Literarische Feinde und Vorbilder 


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Literarische Feinde und Vorbilder



Die Naturalisten verurteilten aufs Schärfste den trivialen Zeitgeschmack, der sich an französischen Komödiendichtern (Scribe, Dumas) und an den Nachahmern der deutschen Klassik und Romantik (Heyse, Geibel) orientierte. Sie knüpften bewusst an den Sturm und Drang, an Dichter wie Heine und Büchner an. Als "Idole" galten Emile Zola (1840-1902), der in Frankreich den naturalistischen Roman begründet und als Erster den Dichter als Experimentator bezeichnet hatte, ferner der Norweger Hendrik Ibsen (1828-1906), der in seinen Dramen den determinierten Menschen ("Gespenster"), aber auch den gegen sein Milieu protestierenden ("Nora") darstellte.

Formen

Ø Die Ideen des Naturalismus wurden hauptsächlich in Zeitschriften verbreitet. In Berlin gaben die Brüder Heinrich und Julius Hart die "Kritischen Waffengänge" (1882-84) heraus, in München, dem zweiten Brennpunkt des Naturalismus, publizierte Michael Georg Conrad die Zeitschrift "Die Gesellschaft" (1885-1902).

Ø Die bedeutendsten Leistungen hat das Drama des Naturalismus aufzuweisen. Mit ihren Theaterstücken und eigens gegründeten Theatern (z.B. 1890 Freie Bühne in Berlin) erzielten die naturalistischen Dichter schon zu ihren Lebzeiten eine große Wirkung. Typische Merkmale des naturalistischen Dramas sind:

· Beibehaltung der traditionellen Form (etwa: Tragödie, Komödie), andererseits Tendenzen zur Episierung ("Die Weber");

· Aufnahme neuer, bisher tabuisierter Themen (s.o.);

· entsprechend der Thematik vieler Stücke: Bevorzugung des Dialekts, entsprechend der Forderung nach Wirklichkeitsnähe: Wegfall des Monologs, entsprechend der Milieutheorie: ausführliche Regieanweisungen;

· häufiges Vorkommen analytischer Dramen, da ein in der Vergangenheit angelegtes Verhängnis (z.B. infolge Vererbung) sich im Verlauf des Dramas entfaltet (zum Beweis der Determiniertheit).

Ø Weniger bedeutsam sind der naturalistische Roman und die Lyrik. Der von Arno Holz und Johannes Schlaf in ihrer Prosaskizze "Papa Hamlet" kreierte "Sekundenstil", die minutiöse Detailschilderung sozialen Elends, erwies sich als Sackgasse, ebenso die neue, der Prosa angenäherte Lyrik des Arno Holz (Phantasus 1898).

Wichtige Vertreter

Arno Holz (1863-1929) und Johannes Schlaf (1862-1941)

· Papa Hamlet (1889)

· Die Familie Selicke (Drama, 1890)

Gerhart Hauptmann (1862-1946)

· Dramen

Vor Sonnenaufgang (1889)

o Die Weber (1892)

o Der Biberpelz (1893)

o Die Ratten (1911)

· Epik

o Bahnwärter Thiel

("Novellistische Studie", 1888)

Expressionismus

1. Wortbedeutung

2. Weltanschaulicher Anspruch

3. Problematik

4. Merkmale expressionistischer Literatur:

ü Lyrik

ü Epik

ü Dramatik

Wortbedeutung

Von lat. "expressio" = Ausdruck; 1911 anlässlich einer Ausstellung in Berlin zur Bezeichnung der Bilder junger französischer Maler gebraucht; von dem Schriftsteller Kurt Hiller auf junge Dichter der damaligen Zeit übertragen. Expressionismus im literarischen Sinn bedeutet Ausdruckskunst, mit Hilfe derer innerlich gesehene Wahrheiten und Erlebnisse im Sinne der Moderne dargestellt werden.

