Aber jedes Mal war es nur ein kurzes Aufflackern. 


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Aber jedes Mal war es nur ein kurzes Aufflackern.



Was die Sache nur noch schlimmer machte.

Er wollte hinausgehen - mein Gott, er wollte es so sehr (zumindest wollte er es wollen) -, aber er wusste, er würde es nicht tun. Es war ganz ähnlich wie damals in Stuttgart, als er seine Familie verließ, unter dem Schleier der augenscheinlichen Loyalität.

Um zu leben. Leben war Leben.

Der Preis dafür waren Schuld und Scham.

Während der ersten Tage, die Max im Keller verbrachte, hatte Liesel nichts mit ihm zu tun. Sie verleugnete seine Existenz. Sein raschelndes Haar, seine kalten, glitschigen Finger.

Sein gequältes Äußeres. Mama und Papa.

Zwischen ihnen standen eine kaum zu ertragende Schwere und jede Menge nicht getroffener Entscheidungen.

Sie überlegten, ob sie ihn irgendwo anders hinbringen konnten.

»Aber wohin?«

Keine Antwort.

In dieser Situation waren sie freundlos und gelähmt. Max Vandenburg konnte sonst nirgends hin. Es war an ihnen. Hans und Rosa Hubermann. Liesel hatte nie erlebt, dass sie einander so viel ansahen, noch dazu mit derart feierlichen Blicken.

Sie waren es, die das Essen in den Keller brachten und dafür sorgten, dass Max einen leeren Farbeimer als Toilette benutzte. Den Inhalt des Eimers entsorgte Hans Hubermann so vorsichtig wie möglich. Rosa brachte Max auch ein paar Eimer mit heißem Wasser, damit er sich waschen konnte. Der Jude war schmutzig.

Jedes Mal, wenn Liesel das Haus verließ, erwartete sie draußen vor der Haustür ein Berg aus kalter Novemberluft.

Nieselregen kam spatenweise aus dem Himmel.

Totes Laub war auf der Erde zusammengesunken.

Schon bald war die Bücherdiebin an der Reihe, den Keller aufzusuchen. Sie mussten sie fast dazu zwingen.

Behutsam ging sie die Stufen hinab. Sie wusste, dass keine Worte nötig waren. Das Schaben ihrer Füße reichte aus, um ihn aufzuschrecken.

In der Mitte des Kellers blieb sie stehen und wartete. Sie fühlte sich, als würde sie mitten auf einem weiten, dunklen Feld stehen. Hinter der Garbe aus geernteten Lumpen ging die Sonne unter.

Max kam heraus, Mein Kampf'in der Hand. Bei seiner Ankunft hatte er Hans angeboten, ihm das Buch zurückzugeben, aber der sagte ihm, er könne es behalten.

Natürlich konnte Liesel, die mit dem Essen zu ihm gekommen war, die Augen nicht von dem Buch lassen. Es war dasjenige, das sie schon ein paar Mal beim JM gesehen hatte, aber bislang war es während der Aktivitäten dort noch nie benutzt oder hinzugezogen worden. Von Zeit zu Zeit wurde seine Großartigkeit gerühmt, einhergehend mit dem Versprechen, dass in späteren Jahren noch die Gelegenheit bestünde, es ausgiebig zu studieren, wenn sie in den höheren Bund Deutscher Mädel aufgestiegen wären.

Max, der ihrem Blick folgte, betrachtete ebenfalls das Buch.

»Ist es?«, flüsterte sie.

In ihrer Stimme lag eine merkwürdige Strähne, abgezogen und zusammengerollt in ihrem Mund.

Der Jude schob lediglich seinen Kopf ein wenig näher an sie heran.»Wie bitte?«

Sie reichte ihm die Erbsensuppe und ging wieder hinauf, mit Röte auf den Wangen und Hitze im Gesicht und dem Gefühl, einen Narren aus sich gemacht zu haben.

»Ist es ein gutes Buch?«

Sie übte im Badezimmer, was sie hatte sagen wollen, sprach die Worte in den kleinen Spiegel hinein. Der Geruch von Urin hing immer noch an ihr, weil Max, kurz bevor sie nach unten gekommen war, den Farbeimer benutzt hatte. So ein Gestank, dachte sie.

Kein Urin riecht so gut wie der eigene.

Die Tage humpelten dahin.

Jeden Abend, bevor sie in den Schlaf sank, hörte sie Mama und Papa in der Küche darüber reden, was getan worden war, was sie gerade taten und was sie als Nächstes zu tun gedachten. Die ganze Zeit über stand das Bild von Max vor ihrem geistigen Auge. Es waren immer die verletzte, dankbare Miene und die sumpfigen Augen.

Nur ein Mal kam es in der Küche zu einem Ausbruch.

Papa.

»Ich weiß!«

Seine Stimme war barsch, aber er zügelte sie rasch zu einem gedämpften Flüstern.

