Ihre Mutter. Ihr Bruder. Max Vandenburg. Hans Hubermann. Alle waren sie weg. Und ihren leiblichen Vater hatte sie nicht einmal gekannt. 


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Ihre Mutter. Ihr Bruder. Max Vandenburg. Hans Hubermann. Alle waren sie weg. Und ihren leiblichen Vater hatte sie nicht einmal gekannt.



»Das heißt«, sagte sie,»dass ich heimgehe.«

Fünfzehn Minuten lang ging sie alleine, und auch als Rudi sich keuchend und schwitzend zu ihr gesellte, sprach mehr als eine Stunde lang keiner von ihnen ein Wort. Sie gingen einfach mit wehen Füßen und müden Herzen nebeneinanderher.

In Ein Lied im Dunkeln gab es ein Kapitel mit dem Titel»Müde Herzen«. Ein junges Mädchen hatte sich einem Mann versprochen, aber es stellte sich heraus, dass er mit ihrer besten Freundin durchgebrannt war. Liesel glaubte sich zu erinnern, dass es Kapitel 13 war.»Mein Herz ist so müde«, hatte das Mädchen gesagt. Sie saß in einer Kapelle und schrieb in ihr Tagebuch.

Nein, dachte Liesel, während sie nach Hause ging. Mein Herz ist müde. Ein dreizehnjähriges Herz sollte sich nicht so anfühlen.

Als sie die Außenbezirke von Molching erreichten, warf Liesel ein paar Worte zur Seite. Sie schaute zum Sportplatz.»Weißt du noch, wie wir hier Rennen gelaufen sind, Rudi?«

»Na klar. Ich habe auch gerade daran denken müssen - wie wir beide hingefallen sind.«

»Du hast gesagt, du wärst in Scheiße gefallen.«

»Es war bloß Dreck.«Er konnte seiner Belustigung nicht mehr Einhalt gebieten.»Bei der Hitlerjugend bin ich in Scheiße gefallen - in Kuhdung. Du bringst alles durcheinander, Saumensch.«

»Ich bringe nichts durcheinander. Ich sage nur, was du behauptet hast. Was jemand sagt und was passiert ist, ist gewöhnlich zweierlei, Rudi, besonders bei dir.«

So war es schon besser.

Auf dem Rückweg durch die Münchener Straße blieb Rudi stehen und schaute durch das Schaufenster in den Laden seines Vaters. Ehe Alex die Stadt verlassen hatte, hatten er und Barbara darüber gesprochen, ob sie die Schneiderei während seiner Abwesenheit weiterführen sollte. Sie entschieden sich dagegen, zumal die Geschäfte in letzter Zeit ohnehin nicht gut gelaufen waren. Außerdem war es durchaus möglich, dass zumindest einige Parteimitglieder immer noch eine Bedrohung darstellten. Unruhestifter und Querulanten sollten die Finger von Geschäften lassen. Der Sold von Alex Steiner würde reichen müssen.

An den Kleiderstangen hingen Anzüge, und die Schaufensterpuppen standen in lächerlichen Posen da.»Ich glaube, die da mag dich«, sagte Liesel nach einer Weile. Es war ihre Art, ihm zu sagen, dass es Zeit war weiterzugehen.

Rosa Hubermann und Barbara Steiner standen gemeinsam auf dem Bürgersteig der Himmelstraße.

»O Jesus«, sagte Liesel.»Die sehen aus, als hätten sie sich Sorgen gemacht.«»Die sehen stinkwütend aus.«

Als sie nach Hause kamen, prasselten Fragen auf sie ein, hauptsächlich von der Art wie:»Wo zum Teufel habt ihr zwei gesteckt?«, aber der Zorn wandelte sich schnell in Erleichterung.

Barbara allerdings bestand auf einer Antwort:»Nun, Rudi?«

Liesel antwortete an seiner Stelle:»Er hat den Führer umgebracht«, sagte sie, und Rudi schaute sie so ehrlich erfreut an, dass sie sich unwillkürlich mit ihm freute.

»Mach's gut, Liesel.«

Etliche Stunden später drang Lärm aus dem Wohnzimmer. Er schlich sich zu Liesel ins Bett. Sie wachte auf und blieb still, dachte an Gespenster, an Papa und an Einbrecher und an Max. Geräusche von Türen, die geöffnet und geschlossen wurden, kamen als Nächstes, und dann eine faserige Stille. Die Stille war die größte Versuchung.

Nicht bewegen.

Sie dachte es öfter als ein Mal, aber nicht oft genug.

Ihre Füße zankten mit dem Fußboden. Luft atmete durch ihre Pyjamajacke.

Sie ging durch die Dunkelheit des Flurs in Richtung der Stille, die vor Kurzem noch Lärm gewesen war, zu dem Faden aus Mondlicht, der im Wohnzimmer lag. Sie blieb stehen und spürte die Nacktheit ihrer Knöchel und Zehen. Sie schaute.

Ihre Augen brauchten länger als erwartet, um in dem Dämmerlicht etwas zu sehen, und als sie es taten, gab es keinen Zweifel: Rosa Hubermann saß auf der Bettkante, das Akkordeon ihres Mannes vor der Brust. Ihre Finger lauerten über den Tasten. Sie rührte sich nicht. Sie schien nicht einmal zu atmen.

Der Anblick warf sich dem Mädchen im Flur entgegen.