Weltanschaulicher Anspruch

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren immer mehr Künstler mit ihrer Zeit unzufrieden und ahnten die nahe Katastrophe. "Man fühlte immer deutlicher die Unmöglichkeit einer Menschheit, die sich ganz und gar abhängig gemacht hatte von ihrer eigenen Schöpfung, von ihrer Wissenschaft, von Technik, Statistik, Handel und Industrie, von einer erstarrten Gemeinschaftsordnung, bourgeoisen und konventionellen Bräuchen. Diese Erkenntnis bedeutete zugleich den Beginn des Kampfes gegen die Zeit und die Realität. (...) Aus den Ausbrüchen der Verfluchung (der Zeit) brachen die Schreie und Aufforderungen zur Empörung, zur Entscheidung, zur Rechenschaft, zur Erneuerung..., um durch die Empörung das Vernichtende und Vernichtete ganz zu vernichten, so dass Heilendes sich entfalten konnte. Aufrufe zum Zusammenschluß der Jugend, zum Aufbruch einer geistigen Phalanx ertönten; (...) Und so gemeinsam und wild aus diesen Dichtern Klage, Verzweiflung, Aufruhr aufgedonnert war, so einig und eindringlich posaunten sie in ihren Gesängen Menschlichkeit, Güte, Gerechtigkeit, Kameradschaft, Menschenliebe aller zu allen."

Die Expressionisten, die davon überzeugt waren, dass die Entwicklung der Menscheit chaotisch verlaufen und die Welt amoralisch war, wollten also die Kunst wieder in den Dienst einer Sache stellen. Mit Hilfe der Kunst sollten die Menschen verändert werden, um eine neue Welt hervorzubringen.

Problematik

Bei den Expressionisten blieben die Ziele ihrer Bewegung sehr allgemein (s.o.). Man machte sich wenig Gedanken darüber, wie diese Ziele konkret zu verwirklichen seien. Stattdessen feierte man die Opferbereitschaft, die Begeisterung, das Engagement an sich; man machte sie zu eigenständigen Werten, an denen man sich berauschte, ohne zu fragen, auf welche Ziele sie denn bezogen werden sollten.

Es war den Expressionisten meist gleichgültig, in welchem Sinne sich etwas änderte, was zu tun war; Hauptsache für sie war, dass überhaupt etwas geschah, dass man etwas tat (Aktivismus). Die Folge davon war z.B., dass ein und dieselben Künstler sich nacheinander sowohl für den Nationalsozialismus als auch den Kommunismus engagierten oder dass man den Ersten Weltkrieg als ersehnte Veränderung begrüßte.

Merkmale expressionistischer Literatur

Der Expressionismus ist daher nicht wegen seines weltanschaulichen Anspruchs bedeutsam. Von Bedeutung ist vielmehr vor allem die expressionistische Literatur dieser Zeit, da sich in ihr die Abkehr von traditionellen und die Hinwendung zu den neuen Formen und Themen der Moderne vollzog.

Die Sprache des Expressionismus ist nicht einheitlich. Sie ist ekstatisch übersteigert, metaphorisch, symbolistisch überhöht und versucht, die traditionelle Bildungssprache zu zerstören. Sie betont die Ausdrucksfähigkeit und Rhythmen, die fließen, hämmern oder stauen können. Sprachverknappung, Ausfall der Füllwörter, Artikel und Präpositionen, Worthäufung, nominale Wortballungen, Betonung des Verses, Wortneubildung und neue Syntaxformung sind typisch expressionistische Stilmerkmale.

Lyrik

Die Lyrik kommt dem Anliegen des des Expressionismus am nächsten. Gottfried Benn beschreibt es als "Wirklichkeitszertrümmerung, als rücksichtsloses An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen". Das Gedicht "Weltende" des Frühexpressionisten Jakob van Hoddis (1911) stellt quasi das Glaubensbekenntnis dieser Generation dar. Dieses auf den ersten Blick eher unscheinbare Gedicht wird Tagesgespräch in den literarischen Kreisen der Avantgarde, weil es nicht nur die Verachtung einer Welt der stumpfen Bürgerlichkeit zum Ausdruck bringt, sondern bereits die Katastrophe (1914) vorwegnimmt.

Als ein Meilenstein expressionistischer Lyrik gilt die 1920 von Kurt Pinthus herausgegebene Anthologie "Menschheitsdämmerung". Dieser Gedichtsammlung wird das van-Hoddis-Gedicht "Weltende" als Motto vorangestellt. Schon die Kapitelüberschriften spiegeln das Lebensgefühl der Expressionisten wider:

· Sturz und Schrei

· Erweckung des Herzens

· Aufruf und Empörung

· Liebe den Menschen

Vertreten sind Autoren wie G. Heym, F. Werfel, G. Benn, Else Lasker-Schüler, Ernst Stadler, G. Trakl.

