmer noch: Freude) erwehren, als die jüdischen Ladenbesitzer aus der Stadt gejagt wurden - die Propaganda hatte ihn davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis jüdische Schneider das Land überschwemmten und ihm seine Kunden stahlen.

Aber musste man sie deshalb gleich ganz vertreiben?

4. Seine Familie. Natürlich war es seine Pflicht, alles zu tun, um sie zu beschützen und zu unterstützen. Wenn er dazu in der Partei sein musste, dann war es eben so.

5. Irgendwo, tief in ihm drin, gab es eine kleine Stelle in seinem Gewissen, die juckte, aber er vermied es zu kratzen. Er hatte Angst vor dem, was darunter zum Vorschein kommen würde.

Sie gingen um ein paar Ecken in Richtung Himmelstraße, und Alex Steiner sagte:»Mein Sohn, du kannst nicht schwarz angemalt herumlaufen, hast du verstanden?«

Rudi wurde hellhörig. Der Mond hatte sich befreit und konnte nun ungehindert weiterziehen, konnte sich erheben und niedergehen und das Gesicht des Jungen bescheinen, machte ihn mit seinem Licht hübsch und unergründlich, wie seine Gedanken.»Warum nicht, Papa?«

»Weil sie dich dann holen kommen.«

»Warum?«

»Weil du keine Schwarzen oder Juden bewundern darfst, und auch niemand anderen, der nicht so ist wie wir.«

»Wer ist denn Jude?«

»Du kennst doch meinen ältesten Kunden, Herrn Kaufmann. Bei dem wir deine Schuhe gekauft haben.«

»Ja.«

»Nun, er ist Jude.«

»Das wusste ich nicht. Muss man dafür bezahlen, wenn man Jude sein will? Braucht man eine Genehmigung?«

»Nein, Rudi.«Herr Steiner steuerte das Fahrrad mit der einen Hand und Rudi mit der anderen. Mit der Richtung, die das Gespräch nahm, hatte er mehr Probleme als mit Rad und Sohn zusammen. Er hielt Rudi immer noch am Ohrläppchen fest. Er war mit den Gedanken woanders.»Das ist so, wie wenn man Deutscher ist. Oder Katholik.«

»Oh. Ist Jesse Owens katholisch?«

»Ich weiß nicht.«Er stolperte über ein Pedal und ließ das Ohr los.

Eine Zeit lang gingen sie schweigend nebeneinanderher, bis Rudi sagte:»Ich wünschte, ich wäre wie Jesse Owens, Papa.«

Diesmal legte Herr Steiner seine Hand auf Rudis Kopf und erklärte ihm:»Ich weiß, mein Sohn - aber du hast wunderschöne blonde Haare und große, beruhigend blaue Augen. Darüber solltest du froh sein, ist das klar?«

Aber nichts war klar.

Rudi verstand rein gar nichts, und diese Nacht war nur das Vorspiel dessen, was bald folgen sollte. Zweieinhalb Jahre später war von Herrn Kaufmanns Schuhgeschäft lediglich zerbrochenes Glas übrig, nachdem auch die Schuhe, noch in ihren Kartons, auf einen Lastwagen geworfen worden waren.

DIE RÜCKSEITE VON SANDPAPIER

Menschen haben Schlüsselerlebnisse, nehme ich an, besonders wenn sie noch jung sind. Für die einen ist es eine Jesse-Owens-Sache, für die anderen ein bettnässender Albtraum:

Ende Mai 1939. Der Abend war wie die meisten anderen verlaufen. Mama hatte ihre Eisenfaust geschüttelt. Papa war ausgegangen. Liesel wischte die Haustür sauber und betrachtete den Himmel über der Himmelstraße.

Früher am Abend hatte eine Parade stattgefunden.

Eine Gruppe aus dem harten Kern der NSDAP - der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei -, in ihre braunen Hemden gewandet, war die Münchener Straße entlangmarschiert. Ihre Banner hatten stolz geweht, und ihre Gesichter waren erhoben gewesen, als steckten sie auf Stöcken. Auf ihren Stimmen hatten Lieder gesessen und hatten sich schließlich zu einem brüllenden Choral vereinigt:»Deutschland, Deutschland über alles.«

Wie üblich wurden sie beklatscht.

Man feuerte sie an auf ihrem Weg Gott weiß wohin.

