Visionen in einem Keller, Juni 1941 


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Visionen in einem Keller, Juni 1941



Schläge werden ausgeteilt, die Menge tritt aus den Wänden hervor. Max und der Führer kämpfen auf Leben und Tod. Beide prallen gegen die Treppe und taumeln vorwärts. Im Schnurrbart des Führers klebt Blut, genauso wie auf seinem Scheitel, auf der rechten Seite seines Kopfes.»Kommen Sie, Führer«, sagt der Jude. Er winkt ihn näher.»Kommen Sie, Führer.«

Das Bild löste sich auf, und Liesels erste weiße Seite war fertig. Papa zwinkerte ihr zu. Mama tadelte sie, weil sie die Farbe so lange mit Beschlag belegt hatte. Max begutachtete jede einzelne Seite; möglicherweise sah er schon vor sich, was dereinst auf diesen Seiten erscheinen würde. Viele Monate später würde er auch den Einband des Buchs übermalen und ihm einen neuen Titel geben, nach einer der Geschichten, die er bis dahin tief im Innern geschrieben und illustriert haben würde.

An diesem Nachmittag, im geheimen Untergrund der Himmelstraße 33, bereiteten die Hubermanns, Liesel Meminger und Max Vandenburg die Seiten für Die Worteschüttlerin vor.

Es war ein gutes Gefühl, ein Anstreicher zu sein.

DIE KRAFTPROBE: 24. JUNI 1941

Dann kam die siebte Seite des Würfels. Zwei Tage nachdem Deutschland in Russland einmarschiert war. Drei Tage bevor die Briten und die Sowjets ein Abkommen schlossen.

Sieben.

Du würfelst und siehst es kommen, weißt genau, dass dies kein normaler Würfel ist. Du nennst es Pech, aber du wusstest schon die ganze Zeit, dass es so kommen würde. Du schlepptest es ja selbst ein. Der Tisch konnte es schon in deinem Atem riechen. Der Jude lugte von Anfang an aus deiner Tasche. Er ist dir ans Revers geheftet, und in dem Moment, in dem du würfelst, weißt du, dass du eine Sieben wirfst - der einzige Wurf, der dich treffen kann. Der Würfel fällt. Er starrt dir in beide Augen, wundersam und verhasst, und du wendest dich ab, während es in deiner Brust nagt.

Das war Pech.

Das behauptest du.

Ohne Bedeutung.

Das redest du dir selbst ein - denn tief im Innern weißt du, dass dieses kleine Wechselspiel des Glücks mit dem Finger auf die Ereignisse zeigt, die noch kommen werden. Du versteckst einen Juden. Du wirst dafür bezahlen. Auf die eine oder andere Art.

Rückblickend sagte sich Liesel, dass es keine große Sache war. Vielleicht lag der Grund für diese Ansicht darin, dass bis zu der Zeit, als sie im Keller ihre Geschichte schrieb, bereits so vieles passiert war. Mit dem Gesamtbild vor Augen empfand sie die Tatsache, dass Rosa vom Bürgermeister und seiner Frau entlassen wurde, überhaupt nicht als Unglück. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie in ihrem Keller einen Juden versteckten. Es hatte mit dem allumfassenden Wesen des Krieges zu tun. Zum damaligen Zeitpunkt jedoch kam es über sie wie eine Strafe.

Eigentlich fing es schon eine Woche vor dem 24. Juni an. Liesel stöberte wie immer nach einer Zeitung für Max. Sie fand eine in einem Abfalleimer an der Ecke zur Münchener Straße, griff hinein und steckte sich die Zeitung unter den Arm. Nachdem sie ihre Beute zu Max gebracht und er sie das erste Mal gelesen hatte, warf er ihr einen Blick zu und deutete auf das Bild auf der Titelseite.»Ist das nicht der Mann, dem du immer die Wäsche bringst?«

Liesel, die vor der Wand gestanden hatte, trat zu ihm. Sie hatte gerade sechs Mal das Wort»Argument«geschrieben, direkt neben das Bild des Wolkenseils und der baumelnden Sonne, das Max gemalt hatte. Max reichte ihr die Zeitung, und sie nickte.»Das ist er.«

Sie las den Artikel. Heinz Hermann, der Bürgermeister, wurde zitiert. Er war der Meinung, dass, obwohl der Krieg ganz nach Wunsch verlaufe, die Einwohner von Molching, wie alle verantwortungsbewussten Deutschen, entsprechende Maßnahmen ergreifen und sich auf eventuell bevorstehende härtere Zeiten einstellen sollten.»Man weiß nie«, erklärte er,»was unsere Feinde im Sinn haben oder wie sie versuchen werden, uns zu schwächen.«

Eine Woche später trugen die Worte des Bürgermeisters bittere Früchte. Liesel tauchte wie immer in der Großen Straße auf und las auf dem Boden der Bibliothek im Pfeifer. Die Gattin des Bürgermeisters verhielt sich nicht ungewöhnlich - oder besser gesagt: nicht ungewöhnlicher als sonst -, bis es Zeit für Liesel war zu gehen.

