Und Liesel half ihm, auf ihre Weise. 


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Und Liesel half ihm, auf ihre Weise.



Sie stand auf und nahm es ihm aus der Hand. Während er noch einigen Kindern über die Schulter hinweg zugrinste, warf sie das Buch weg und trat ihn, so fest sie konnte, in den Unterleib.

Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, klappte Ludwig Schmeikl zusammen wie ein Taschenmesser, und auf dem Weg nach unten bekam er noch einen Hieb aufs Ohr. Nachdem er gelandet war, setzte sich Liesel auf ihn drauf, und dann wurde Ludwig geschlagen und gekratzt und geprügelt, von einem Mädchen, das mit Haut und Haaren vor Zorn zerfressen war. Seine Haut war so warm und weich. Ihre Knöchel und Fingernägel waren so erschreckend hart, trotz ihrer Schmächtigkeit.»Du Saukerl!«Auch ihre Stimme war in der Lage, ihn zu zerkratzen.»Du Arschloch! Kannst du ‚Arschloch‘ buchstabieren?«

Oh, wie die Wolken stolperten und sich dümmlich am Himmel zusammenrotteten.

Große, fette Wolken.

Dunkel und plump.

Sie stießen gegeneinander. Entschuldigten sich. Rückten ab und suchten sich einen anderen Platz.

Kinder waren da, so schnell wie... wie sich eben nur Kinder um eine Prügelei versammeln können. Ein Gewimmel aus Armen und Beinen, aus Schreien und Anfeuerungen wuchs an, wurde dichter. Sie alle schauten zu, wie Liesel Meminger Ludwig Schmeikl die Abreibung seines Lebens verpasste.»Jesus, Maria und Josef«, ließ sich eine schrille Mädchenstimme vernehmen.»Sie bringt ihn noch um!«

Liesel brachte ihn nicht um.

Aber sie war kurz davor.

Was sie davon abhielt, war das mitleiderregend zuckende und grinsende Gesicht von Tommi Müller. Immer noch bis zu den Haarspitzen mit Adrenalin angefüllt, fiel Liesels Blick auf den Jungen, der so lächerlich grinste, dass sie ihn herbeizerrte, ihn niederwarf und anfing, auch ihn zu verdreschen.

»Was machst du denn?«, heulte er, und erst dann, nach dem dritten oder vierten Schlag und dem Anblick eines Rinnsals aus hellem Blut, das aus seiner Nase tröpfelte, hörte sie auf.

Auf Händen und Knien sog sie die Luft ein und lauschte auf das Stöhnen unter ihr. Sie schaute auf den Mahlstrom aus Gesichtern rechts und links von ihr und verkündete:»Ich bin kein Dummkopf.«

Niemand widersprach.

Erst als alle wieder hineingingen und Schwester Maria sah, in welchem Zustand sich Ludwig Schmeikl befand, ging der Krieg weiter. Zunächst fiel der Verdacht auf Rudi und ein paar andere. Sie rauften ständig miteinander.»Hände vorzeigen!«, lautete der Befehl. Aber die Jungen waren allesamt sauber.

»Ich kann es nicht glauben«, murmelte die Schwester,»das kann doch nicht wahr sein«, denn als Liesel vortrat, um ihre Hände zu zeigen, stand klar und deutlich auf allen beiden»Ludwig Schmeikl«geschrieben, in dunklem Rot, das langsam zu Rost antrocknete.»Raus auf den Gang«, befahl Schwester Maria ihr zum zweiten Mal an diesem Tag. Oder vielmehr zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde.

Diesmal fiel die Abreibung weniger sanft aus. Diesmal war es keine Durchschnittsabreibung. Diesmal war es ernst. Unnachgiebig stachen Stockschläge in ihr Hinterteil, einer nach dem anderen, sodass Liesel eine Woche lang kaum noch sitzen konnte. Diesmal drang auch kein Gelächter aus dem Klassenzimmer. Diesmal war es ein ängstliches, ein lauschendes Schweigen.

Am Ende dieses Schultags ging Liesel mit Rudi und den anderen Steiner-Kindern nach Hause. Als sie schon fast die Himmelstraße erreicht hatten, wurde Liesel von einer Welle aus Elend überwältigt, begleitet von unzähligen fliegenden Gedanken. Die gescheiterte Rezitation des

Handbuchs für Totengräber, die Trümmer ihrer Familie, ihre Albträume, die Demütigung des heutigen Tages - sie kauerte sich in den Rinnstein und weinte. Alles endete hier.

Rudi stand neben ihr.

Es fing an zu regnen, so richtig schön ordentlich.

Kurt Steiner rief nach den beiden, aber sie rührten sich nicht. Sie saß - mit schmerzendem Hintern und Herzen - zwischen den niederfallenden Regenbündeln, und er stand wartend neben ihr.

»Warum hat er sterben müssen?«, fragte sie, aber immer noch tat Rudi nichts, sagte nichts.