Die typischen Themen- und Motivkomplexe sind Angst, Tod, Wahnsinn, Melancholie, Krieg. Ähnlich wie in der Malerei die Künstler ihre Emotionalität, ihren seelischen Ausdruck in neue vereinfachte Formen, grelle Farben kleiden und verfremden, so bedienen sich die Literaten neuer sprachlicher Mittel: Die Sprache ist oftmals stakkatohaft, abgerissen, voller Neologismen und erscheint in ungewohnten Rhythmen. Für den Leser entsteht eine unwirkliche Welt, doch geht es dem expressionistischen Autor eben nicht um die Wirklichkeit, sondern um die Wahrheit, die er vermitteln will.

Epik

Die erzählende Dichtung tritt im Expressionismus zunächst etwas in den Hintergrund: Die Dichter lehnen die Psychologie und Kausalität zur Erklärung von Mensch und Welt ab. Dabei tendieren sie zur Kürze, zu Wucht und Prägnanz des Ausdrucks.

Während des Ersten Weltkriegs wird die erzählende kurze Prosa dann wichtiger. Eines der Hauptmotive ist "Der jüngste Tag". Zu den wichtigen Autoren zählen A. Ehrenstein ("Tubusch", C. Einstein ("Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders"), A. Döblin ("Die Ermordung einer Butterblume") G. Heym ("Der Dieb"), F. Kafka ("Amerika", "Die Verwandlung", "Das Urteil"), C. Steinheim ("Busekow", "Napoleon", "Schuhlin").

Dramatik

Im Drama können expressionistische Dichter ihre Ideen der Wandlung und Steigerung wirkungsvoll demonstrieren. Daher übernimmt es neben der Lyrik eine beherrschende Rolle. Auf der Bühne wird zunächst die Geburt des neuen, gewandelten Menschen dargestellt. - Als Reaktion auf die Kriegserschütterung werden dann ab ca. 1915 auch Technikfeindlichkeit und Zivilisationshass zu wichtigen Themen, die von den Dramatikern auf die Bühne gebracht werden.

Hauptvertreter sind R.J. Sorge ("Der Bettler"), W. Hasenclever ("Der Sohn", "Menschen"), Kornfeld ("Die Verführung"), R. Goering (Seeschlacht"), F. von Unruh ("Ein Geschlecht", "Platz"), E. Barlach" (Der tote Tag", "Der arme Vetter"), E. Toller ("Die Wandlung", "Masse Mensch"). C. Sternheims Komödien "Aus dem bürgerlichen Heldenleben", G. Kaisers "Die Koralle", "Gas I" und "Gas II"; O. Kokoschkas "Mörder, Hoffnung der Frauen" und "Der brennende Dornbusch".

Typisch für das expressionistische Drama sind nicht nur lange Monologe, lyrisch-hymnische Bilderfolgen, sondern auch Gebärde, Tanz, Pantomime, zeitloses Kostüm, abstraktes Bühnenbild und eine neue Beleuchtungstechnik. Es geht nicht mehr um Charakter, sondern um "Seele" oder "Psyche"; die Figuren erscheinen weit gehend als überindividuelle Typen ("Mann", "Frau", "Tochter"...) und totale Ich-Projektionen.

Moderne Literatur

1. Allgemeine Grundlagen

2. Konsequenzen für den Roman

ü Inhaltlich

ü Formal

ü Wichtige Autoren und Werke

3. Die moderne Lyrik

4. Das moderne Drama

Allgemeine Grundlagen

Schon mit des Beginn der Neuzeit in Europa (Renaissance) haben die Menschen mehr und mehr Ideale und Werte entwickelt, die sich von den alten, mittelalterlich-religiösen Auffassungen lösten und den Menschen selbst in den Mittelpunkt rückten. Die neuen Ideen haben ihren gemeinsamen Fluchtpunkt in der Vorstellung von dem autonomen Individuum, das die Dinge mit seinem Verstand prüft und dann selbstständig entscheidet und handelt (Aufklärung). Kunst und Philosophie der Klassik haben diese Konzeption erweitert zum Idealbild der allseits gebildeten, ihre Fähigkeiten und Neigungen harmonisch in sich vereinigenden Persönlichkeit. Zugleich wurde aber eine Welt geschaffen, die sich der Verwirklichung der neuen Leitbilder zusehends versperrte (z.B. Entfaltung des Staates, seiner Institutionen, Regeln und Bürokratie, Entwicklung der Arbeitsteilung und Spezialisierung infolge der zunehmenden Industrialisierung). So droht der Mensch entweder der Welt fremd gegenüberzustehen, wenn er seine Autonomie wahren will, oder aber seine Autonomie aufzugeben, will er sich integrieren. Immer schwieriger wird es, einen Kompromiss zu finden, der es ihm erlaubt, sich frei und geborgen zugleich zu fühlen.

