Dann kam der 9. November. Kristallnacht. Die Nacht, in der alles zerbrach. 


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Dann kam der 9. November. Kristallnacht. Die Nacht, in der alles zerbrach.



Es war ein Ereignis, das für viele seiner jüdischen Kameraden Vernichtung bedeutete. Für Max Vandenburg allerdings bot sich die Gelegenheit zur Flucht. Er war zweiundzwanzig.

Viele jüdische Einrichtungen wurden systematisch zerstört und geplündert. An der Tür zu der Wohnung, in der Max und seine Familie lebten, klopfte es. Gemeinsam mit seiner Tante, seiner Mutter, den Vettern und Kusinen und ihren Kindern war Max im Wohnzimmer zusammengepfercht.

»Aufmachen!«

Die Familie betrachtete einander. Die Verlockung, sich in andere Räume zu flüchten, war groß, aber die Sorge ist eine merkwürdige Sache. Sie macht bewegungslos.

Wieder:»Aufmachen!«

Isaak stand auf und ging zur Tür. Das Holz schien lebendig zu sein, vibrierte immer noch von den Schlägen, die es gerade empfangen hatte. Er schaute zurück in Gesichter, die nackt vor Angst waren, drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete.

Wie erwartet, stand ein Nazi vor ihm. In Uniform.

»Niemals.«

So lautete Max' erste Erwiderung.

Er klammerte sich an die Hand seiner Mutter und an die von Sarah, einer seiner Kusinen.»Ich werde nicht gehen. Wenn wir nicht alle gehen, dann gehe ich auch nicht.«

Es war eine Lüge.

Als ihn seine Familie hinausschob, kämpfte sich die Erleichterung in ihm an die Oberfläche wie eine unanständige Geste. Es war ein Gefühl, das er nicht haben wollte, und doch empfand er es mit einem solchen Genuss, dass er sich am liebsten übergeben hätte. Wie konnte er? Wie konnte er nur?

Aber er konnte.

»Nimm nichts mit«, sagte Walter zu ihm.»Nur das, was du am Leibe trägst. Ich sorge für den Rest.«

»Max.«Es war seine Mutter.

Aus einer Schublade zog sie ein altes Stück Papier und stopfte es ihm in die Jackentasche.»Wenn du jemals...«Sie hielt ihn ein letztes Mal, an den Ellbogen.»Das könnte deine letzte Hoffnung sein.«

Er schaute ihr in das alternde Gesicht und küsste sie, heftig, auf die Lippen.

»Komm jetzt.«Walter zog an ihm, während sich Max von seiner Familie verabschiedete, die ihm Geld und ein paar Wertsachen zusteckte.»Da draußen herrscht das reine Chaos, und genau das brauchen wir.«

Sie gingen, ohne sich umzudrehen. Das quälte ihn.

Wenn er sich nur ein einziges Mal umgedreht und einen letzten Blick auf seine Familie geworfen hätte, als er die Wohnung verließ. Vielleicht wäre die Schuld dann nicht so schwer. Kein endgültiges Abschiedswort.

Kein letztes Verschränken der Blicke.

Nichts außer Weggehen.

Während der nächsten zwei Jahre versteckte er sich in einem leeren Vorratsraum. Er befand sich in einem Gebäude, wo Walter früher gearbeitet hatte. Es gab sehr wenig zu essen. Und es gab sehr viel Misstrauen. Die noch verbliebenen Juden der Nachbarschaft, die Geld besaßen, wanderten aus. Die Juden ohne Geld versuchten das Gleiche, aber ohne viel Erfolg. Max' Familie gehörte zur letztgenannten Kategorie. Walter schaute gelegentlich nach ihnen, so unauffällig wie möglich. Eines Nachmittags, als er sie wieder besuchen wollte, öffnete ihm eine fremde Person.

Als Max die Neuigkeit hörte, fühlte sich sein Körper an, als würde er zu einem Knäuel zusammengepresst, wie ein Blatt Papier voller Schreibfehler. Wie Abfall.

Und doch gelang es ihm jeden Tag, sich wieder zu entknäulen und aufzurichten, voller Verachtung und Dankbarkeit. Zerschlagen, aber aus irgendeinem Grund nicht zerstört.

Die erste Hälfte des Jahres 1939 war vorbei, und Max versteckte sich nun schon mehr als sechs Monate. Da beschlossen die beiden Männer, dass etwas geschehen musste. Sie holten den Zettel hervor, den seine Mutter Max vor seiner Desertion gegeben hatte. Richtig, seiner Desertion, nicht seiner Flucht. So sah er es jedenfalls, inmitten der Groteske seiner Erleichterung. Ihr und ich, wir wissen bereits, was auf diesem Zettel stand.