Die Leute standen am Straßenrand und schauten zu, manche mit zum Hitlergruß steif ausgestrecktem Arm, andere mit vom Applaus brennenden Handflächen. Einige trugen Mienen, die vor Stolz und Führerliebe verzerrt waren, wie Frau Lindner, und dann gab es vereinzelt jene anderen wie Alex Steiner, die wie ein menschlich geformter Holzklotz dastanden und bedächtig und pflichtbewusst klatschten. Voller Schönheit. Die Unterwerfung.

Auf dem Bürgersteig standen Liesel, ihr Papa und Rudi. Hans Hubermann hatte ein Gesicht aufgelegt, in dem alle Vorhänge zugezogen waren.

EIN PAAR WILLKÜRLICHE ZAHLEN

1933 war die Mehrheit der Deutschen für Adolf Hitler. Eine Minderheit war gegen ihn. Hans Hubermann gehörte zu dieser Minderheit. Und dafür gab es einen Grund.

In der Nacht träumte Liesel, wie immer. Zunächst sah sie die Braunhemden marschieren, aber schon bald führten sie Liesel zu einem Zug, wo die übliche Erkenntnis auf sie wartete. Ihr Bruder mit dem starren Blick.

Als sie schreiend aufwachte, wusste Liesel sofort, dass etwas anders war. Ein Geruch schlich sich unter der Decke hervor, warm und widerlich. Zunächst versuchte sie, sich einzureden, dass nichts passiert wäre, aber als Papa näher kam und sie in den Arm nahm, flüsterte sie ihm ein Geständnis ins Ohr.

»Papa«, flüsterte sie,»Papa.«Das war alles. Er konnte es ohnehin riechen.

Sanft hob er sie vom Bett und trug sie ins Badezimmer. Das Schlüsselerlebnis folgte ein paar Minuten später.

»Wir ziehen das Bett ab«, sagte Papa, und als er unter die Matratze griff, um das Laken herauszuziehen, löste sich etwas, wurde mit dem Laken hervorgeschleudert und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden. Ein schwarzes Buch mit silberner Schrift lag jetzt zwischen den Füßen des großen Mannes.

Er schaute darauf hinab.

Er schaute das Mädchen an, das schüchtern mit den Schultern zuckte.

Dann las er den Titel laut vor, mit äußerster Konzentration:»Handbuch für Totengräber«.

So heißt es also, dachte Liesel.

Ein Flecken Stille lag zwischen ihnen dreien. Dem Mann, dem Mädchen und dem Buch. Er hob es auf und sagte, so weich wie Watte:

EIN GESPRÄCH UM ZWEI UHR MORGENS

»Ist das deins?«»Ja, Papa.«»Willst du es lesen?«Wieder:»Ja, Papa.«Ein müdes Lächeln. Metallische Augen, schmelzend.»Na, dann lesen wir es wohl besser.«

Vier Jahre später, als sie im Keller anfing zu schreiben, wurden Liesel zwei Dinge über das Trauma jenes Bettnässens klar. Zum einen war sie überglücklich, dass es Papa war, der das Buch gefunden hatte. (Glücklicherweise hatte Rosa immer Liesel das Bett abziehen lassen, wenn die Bettwäsche gewaschen werden musste.»Und zwar schnell, Saumensch! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«) Zweitens war sie uneingeschränkt stolz auf die Ausbildung, die sie durch Hans Hubermann erfuhr. Man kann es kaum glauben, schrieb sie, aber in der Schule habt ich das Lesen nicht gelernt. Papa hat es mir beigebracht. Die Leute denken, dass er nicht besonders klug ist, und es stimmt, dass er nicht besonders schnell lesen kann, aber ich sollte bald erfahren, dass Worte und das Schreiben ihm einmal das Leben gerettet haben. Oder besser gesagt: Worte - und ein Mann, der ihm das Akkordeonspielen beibrachte...

»Eins nach dem anderen«, sagte Hans Hubermann in jener Nacht. Er wusch das Laken und den Bettbezug und hängte beides zum Trocknen auf.»Also«, sagte er, als er wiederkam,»dann lass uns mit der Mitternachtsklasse beginnen.«

Das gelbe Licht war mit staubigem Leben erfüllt.

Liesel saß auf ihrem kalten, sauberen Laken, beschämt und freudig erregt. Der Gedanke, dass sie ins Bett gemacht hatte, nagte an ihr, aber sie würde lesen lernen. Sie würde das Buch lesen.



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