Die skizzierte Situation und Problematik hat sich im 20. Jh. immer mehr zugespitzt.

· Die Welt ist noch komplizierter und beim Fehlen intensiver Auseinandersetzung mit ihr undurchsichtiger geworden.

· Unsere Kenntnis hat sich zwar vergrößert, das Wenigste wissen wir aber aus unmittelbarer Erfahrung und Anschauung; wir sind vielmehr auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen.

· Die menschlichen Möglichkeiten sind immens angewachsen (Technik), dafür sind aber auch die Gefahren globaler geworden.

· Die Idee von einem selbstständigen, vernünftigen, mit freiem Willen begabten und nur seinem Gewissen verantwortlichen Individuum, das "von Natur aus gut ist", wird von den modernen Wissenschaften, v.a. der Psychologie, in Frage gestellt.

· Wertsysteme, die dem Menschen zur Orientierung dienen können, wie z.B. Religion, Vaterland, Familie, haben ihren allgemein verbindlichen Charakter, ihre Selbstverständlichkeit verloren.

2. Konsequenzen für den Roman

Wie alle Literatur, so reagiert auch der Roman auf die angesprochene Situation.

Inhaltlich

Der Roman ist spätestens seit Cervantes "Don Quixote" diejenige literarische Gattung, die den Konflikt zwischen Einzelnem und Welt zum Gegenstand hat. Nun im 20. Jh., da die Künstler die Bedrohung des Menschen intensiv und mit gesteigerter Sensibilität erleben und registrieren und in oft extremer Weise auszudrücken suchen, vergrößert sich die Entfremdung des Romanhelden von seiner Umwelt. Er wird zur totalen Negation des Helden herkömmlichen Typs. Passivität, Leiden, selbstquälerische Reflexion prägen sein Leben, er wird zunehmend unfähig, sinnvoll zu handeln, und er ist sich darüber hinaus dieser seiner Situation bewusst.

Formal

Das Erzählen selbst bleibt von diesen Veränderungen nicht unberührt. Es entsteht das, was man die "Krise des Romans" (= des traditionellen, realistischen) nennt.

· Das Schema des herkömmlichen Romans, die realistische Schilderung eines Lebensweges in einem konkreten historisch-gesellschaftlichen Kontext, erscheint zu eng, um die immer komplexere und unübersichtliche Wirklichkeit umfassen zu können.

· Zudem erwuchs des Roman in Fotografie und Film eine Konkurrenz, die im Vergleich zur Sprache die äußere Realität weit direkter wiederzugeben imstande ist.

· Die der alltäglichen Sprache entnommene, ungekünstelte Prosa des Romans ist nach Meinung der Dichter durch Werbung, Politik und die Konventionen des gesellschaftlichen Lebens zu stark von Klischees geprägt.

 

Um dennoch Romane schreiben zu können - denn inhaltlich ist der Roman immer noch eine geeignete Gattung -, wird zu einer Reihe von erzählerischen Techniken gegriffen, die oft zu mehreren in ein und demselben Roman auftreten und die sich vereinfacht wie folgt darstellen lassen:

1) Der Erzähler kann die Schwierigkeiten, die er beim Erzählen hat, im Roman selbst thematisieren und damit den Eindruck von Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit (ein Merkmal realistischer Schreibweise) verfremden.

2) Der Erzähler kann realistisch schildern oder vorgeben, realistisch schildern zu wollen, durch Ironie aber seine Vorbehalte gegenüber eben dieser Schreibweise deutlich machen.

3) Dem Erzähler gelingt es nicht mehr, die Wirklichkeit zu ordnen, zu einem erzählerischen Ablauf zu gestalten. Er montiert stattdessen verschiedene Eindrücke von der Wirklichkeit in ihren mannigfaltigen Aspekten zu einem oft verwirrenden Bild zusammen.

4) Auch die innere Wirklichkeit des Menschen, seine Psyche, kann vom Erzähler nicht mehr übersichtlich gemacht werden. So schildert er oft ungeordnet Gefühle und Gedanken seiner Romanfiguren, bisweilen ohne als Erzähler überhaupt auch nur in Erscheinung zu treten (innerer Monolog).