EIN NAME, EINE ADRESSE

Hans Hubermann Himmelstraße 33, Molching

»Es wird immer schlimmer«, sagte Walter zu Max.»Sie können uns jeden Augenblick auf die Schliche kommen.«Sie sprachen nur im Dunkeln und am Boden kauernd.»Wir wissen nicht, was noch passieren wird. Vielleicht werde ich geschnappt. Vielleicht musst du dich zu dieser Adresse durchschlagen... Ich habe zu viel Angst, um jemanden um Hilfe zu bitten. Man könnte mich verhaften.«Es gab nur eine Möglichkeit.»Ich fahre dorthin und schaue mir den Mann an. Wenn er ein Nazi ist, was wahrscheinlich ist, drehe ich mich einfach um und gehe wieder. Wenigstens wissen wir dann, woran wir sind, in Ordnung?«

Max gab ihm alles Geld, das er hatte, um die Reise zu machen, und als Walter ein paar Tage später zurückkehrte, umarmten sie sich, bevor Max den Atem anhielt.»Und?«

Walter nickte.»Er ist in Ordnung. Er spielt immer noch das Akkordeon, von dem dir deine Mutter erzählt hat - das von deinem Vater. Er ist kein Parteimitglied. Und er hat mir Geld gegeben.«In diesem Moment war Hans Hubermann nicht mehr als eine Aufzählung.»Er ist selbst ziemlich arm. Er ist verheiratet, und da ist auch ein Kind, ein Mädchen.«

Das entzündete Max' Interesse noch mehr.»Wie alt?«

»Zehn. Man kann nicht alles haben.«

»Tja, Kinder reden viel.«

»Wir müssen uns glücklich schätzen, so, wie es ist.«

Sie saßen eine Weile schweigend da. Es war Max, der die Stille störte.

»Er hasst mich wohl jetzt schon, oder?«

»Ich glaube nicht. Immerhin hat er mir Geld für dich gegeben, oder etwa nicht? Er sagte, ein Versprechen ist ein Versprechen.«

Eine Woche später kam ein Brief. Hans bestätigte Walter Kugler, dass er versuchen werde, hilfreiche Dinge zu schicken, wann immer es möglich sei. Mit dem Brief kamen sowohl eine Straßenkarte von Molching und dem Großraum München als auch eine Wegbeschreibung von Pasing nach Molching (er sollte in München umsteigen und den Zug nach Pasing nehmen), bis zu Hubermanns Haustür. Die letzten Worte in seinem Brief waren unmissverständlich.

Seien Sie vorsichtig.

Mitte Mai 1940 kam Mein Kampf mit der Post. Auf der Innenseite des Einbands war ein Schlüssel aufgeklebt.

Der Mann ist ein Genie, entschied Max, aber trotzdem überkam ihn ein Schauer, wenn er daran dachte, nach München fahren zu müssen. Neben allem anderen, was er sich wünschte, hätte er diese Fahrt liebend gerne vermieden.

Aber man bekommt nicht immer das, was man sich wünscht.

Besonders nicht im Dritten Reich.

Wieder verging Zeit.

Der Krieg dehnte sich aus.

Max blieb vor den Augen der Welt verborgen, in einem anderen leeren Zimmer. Bis das Unausweichliche geschah.

Walter wurde nach Polen geschickt, um dort die Machtausübung der Deutschen über Polen und Juden gleichermaßen zu unterstützen. Die Zeit war gekommen.

Max überstand die Reise nach München und dann nach Molching und saß jetzt in der Küche eines Fremden, flehte um die Hilfe, nach der er sich sehnte, und litt unter der Verdammnis, die er zu verdienen empfand.

Hans Hubermann gab ihm die Hand und stellte sich vor.

Er kochte Kaffee im Dunkeln.

Das Mädchen war schon seit geraumer Weile wieder im Bett, aber jetzt ertönten neue Schritte. Die unbekannte Größe.

In der Dunkelheit waren alle drei völlig allein. Sie alle starrten. Dann sprach die Frau.

ROSAS ZORN

Liesel war wieder in den Schlaf gesunken, als die unverwechselbare Stimme von Rosa Hubermann die Küche betrat. Sie rüttelte das Mädchen wach.

»Was ist hier los?«

Die Neugier übermannte sie. Sie stellte sich vor, wie nun Rosas Zorn eine Schimpftirade folgen würde. Es waren Geräusche zu hören, das Schaben von Stühlen.

Nach zehn Minuten voller Selbstbeherrschung schlich Liesel durch den Flur. Was sie sah, erfüllte sie mit Erstaunen, denn Rosa Hubermann stand neben Max Vandenburg und schaute zu, wie er ihre berüchtigte Erbsensuppe schluckte. Auf dem Tisch stand Kerzenlicht. Es flackerte nicht.

Mama blickte ernst.

Ihre plumpe Gestalt glühte vor Sorge.

Aber aus irgendeinem Grund lag auch ein Ausdruck von Triumph auf ihrem Gesicht, und es war nicht der Triumph, einen Mitmenschen vor der Verfolgung zu bewahren. Es war eher wie:»Seht ihr? Er beklagt sich keineswegs über die Suppe.«Sie schaute von der Suppe zu dem Juden und zurück zur Suppe.



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