Liesel wartete. »Ich sagte, geh.« 


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Liesel wartete. »Ich sagte, geh.«



Als sie zu ihm aufschloss, versuchte der heimgekehrte Soldat, ein Gespräch in Gang zu bringen. Wahrscheinlich bedauerte er sein verbales Missgeschick Rosa gegenüber, und er bemühte sich, es unter anderen Worten zu begraben. Er hielt die verbundene Hand hoch und sagte:»Ich kann die Blutung immer noch nicht stoppen.«Liesel war zum ersten Mal froh, als sie Frau Holzingers Küche betrat. Je eher sie anfangen konnte zu lesen, umso besser.

Frau Holzinger saß da mit Streifen aus Draht in ihrem Gesicht.

Ihr Sohn war tot.

Aber das war noch nicht alles.

Sie würde nie erfahren, wie es wirklich geschah, aber ich kann es euch sagen, denn ich bin derjenige, der Bescheid weiß. Ich scheine immer zu wissen, was passiert, wenn Schnee, Waffen und unterschiedliche menschliche Sprachen im Spiel sind.

Wenn ich mir anhand der Worte im Buch der Bücherdiebin die Küche von Frau Holzinger vorstelle, sehe ich weder den Herd noch die Kochlöffel oder die Wasserpumpe oder etwas

Derartiges. Nicht am Anfang jedenfalls. Was ich sehe, ist der russische Winter und der Schnee, der von der Zimmerdecke fällt, und das Schicksal von Frau Holzingers zweitem Sohn.

Sein Name war Robert, und Folgendes passierte mit ihm.

EINE KURZE GESCHICHTE AUS DEM KRIEG

Seine Beine wurden ihm oberhalb der Schienbeine weggerissen, und sein Bruder schaute zu, wie er in einem kalten, stinkenden Lazarett starb.

Es war in Russland, am 5. Januar 1943. Ein weiterer eisiger Tag. Draußen in der Stadt und im Schnee lagen überall tote Russen und tote Deutsche. Diejenigen, die übrig waren, feuerten auf die unbeschriebenen, weißen Seiten vor ihnen. Drei Sprachen vermischten sich. Die der Russen, die der Kugeln und die der Deutschen.

Während ich zwischen den gefallenen Seelen hindurchging, sagte einer der Männer:»Mein Bauch juckt.«Er sagte es viele Male. Trotz des Schocks kroch er vorwärts, zu einer dunklen, entstellten Gestalt, die sich auf den Boden ergoss. Als der Soldat mit der Bauchwunde dort ankam, sah er, dass es Robert Holzinger war. Seine Hände waren in Blut gebadet, und er häufte Schnee auf den Bereich oberhalb seiner Schienbeine, wo seine Beine bei der letzten Explosion abgetrennt worden waren. Heiße Hände und ein roter Schrei.

Dampf stieg vom Boden auf. Der Anblick und der Geruch von fauligem Schnee.

»Ich bin es«, sagte der Soldat zu ihm.»Peter.«Er zog sich ein paar Zentimeter näher.

»Peter?«, fragte Robert mit schwindender Stimme. Er fühlte wohl, dass ich in der Nähe war.

Ein zweites Mal.»Peter?«

Aus irgendeinem Grund stellen sterbende Männer immer die Fragen, auf die sie die Antwort bereits kennen. Vielleicht wollen sie in dem Gefühl gehen, recht zu haben.

Die Stimmen klangen plötzlich alle gleich.

Robert Holzinger fiel nach rechts, auf den kalten, dampfenden Boden. Ich bin mir sicher, dass er mich in diesem Augenblick bereits erwartete.

Aber ich kam nicht zu ihm.

Zu seinem Unglück nahm ich ihn an diesem Nachmittag nicht mit, sondern stieg mit den anderen armen Seelen in meinen Armen über den jungen Deutschen hinweg und machte mich auf den Weg zur anderen Seite, zu den Russen.

Hin und her ging ich.

Auseinandergenommene Männer.

Das war kein Skiurlaub, das kann ich euch versichern.

Wie Michael seiner Mutter erzählte, kam ich erst nach drei sehr langen Tagen zu dem Soldaten, der seine Füße in Stalingrad gelassen hatte. Ich folgte der Einladung in das behelfsmäßige Lazarett und zuckte bei dem Gestank unwillkürlich zurück.

Ein Mann mit einer verbundenen Hand erzählte dem stummen, erstarrten Soldaten, dass er leben würde.»Du kommst bald heim«, versicherte er ihm.

Ja, dachte ich. Heim. Für immer.