Als sie endlich fertig war und aufstand, legte er ihr in bester kameradschaftlicher Manier den Arm um die Schultern. So gingen sie weiter. Er fragte nicht nach einem Kuss. Nichts in der Art. Dafür solltet ihr Rudi lieben.

Tritt mir bitte nicht in die Eier.

Das war sein Gedanke, aber er sprach ihn nicht aus.

Erst vier Jahre später gestand er Liesel seine diesbezügliche Befürchtung.

Doch noch gingen Rudi und Liesel die Himmelstraße entlang. Im Regen.

Er war der Verrückte, der sich schwarz angemalt und die Welt besiegt hatte.

Sie war die Bücherdiebin ohne Worte.

Aber ihr könnt mir glauben: Die Worte waren bereits zu ihr unterwegs, und als sie ankamen, hielt Liesel sie wie Wolken in den Händen und wrang sie aus bis auf den letzten Tropfen.

TEIL 2

DAS SCHULTERZUCKEN

Es wirken mit: ein Mädchen, erschaffen aus Dunkelheit - Glück gegen Zigaretten - eine Stadtläuferin - ein paar tote Briefe - Hitlers Geburtstag - 100 Prozent reiner deutscher Schweiß - die Tür zum Diebstahl - und ein Buch des Feuers

EIN MÄDCHEN, ERSCHAFFEN AUS DUNKELHEIT

EINE STATISTIK

13. Januar 1939: Das erste Buch wird gestohlen. 20. April 1940: Das zweite Buch wird gestohlen. Zeitlicher Abstand zwischen den beiden Diebstählen: 463 Tage.

Es ließe sich leichtfertig behaupten, dass nur ein bisschen Feuer nötig war und ein paar menschliche Stimmen, die dazu brüllten und schrien - dass dies alles war, was Liesel zur Rechtfertigung brauchte, um das zweite Buch zu stehlen, es zu packen, auch wenn es in ihren Händen schmauchte. Auch wenn es ihre Rippen in Brand steckte.

Es ergibt sich nur folgendes Problem:

Dies ist nicht die rechte Zeit, um leichtfertig zu sein.

Es ist nicht die rechte Zeit, um nur mit einem Auge hinzusehen, sich umzudrehen oder nebenbei nach der Milch auf dem Herd zu schauen - denn als die Bücherdiebin ihr zweites Buch stahl, spielten in diesem Verlangen nicht nur zahlreiche Faktoren eine Rolle, sondern die Tat - das Stehlen - war selbst auch Auslöser dessen, was noch folgen sollte. Sie würde ihr den Weg zu weiteren Diebstählen weisen. Sie sollte Hans Hubermann dazu inspirieren, sich einen Plan auszudenken, wie er einem jüdischen Faustkämpfer helfen konnte. Und es sollte mir einmal mehr beweisen, dass eine Gelegenheit geradewegs zu einer anderen führt, genauso wie ein Risiko ein weiteres nach sich zieht, ein Leben ein anderes und ein Tod den nächsten.

Auf gewisse Weise war es Schicksal.

Wisst ihr, man behauptet, dass Nazi-Deutschland auf Antisemitismus erbaut wurde, auf einem übereifrigen Führer und einer Nation von mit Hass überfütterten Heuchlern. Aber das alles hätte zu nichts geführt, wenn die Deutschen nicht eine ganz besondere Vorliebe gehabt hätten:

Etwas zu verbrennen.

Die Deutschen liebten es, Dinge zu verbrennen. Geschäfte, Synagogen, Reichstagsgebäude, Häuser, persönliche Gegenstände, die Leichen ermordeter Menschen und natürlich: Bücher. Eine gute Bücherverbrennung war Gold wert - und gab nebenbei all jenen, die eine Schwäche für Bücher hatten, die Gelegenheit, Exemplare zu ergattern, die sie unter normalen Umständen nie in die Hände bekommen hätten. Eine Person mit einer solchen Veranlagung war, wie wir wissen, ein schmalknochiges Mädchen namens Liesel Meminger. Sie hatte zwar 463 Tage warten müssen, aber das war es wert gewesen. Am Ende eines Nachmittags, der jede Menge Aufregung mit sich gebracht hatte, viel herrliche und prächtige Abscheulichkeiten, einen blutigen Fußknöchel und eine Ohrfeige von einer vertrauten Hand, schlug Liesel Meminger ein zweites Mal erfolgreich zu. Das Schulterzucken. Es war ein blaues Buch mit roter Schrift, die in den Einband eingraviert war. Unter dem Titel befand sich, ebenfalls in Rot, das kleine Bild eines Kuckucks. Zurückblickend schämte sich Liesel nicht, dass sie das Buch gestohlen hatte. Im Gegenteil: Das Gefühl, das der Empfindung in ihrem Bauch am nächsten kam, war Stolz -und dann waren da noch Wut und dunkler Hass, der das Verlangen zu stehlen angestachelt hatte. Am 20. April, am Geburtstag des Führers, als sie das Buch unter einem dampfenden Haufen Asche hervorzog, war Liesel ein Mädchen, das aus Dunkelheit erschaffen war.



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