Aber Rudi ging nicht zu seinem Vater. 


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Aber Rudi ging nicht zu seinem Vater.



Er setzte sich an den Küchentisch und nahm die himmelwärts gerichteten Hände seiner Mutter.

Alex und Barbara Steiner verrieten nicht, worüber in der Küche gesprochen wurde, während im Wohnzimmer die Dominosteine fielen wie Leichen. Wenn Rudi bloß noch ein paar Minuten länger an der Tür gelauscht hätte...

In den folgenden Wochen redete er sich ein - oder besser gesagt: er flehte sich selbst an -, dass er, wenn er den Rest des Gesprächs an jenem Abend gehört hätte, viel früher in die Küche gegangen wäre.»Ich werde gehen«, hätte er gesagt.»Bitte, nehmen Sie mich mit. Ich bin bereit.«

Wenn er sich eingemischt hätte, hätte er alles verändern können.

DREI MÖGLICHKEITEN

1. Alex Steiner hätte nicht die gleiche Strafe ereilt wie Hans Hubermann.

2. Rudi hätte Molching verlassen und wäre in eine andere Schule gegangen.

3. Und vielleicht, nur vielleicht, hätte er überlebt.

Aber die Grausamkeit des Schicksals gestattete es Rudi Steiner nicht, im richtigen Moment die Küche zu betreten.

Er hatte sich seinen Schwestern und den Dominosteinen zugewandt. Er setzte sich.

Rudi Steiner ging nirgends hin.

DIE ÜBERLEGUNG, WIE RUDI NACKT AUSSIEHT

Da war eine Frau gewesen.

Sie hatte in der Ecke gestanden.

Sie hatte den dicksten Zopf, den er je gesehen hatte. Er seilte sich über ihren Rücken ab, und gelegentlich, wenn sie ihn über die Schulter nach vorne legte, hing er wie ein überfüttertes Tier zwischen ihren kolossalen Brüsten. Alles an ihr schien überdimensional. Ihre Lippen, ihre Beine. Ihre gepflasterten Zähne. Sie hatte eine große, unverblümte Stimme. Keine Zeit zu verlieren.»Komm«, befahl sie ihm.»Stell dich hier hin.«

Verglichen mit ihr, war der Arzt ein kahl werdendes Nagetier. Er war klein und behände und hastete in dem Büro mit scheinbar besessenen und doch gezielten Bewegungen herum. Und er war erkältet.

Es war schwer zu sagen, welcher der drei Jungen sich am zögerlichsten seiner Kleidung entledigte, als man es ihnen befahl. Der erste schaute von einem zum anderen, von dem ältlichen Lehrer zu der riesenhaften Krankenschwester und dann zu dem zwergenhaften Arzt.

Der in der Mitte blickte lediglich auf seine Füße, und der ganz links dankte allen Heiligen, dass er sich in einem Schulbüro und nicht in einer dunklen Gasse befand. Die Schwester, so fand Rudi, war ein wahrer Kinderschreck.

»Wer ist der Erste?«, wollte sie wissen.

Der beaufsichtigende Lehrer, Herr Heckenstaller, antwortete ihr. Er war mehr ein schwarzer Anzug als ein lebendiger Mann. Sein Gesicht bestand aus einem Schnurrbart. Er warf einen prüfenden Blick auf die Jungen und traf eine schnelle Entscheidung.

»Schwarz.«

Der unglückliche Jürgen Schwarz zog mit sichtlichem Unbehagen die Uniform aus. Seine Schuhe und seine Unterhosen behielt er an. Eine vergebliche Bitte hatte sich auf seinem Gesicht festgehakt.

»Und?«, sagte Herr Heckenstaller.»Die Schuhe?«

Er zog Schuhe und Socken aus.

»Die Unterhose auch«, sagte die Krankenschwester.

Sowohl Rudi als auch der andere Junge, Olaf Spiegel, hatten währenddessen angefangen, sich ebenfalls auszuziehen, aber sie waren noch weit von dem entwürdigenden Zustand entfernt, in dem sich Jürgen Schwarz befand. Der Junge zitterte. Er war ein Jahr jünger als die beiden anderen, aber größer. Als seine Unterhose fiel, stand er nur mit bitterer Scham bekleidet in dem kleinen, kalten Büro. Seine Selbstachtung schlotterte ihm um die Fußgelenke.

Die Krankenschwester betrachtete ihn eingehend. Ihre Arme waren vor ihrem niederschmetternden Busen verschränkt.

Heckenstaller wies die anderen beiden an, sich zu beeilen.

Der Arzt kratzte sich am Kopf und hustete. Seine Erkältung würde ihn noch umbringen.

Die drei nackten Jungen wurden, auf dem kalten Boden stehend, untersucht.

Sie bedeckten ihre Genitalien mit ihren Händen und zitterten wie Luft über heißem Asphalt.

Zwischen Husten und Niesen erteilte ihnen der Arzt Befehle.»Einatmen.«Schnief.»Ausatmen.«Keuch.