Als sie diesmal Liesel das Buch anbot, bestand sie darauf, dass das Mädchen es nahm.»Bitte.«Sie flehte fast. Das Buch war von einer festen, bestimmten Faust umklammert.»Nimm es. Bitte. Nimm es.«

Liesel, merkwürdig berührt von dem seltsamen Verhalten der Frau, ertrug es nicht länger, sie zu enttäuschen. Das grau gebundene Buch mit den vergilbenden Seiten fand seinen Weg in ihre Hand, und sie machte ein paar Schritte den Flur hinab. Als sie nach der Wäsche fragen wollte, schenkte ihr die Frau des Bürgermeisters einen abschließenden Blick voll morgenbemäntelter Trauer. Sie griff in eine Schublade und zog einen Umschlag heraus. Ihre Stimme, klebrig aus Mangel an Übung, hustete die Worte hervor:»Es tut mir leid. Das ist für deine Mama.«

Liesel hörte auf zu atmen.

Sie war sich plötzlich bewusst, wie leer sich ihre Füße in ihren Schuhen fühlten. Irgendetwas verhöhnte ihre Kehle. Sie zitterte. Dann streckte sie die Hand aus und nahm den Brief. Im selben Moment hörte sie die Uhr in der Bibliothek. Ihr wurde klar, dass Uhren gar nicht tickten, nein, nicht einmal entfernt ähnelte ihr Klang einem Tick-Tack, Tick-Tack. Es war vielmehr der Schlag eines Hammers, der gleichmäßig auf die Erde einhieb. Es war der Klang des Grabes. Wenn doch nur meines schon ausgehoben wäre, dachte sie - denn in diesem Augenblick wünschte sich Liesel Meminger zu sterben. Als die anderen Kunden Mama entlassen hatten, hatte es nicht so wehgetan. Es hatte ja immer noch den Bürgermeister gegeben, seine Bibliothek und ihre Verbindung mit der Frau. Doch jetzt war auch die letzte Hoffnung weg. Diesmal fühlte sie sich abgrundtief betrogen.

Wie sollte sie ihrer Mama unter die Augen treten?

Die spärlichen Münzen hatten Rosa stets auf die eine oder andere Art und Weise geholfen. Eine zusätzliche Handvoll Mehl. Ein Stück Fett.

Ilsa Hermann starb ebenfalls tausend Tode - weil sie Liesel endlich loswerden wollte. Das Mädchen sah es in der Art, wie sie den Morgenmantel ein wenig enger um den Körper raffte.

Die Schwerfälligkeit ihrer Trauer hing immer noch in ihrem Dunstkreis, aber es war klar, dass sie die Sache hinter sich bringen wollte.»Sag deiner Mama«, sprach sie wieder - ihre Stimme renkte sich nun ein, während die Worte sich zu einem Satz vereinigten,»dass es uns leidtut.«Sie trieb das Mädchen in Richtung Tür.

Liesel fühlte es zwischen den Schulterblättern. Den Schmerz, den Aufprall der endgültigen Abweisung.

Das war's?, fragte sie sich im Stillen. Sie werfen mich einfach raus?

Langsam hob sie den leeren Sack hoch und schob sich zur Tür. Als sie draußen war, drehte sie sich um und schaute der Frau des Bürgermeisters einige Sekunden lang ins Gesicht. Sie schaute ihr mit einem beinahe wilden Stolz direkt in die Augen und sagte:»Danke schön.«Ilsa Hermann lächelte nutzlos, geschlagen.

»Wenn du herkommen willst, um zu lesen«, log die Frau (jedenfalls empfand es das Mädcher in seinem schockierten, trauernden Zustand als Lüge),»dann bist du herzlich willkommen.«

In diesem Augenblick war Liesel erstaunt über die Breite der Tür. Da war so viel Platz. Warum brauchten Leute so viel Platz, nur um durch eine Tür zu gehen? Wenn Rudi hier gewesen wäre, hätte er sie ausgelacht - wie sollten sie sonst ihr ganzes Zeug ins Haus bringen?

»Auf Wiedersehen«, sagte das Mädchen. Langsam und voller Trübsinn schloss sich die Tür.

Liesel ging nicht weg.

Lange saß sie auf den Stufen und schaute auf Molching hinab. Es war weder warm noch kalt, und der Blick auf die Stadt war klar. Es war still. Molching lag wie unter einer Glasglocke.

Sie öffnete den Brief. Der Bürgermeister Heinz Hermann erklärte ganz genau, warum er die Dienste von Rosa Hubermann nicht mehr in Anspruch nehmen konnte. Er ging dabei diplomatisch vor, erläuterte, dass es Heuchelei wäre, wenn er selbst sich eine derartige kleine Annehmlichkeit leisten würde und andererseits der Bevölkerung riet, sich auf härtere Zeiten einzustellen.

Endlich stand sie auf und trat den Heimweg an. Der Moment der Reaktion kam, als sie das Schild»Steiner - Schneidermeister«in der Münchener Straße sah. Die Traurigkeit fiel von ihr ab, und sie wurde von Wut übermannt.»Dieser verdammte Bürgermeister«, flüsterte sie.»Diese erbärmliche Frau.«Die Tatsache, dass härtere Zeiten im Anmarsch waren, war doch nur noch ein Grund mehr, um Rosa weiter zu beschäftigen. Aber nein, sie mussten sie ja feuern. Na, wenigstens mussten sie jetzt ihre blöde Wäsche selber waschen, wie normale Leute auch, dachte sie. Wie arme Leute.



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