»Ich werde auf dich warten«, fuhr er fort.»Eigentlich sollte ich schon Ende der Woche heimfahren, aber ich werde warten.«

Mitten im nächsten Satz des Bruders sammelte ich die Seele von Robert Holzinger ein.

Normalerweise muss ich mich anstrengen, um durch das Dach nach draußen zu schauen, wenn ich mich im Innern eines Gebäudes befinde, aber diesmal hatte ich Glück. Ein kleines Stück Dach war zerstört, und ich konnte hindurchsehen. Einen Meter neben mir redete Michael Holzinger immer noch. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, und sah auf das Loch über mir. Der Himmel war weiß, aber er zerfiel zusehends. Wie immer wurde er zu einem riesigen Lumpen. Blut sickerte hindurch, und hier und da sahen die Wolken aus wie schmutzige Fußabdrücke im Schnee.

Fußabdrücke?, denkt ihr jetzt wahrscheinlich. Na, wem die wohl gehören?

In Frau Holzingers Küche saß Liesel und las. Die Seiten wateten ungehört vorbei, und obwohl Russland vor meinen Augen verschwand, hörte der Schnee nicht auf, von der Zimmerdecke herabzufallen. Der Wasserkessel ist verschneit, genauso wie der Tisch. Auch die Menschen tragen Flicken aus Schnee auf ihren Köpfen und Schultern.

Der Bruder erschauert.

Die Frau weint.

Und das Mädchen liest weiter, denn deshalb ist sie hier, und es ist ein gutes Gefühl, zu etwas nutze zu sein nach dem Schnee von Stalingrad.

DER ALTERSLOSE BRUDER

In ein paar Wochen würde Liesel vierzehn Jahre alt sein. Ihr Papa war immer noch weg.

Sie hatte drei weitere Vorlesestunden bei der verzweifelten Frau hinter sich gebracht. Oft hatte sie Rosa nachts mit dem Kinn auf die Blasebälge des Akkordeons gestützt dasitzen und beten sehen.

Jetzt, dachte sie, ist es Zeit. Normalerweise war es das Stehlen, was sie aufheiterte, aber an diesem Tag war es das Zurückgeben.

Sie holte den Teller unter ihrem Bett hervor. So schnell sie konnte, spülte sie ihn in der Küche ab und ging aus dem Haus. Es war schön, durch Molching zu laufen. Die Luft war scharf und flach, wie die Watschen eines launigen Lehrers oder einer Nonne. Ihre Schuhe machten das einzige Geräusch auf der Münchener Straße.

Sie überquerte den Fluss mit einem Hauch von Sonnenschein hinter den Wolken.

In der Großen Straße ging sie die Stufen zur Nummer 8 hinauf, stellte den Teller vor der Tür ab und klopfte. Als die Tür geöffnet wurde, war sie schon um die Ecke verschwunden. Liesel schaute nicht zurück, aber sie wusste, dass sie, wenn sie es getan hätte, ihren Bruder wieder am Fuß der Treppe gesehen hätte. Sein Knie war geheilt. Sie konnte sogar seine Stimme hören.

»Schon besser, Liesel.«

Mit großer Traurigkeit wurde ihr klar, dass ihr Bruder auf immer und ewig sechs Jahre alt sein würde, aber als sie diesen Gedanken festhielt, unternahm sie dennoch den Versuch zu lächeln.

Sie blieb über der Amper stehen, auf der Brücke, wo Papa immer gestanden und sich ans Geländer gelehnt hatte.

Sie lächelte und lächelte, und nachdem alles draußen war, ging sie nach Hause. Niemals wieder stieg ihr Bruder in ihren Schlaf. Auf mancherlei Art vermisste sie ihn, aber seine tödlichen Augen auf dem Boden des Zuges oder den Klang des Hustens, der ihn umgebracht hatte, würde sie nie mehr wieder vermissen.

In dieser Nacht lag die Bücherdiebin im Bett, und der Junge kam nur, kurz bevor sie die Augen zumachte. Er war lediglich ein Mitglied einer ganzen Kompanie, denn Liesel bekam in ihrem

Zimmer ständig Besuch. Ihr Papa stand da und sagte, dass sie fast erwachsen war. Max saß in der Ecke und schrieb Die Worteschüttlerin. Rudi stand nackt in der Tür. Gelegentlich fand sich ihre Mutter an dem Gleis neben ihrem Bett ein. Und weit entfernt, in dem Raum, der sich wie eine Brücke zu einer namenlosen Stadt erstreckte, saß ihr Bruder auf einem Friedhof und spielte im Schnee.

Als Untermalung für ihre Visionen ertönte Rosas Schnarchen aus dem Wohnzimmer. Liesel lag wach, umringt, und erinnerte sich an ein Zitat aus ihrem neuesten Buch.



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