EIN GEMÄLDE

Titel: Rosa mit Akkordeon. Technik: Mondlicht auf Dunkel. Maße: 5,1 Zoll x Instrument x Schweigen.

Liesel blieb und schaute.

Minuten tröpfelten vorbei. Das Verlangen der Bücherdiebin, einen Ton zu vernehmen, war ermüdend, und doch war nichts zu hören. Die Tasten wurden nicht berührt. Die Blasebälge atmeten nicht. Da war nur das Mondlicht, wie eine lange Haarsträhne zwischen den Vorhängen, und da war Rosa.

Das Akkordeon blieb an ihrer Brust. Dann neigte sie den Kopf, und es sank in ihren Schoß. Liesel schaute. Sie wusste, dass Mama nun ein paar Tage lang mit dem Abdruck des Akkordeons auf ihrem Körper herumlaufen würde. Und sie wusste genau, dass in dem, was sie gerade sah, eine unglaubliche Schönheit lag. Sie hütete sich, diese Schönheit zu zerstören.

Sie ging wieder ins Bett und schlief mit dem Bild ihrer Mama und der schweigenden Musik ein. Später, als sie aus ihrem vertrauten Traum erwachte und wieder in den Flur ging, war Rosa immer noch da, genauso wie das Akkordeon.

Wie ein Anker zog es sie nach unten. Ihr Körper war vornübergesunken. Sie wirkte tot.

In dieser Stellung kann sie doch unmöglich atmen, dachte Liesel, aber als sie näher schlich, hörte sie es.

Mama schnarchte.

Wer braucht schon Blasebälge, dachte Liesel, wenn man eine solche Lunge hat?

Als Liesel schließlich ins Bett zurückkehrte, ließ das Bild von Rosa Hubermann und dem Akkordeon sie nicht los. Die Augen der Bücherdiebin blieben offen. Sie wartete darauf, dass der Schlaf das Bild erstickte.

DER SAMMLER

Weder Hans Hubermann noch Alex Steiner wurden an die Front geschickt. Alex kam nach Österreich, in ein Wehrmachtskrankenhaus außerhalb von Wien. Aufgrund seiner Erfahrung im Schneiderhandwerk teilte man ihm eine Arbeit zu, die wenigstens entfernt mit seinem Beruf zu tun hatte. Jede Woche kamen kistenweise Uniformen und Socken und Hemden, und er flickte, was geflickt werden musste, selbst wenn die Kleidung nur noch als Unterwäsche für die leidenden Soldaten in Russland Verwendung finden konnte.

Hans wurde - Ironie des Schicksals - zuerst nach Stuttgart abkommandiert und später nach Essen. Er bekam den ungeliebtesten Posten der ganzen Heimatfront. Er kam zur LSE.

EINE NOTWENDIGE ERKLÄRUNG

LSE = Luftwaffensondereinheit

Die Aufgabe der LSE war, während der Luftangriffe oben zu bleiben und Feuer zu löschen, die Wände von Gebäuden abzustützen und den Menschen zu helfen, die in den Trümmern eingeschlossen oder verletzt waren. Hans erfuhr recht schnell, dass die Abkürzung noch eine andere Bedeutung hatte. Die Männer in seiner Einheit erklärten ihm gleich am ersten Tag, dass die drei Buchstaben in Wahrheit für»Leichensammlereinheit«standen.

Bei seiner Ankunft konnte Hans nur vermuten, was diese Männer, denen man eine solche Aufgabe zugeteilt hatte, angestellt hatten, und umgekehrt stellten sie über ihn die gleichen Vermutungen an. Ihr Anführer, Unteroffizier Boris Schipper, fragte ihn rundheraus danach. Als Hans die Sache mit dem Brot, dem Juden und der Peitsche erzählte, lachte der Schipper kurz auf.»Sie haben Glück, dass Sie noch am Leben sind.«Die Augen in seinem runden Gesicht waren ebenfalls rund, und er wischte ständig darüber. Entweder waren sie müde, oder sie juckten, oder sie waren voller Rauch und Staub.»Denken Sie nur daran, dass Sie hier bei uns den Feind nicht vor Augen haben.«

Hans wollte eine Frage stellen, als hinter ihm eine Stimme eintraf. Ihr zugehörig war das schlanke Gesicht eines jungen Mannes, mit einem Lächeln aus Hohn. Reinhold Zucker.»Bei uns«, erklärte er,»befindet sich der Feind nicht hinter einem Hügel oder überhaupt in irgendeiner bestimmten Richtung voraus. Er ist überall um uns herum.«Er konzentrierte sich wieder auf den Brief, den er gerade schrieb.»Sie werden es ja selbst erleben.«

Nach einem wirren Zeitraum von ein paar Monaten würde Reinhold Zucker tot sein. Getötet durch Hans Hubermanns Sitz.

Während der Krieg mit vermehrter Heftigkeit in Deutschland Einzug hielt, begriff Hans, dass jede seiner Schichten auf die gleiche Art und Weise ihren Anfang nahm. Die Männer versammelten sich am Lastwagen, um darüber informiert zu werden, was während ihrer Pause getroffen worden war, was wahrscheinlich als Nächstes getroffen werden würde und wer mit wem zusammenarbeiten sollte.

Selbst wenn es keine Luftangriffe gab, hatten sie alle Hände voll zu tun. Sie fuhren durch zerstörte Städte und räumten auf. Im Lastwagen kauerten sich zwölf Männer zusammen und wurden auf und ab geworfen, je nach Beschaffenheit der Straße.



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