5) Da der Erzähler die Komplexität der Wirklichkeit nicht mehr erzählerisch voll erfassen kann, stellt er sie theoretisch dar. So werden die modernen Romane stellenweise zu philosophischen Abhandlungen, die Handlung und Schilderung verdrängen.

6) Der Realismus kann ganz aufgegeben werden. An seine Stelle tritt eine vom Autor konstruierte eigene, irreale bzw. halbreale Welt, mit der er glaubt, die Situation des modernen Menschen treffender ausdrücken zu können.

Wichtige Autoren und Werke

· James Joyce, "Ulysses" (1922)

· John Dos Passos, "Manhattan Transfer" (1925)

· Marcel Proust, "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (1913-27)

· Hermann Broch, "Der Tod des Vergil" (1945)

· Alfred Döblin, "Berlin Alexanderplatz" (1929)

· Hermann Hesse, "Der Steppenwolf" (1927)

· Franz Kafka, "Der Prozess" (1925)

· Thomas Mann,

· "Buddenbrooks" (1901),

· "Der Zauberberg" (1924),

· "Doktor Faustus" (1947)

· Robert Musil, "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930-52)

· Rainer Maria Rilke, "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1910)

Die moderne Lyrik

Bei jedem Kunstwerk kann man Aussage (auch Gehalt) und Form unterscheiden, die dialektisch aufeinander bezogen sind. Die Aussage kann nur durch die Form vermittelt werden, die Form hat nur Sinn durch die Aussage. Seit der Mitte des 19.Jhd. verschiebt sich die Form-Aussage-Dialektik immer mehr zugunsten der Form, die Form wird schließlich zur Aussage.

Am Beispiel der Malerei soll dies verdeutlicht werden. Die bildenden Künstler malten bis ins 19.Jhd. hinein so, als bildeten sie die physische Wirklichkeit ab. Es ging ihnen dabei zwar nicht um die naturgetreue, quasi photographische Wiedergabe, sondern um den Ausdruck bestimmter Ideen und Gefühle. Ein möglicher Bezug des Bildinhaltes zur Wirklichkeit ist aber immer deutlich. ("Man kann erkennen, was das Bild darstellen soll.") Im weiteren Verlauf der Entwicklung wird den Malern die formale Seite der Bilder (Linien, Flächen, Farben) immer wichtiger (abstrakte Malerei). Sie experimentieren mit ihnen und komponieren aus ihnen Gebilde, bei denen der mögliche Bezug zur Wirklichkeit keine Rolle spielt (selbst wenn man noch erkennen kann, was das Bild darstellen soll), ja die sogar gegenstandslos sein können. Es geht in diesen Bildern um die Errichtung einer eigenen Welt aus Linien, Flächen und Farben. Solche Gemälde sind mit der Musik vergleichbar, die durch Kombination von Tönen ebenfalls eine Welt schafft, die ihre Bedeutung in sich hat und nichts abbilden muss.

In der Dichtung ist die Gattung der Lyrik diejenige, die dem Ziel des abstrakten Kunstwerkes am nächsten kommt.

"Dichtung... kannte schon immer Augenblicke, in denen der Vers sich zu einer Eigenmacht des Tönens hob, die zwingender wirkt als sein Gehalt. (...) Doch hat älteres Dichten in solchen Fällen nie den Gehalt preisgegeben, eher danach getrachtet, ihn eben durch die Klangdominante in seiner Bedeutung zu steigern. (...) Seit der europäischen Romantik treten andere Verhältnisse auf. (...) Stärker als bisher schieden sich in der Sprache die Funktion der Mitteilung und die Funktion, ein unabhängiger Organismus musikalischer Kraftfelder zu sein. (...) Die Möglichkeit ist erkannt, ein Gedicht durch eine Kombinatorik entstehen zu lassen, die mit den tönenden und rhythmischen Elementen der Sprache schaltet wie mit magischen Formeln. Aus ihnen, nicht aus der thematischen Planung, kommt dann ein Sinn zustande - ein schwebender unbestimmter Sinn, dessen Rätselhaftigkeit weniger von den Kernbedeutungen der Worte verkörpert wird als vielmehr von ihren Klangkräften und semantischen Randzonen."

Neben Klang und schillernder Bedeutung sind noch die Chiffren zu erwähnen, Metaphern, die nichts mehr verbildlichen und daher unübersetzbar sind.