»Arme ausstrecken.«Hust.»Ich sagte: Arme ausstrecken.«Ein horrender Hustenschwall.

Wie Menschen nun einmal sind, so suchten auch die Jungen in dem jeweiligen Nachbarn nach irgendeinem Zeichen von Mitgefühl. Aber da war keines. Alle drei lösten ihre Hände von ihren Gliedern und streckten die Arme aus. Rudi hatte nicht das Gefühl, einer Herrenrasse anzugehören.

»Wir sind erfolgreich dabei«, erklärte die Krankenschwester dem Lehrer,»eine neue Zukunft zu erschaffen. Sie besteht aus einer neuen Klasse von physisch und geistig überlegenen Deutschen. Einer Offiziersklasse.«

Unglücklicherweise wurde ihre Predigt durch den Arzt unterbrochen, der sich niederkrümmte und mit Hingabe die von den Jungen abgelegten Kleidungsstücke anhustete. Tränen traten ihm in die Augen, und Rudi wunderte sich.

Eine neue Zukunft? Mit dem da?

Klugerweise behielt er seine Gedanken für sich.

Die Untersuchung war zu Ende, und er vollführte seinen ersten nackten Hitlergruß. Es war verrückt, aber er fühlte sich dabei nicht einmal unwohl.

Ihrer Würde vollständig beraubt, erlaubte man den Jungen, sich wieder anzukleiden. Als man sie aus dem Büro schickte, hörten sie, wie drinnen bereits über sie gesprochen wurde.

»Sie sind ein bisschen älter als gewöhnlich«, sagte der Arzt,»aber ich glaube, zwei von ihnen können wir gebrauchen.«

Die Krankenschwester teilte seine Meinung.»Den Ersten und den Dritten.«

Drei Jungen standen draußen. Erster und Dritter.

»Du warst der Erste, Schwarz«, sagte Rudi. Dann fragte er Olaf Spiegel:»Wer war der Dritte?«

Spiegel dachte nach. Meinten sie den Dritten in der Reihe oder den Dritten, der untersucht wurde? Es spielte keine Rolle. Er wusste, was er glauben wollte.»Bestimmt du.«

»Unsinn, Spiegel, du warst es.«

EINE GARANTIE

Die Mantelmänner wussten, wer der Dritte war.

Am Tag nachdem sie die Himmelstraße aufgesucht hatten, saß Rudi mit Liesel auf den Stufen zu seinem Haus und erzählte ihr die ganze Geschichte, bis ins kleinste Detail. Er gab sein Schweigen auf und erzählte ihr von jenem Tag, als er aus dem Unterricht geholt worden war. Sie teilten sogar ein Lachen über die riesenhafte Krankenschwester und den Ausdruck auf dem Gesicht von Jürgen Schwarz. Aber die meiste Zeit war die Erzählung von Angst geprägt, besonders als Rudi zu der Stelle kam, wo es um das Gespräch in der Küche und die Dominoleichen ging.

Tagelang bekam Liesel einen Gedanken nicht aus dem Kopf.

Es war die Untersuchung der drei Jungen, oder - wenn sie ehrlich war - die von Rudi.

Sie lag im Bett, vermisste Max, fragte sich, wo er war, und betete, dass es ihm gut ging, aber irgendwo, weit darüber, stand Rudi.

Er glühte im Dunkeln, völlig nackt.

In dieser Vision lag ein namenloser Schrecken, der in dem Moment, in dem Rudi gezwungen wurde, seine Hände wegzunehmen, unsagbare Ausmaße annahm. Es war, gelinde gesagt, beunruhigend, aber trotzdem konnte sie nicht aufhören, daran zu denken.

STRAFE

Auf den Marken, die zur Rationierung des Lebens dienten, stand nichts von Strafe, aber jeder in Deutschland kam an die Reihe. Für die einen war es der Tod im Kampf in einem fremden Land. Für die anderen waren es Elend und Schuld, als der Krieg vorbei war, als man überall in Europa die sechs Millionen entdeckte. Viele Menschen sahen wohl mit offenen Augen ihrer Strafe entgegen, aber nur wenige hießen sie willkommen. Ein solcher Mensch war Hans Hubermann.

Man half keinem Juden auf offener Straße. Man versteckte keinen Juden im Keller.

Zunächst fand die Bestrafung in seinem Gewissen statt. Die unnötige Vertreibung von Max Vandenburg plagte ihn. Liesel sah, wie dieses Gefühl während des Abendessens neben seinem Teller saß, den er nicht anrührte, oder neben ihm auf der Brücke über die Amper stand. Er spielte nicht mehr auf dem Akkordeon. Das war schlimm genug, aber es war erst der Anfang.

An einem Mittwoch Anfang November lag die wahre Strafe im Briefkasten. Oberflächlich betrachtet schien es eine gute Nachricht zu sein.

EIN BLATT PAPIER IN DER KÜCHE

Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihr Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP angenommen wurde...

»Die Nazis?«, fragte Rosa.»Ich dachte, die wollen dich nicht.«»So war es auch.«



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