»Ich muss weiter hingehen, wenigstens ein paar Mal in der Woche. Ich kann nicht die ganze Zeit hier sein. Wir brauchen das Geld, und wenn ich aufhöre zu spielen, werden sie misstrauisch. Möglicherweise wundern sie sich, warum ich nicht mehr komme. Letzte Woche habe ich gesagt, du wärst krank, aber jetzt müssen wir wieder so weitermachen wie bisher.«

Dort lag das Problem.

Ihr Leben hatte sich grundlegend verändert, aber es war unabdingbar, dass sie taten, als wäre gar nichts geschehen.

Stellt euch vor, ihr würdet lächeln, nachdem euch jemand ins Gesicht geschlagen hat. Dann stellt euch vor, ihr müsstet das den ganzen Tag lang tun, vierundzwanzig Stunden lang, Tag für Tag.

So war es, wenn man einen Juden versteckte.

Die Tage verwandelten sich in Wochen, und es herrschte inzwischen eine niedergedrückte Akzeptanz dessen, was passiert war - das Ergebnis einer Addition aus Krieg, einem Mann, der sein Versprechen hielt, und einem Akkordeon. Zudem hatten die Hubermanns im Verlauf eines halben Jahres einen Sohn verloren und dafür einen Ersatz bekommen, der sie in eine unermesslich bedrohliche Lage gebracht hatte.

Was Liesel am meisten erschreckte, war die Wandlung, die mit Mama vonstatten ging. Ob es die berechnende Art war, wie sie das Essen aufteilte, ihr einigermaßen gemäßigtes Mundwerk oder die Sanftheit, die sich auf ihrem Pappegesicht breitmachte - eines war klar:

EINE EIGENSCHAFT VON ROSA HUBERMANN

Sie war eine Frau, die einer Krise gewachsen war.

Selbst als die arthritische Helena Schmidt den Auftrag für das Waschen und Bügeln stornierte, etwa einen Monat nach Max' Auftauchen in der Himmelstraße, setzte sie sich einfach an den Tisch und zog den Teller zu sich.»Die Suppe ist gut heute Abend.«

Die Suppe war schrecklich.

Jeden Morgen, wenn sich Liesel auf den Schulweg machte, oder an den Tagen, an denen sie zum Fußballspielen hinausging oder die spärlich gewordenen Wäschekunden abklapperte, nahm Rosa sie beiseite.»Und denk dran, Liesel...«Sie legte den Finger an den Mund, mehr nicht. Wenn Liesel nickte, sagte sie:»Gutes Mädchen. Und jetzt ab mit dir, Saumensch.«

Sie machte Papa und jetzt auch Mama Ehre: Sie war ein gutes Mädchen. Sie hielt den Mund, wohin sie auch ging. Das Geheimnis lag tief in ihr vergraben.

Sie ging mit Rudi durch die Stadt wie immer und hörte sich sein Geplapper an. Manchmal verglichen sie Erlebnisse aus ihren jeweiligen Hitlerjugend-Einheiten. Rudi erwähnte zum ersten Mal einen sadistischen Anführer namens Franz Deutscher. Von da an sprach er oft über Deutschers Gemeinheiten; ansonsten redete er fast nur noch über Fußball und erging sich in endlosen Beschreibungen des jüngsten Tors, das er im Stadion in der Himmelstraße geschossen hatte.

»Ich weiß«, versicherte ihm Liesel dann.»Ich war dabei.«»Na und?«

»Ich hab's gesehen, Saukerl.«

»Woher soll ich das wissen? Du hättest genauso gut auf dem Boden liegen und den Dreck schlucken können, den ich gerade aufgewirbelt hatte, als ich das Tor schoss.«

Vielleicht war es Rudi mit seinem dummen Gerede, seinem zitronensaftigen Haar und seiner Unverschämtheit, der sie am Boden hielt, der ihr half, nicht durchzudrehen.

Er strahlte eine Art von Urvertrauen aus, dass das Leben nur ein Spaß war - eine endlose Abfolge von Fußballspielen, Schwindeleien und einem unerschöpflichen Repertoire an sinnlosem Geschnatter.

Und da war auch noch die Frau des Bürgermeisters und die Zeiten, in denen Liesel in der Bibliothek saß und las. Es war jetzt kalt dort, wurde bei jedem Besuch kälter, und doch konnte Liesel nicht fernbleiben. Sie suchte sich jedes Mal eine Handvoll Bücher aus und las in jedem kurze Abschnitte, bis sie eines Nachmittags ein Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Es hieß Der Pfeifer.

Sie fühlte sich gleich von dem Buch angezogen, weil es sie an die gelegentlichen Begegnungen mit Pfiffikus in der Himmelstraße erinnerte. Sie hatte sein Bild im Kopf, wie er in seinem Mantel gebückt durch die Straße ging und wie er ihr beim Freudenfeuer an Hitlers Geburtstag erschienen war.

Das erste Ereignis in dem Buch war ein Mord. Jemand wurde erstochen. In einer Straße in Wien. Nicht weit vom Stephansdom entfernt.



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