Die Ursachen für solche Dichtung, die keine Aussage über die Wirklichkeit machen, sondern selbst eine autonome, sich selbst genügende Wirklichkeit sein will (L'art pour l'art, poésie pure), liegen in der modernen Zeit selbst (s. Punkte 1 bis 3). Gegen die schlechte Realität, gegen die genormte und leere Sprache und gegen veraltete literarische Traditionen (z.B. bestimmte Reime und Bilder in Gedichten) versuchen die modernen Lyriker durch eine neue Sprache eine eigene Welt zu errichten, die von der Wirklichkeit frei ist. Die Gedichte stellen also durch ihre Abgeschlossenheit von der Wirklichkeit einen Protest gegen diese Wirklichkeit dar. Die Dichter wollen aber auch der Welt, die sie für sinnlos halten, einen neuen Sinn geben, den sie im autonomen Kunstwerk sehen.

Das moderne Drama

Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts nennen Theaterautoren ihre Produktionen nicht mehr "Drama" oder "Tragödie", da diese Kategorien ein für sich selbst verantwortliches, autonomes, bewusstes Individuum (eben einen "tragischen Helden") voraussetzen, das sich in freier Wahl für ein bestimmtes Handeln entscheidet und unter bestimmten Umständen daran zerbricht, weil es handelnd in Konflikt gerät mit Prinzipien einer gleichrangigen Wertebene. Tragödien werden geschrieben, um eine bessere Gesellschaft zu erreichen, in der Tragödien nicht mehr vorkommen müssen. Geht diese utopische, optimistische Perspektive verloren, ist auch der Begriff der "Tragödie" sinnlos.

Stattdessen hat sich der nichts sagende Terminus "Stück" eingebürgert. In ihm spiegelt sich die Beobachtung eines Menschentyps wider, der geprägt ist von Handlungs-, Geschichts- und Sinnverlust, von Ohnmacht und Fremdbestimmung inmitten einer übermächtigen Mediengesellschaft bei gleichzeitig zunehmenden Kommunikationsschwierigkeiten.

Folgerichtig hat sich auch der einmal verbindliche Formenkanon der Tragödie aufgelöst:

· Das in sich geschlossene Drama, dessen Verlauf auf eine Lösung oder eine Katasrophe zusteuerte - innerhalb des Theaterstücks wurde also der Konflikt beigelegt oder eine utopische Lösung des Konflikts angedeutet -, wird vom Drama der offenen Form abgelöst. Für dieses ist typisch, dass es den Konflikt, um den es sich dreht, nicht löst, weil es die Mittel für eine Lösung nicht kennt oder vorgibt nicht zu kennen.

· Akte und Szenen verschwinden und machen Platz für nahezu gleichrangige Bilder und Impressionen.

· Der Text wird zum gleichberechtigten Bestandteil eines gestischen, musikalischen und visuellen Gesamtzusammenhanges.

· An die Stelle des dramatischen Konflikts, der sich in Wort und Gespräch, niederschlug, tritt zunehmend der Versuch, etwas Unaussprechliches in Worte zu fassen. Die Sprache als Form der Welterkenntnis und der intersubjektiven Mitteilung versagt zusehends.

V. Die Schätze der Weltkultur

 

Was ein großer Baumeister und guter Patriot schuf – und was in 56 Minuten des Krieges zerstört wurde

Es ist immer wieder ein eigenartiges Gefühl, wenn man in der hohen Eingangshalle der Dresdener Gemäldegalerie steht. An der Kasse drängen sich die Besucher, andere stehen an der Garderobe oder an den ersten Treppenstufen und warten gut gekleidet auf Freunde und Kollegen, mit denen sie die Galerie gemeinsam besuchen wollen. Sie gehen langsam, fast bedächtig, die breiten Stufen hinauf, flüstern da und dort miteinander und betrachten auf dem Treppenabsatz das Fresco des Malers Montemezzano, eines Schülers Veroneses, aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Auf den Gesichtern der Menschen, die nach dem Galeriebesuch die Treppe herabkommen, liegen meist ein Lächeln der Freude und ein Ausdruck von Besinnlichkeit. Ein schönes Erlebnis ist beendet, und oftmals wird gleich der nächste Besuch der Gemäldegalerie geplant.

Der Baumeister dieses festlichen Hauses heißt Gottfried Semper. Er wurde 1834 als Professor an die Akademie nach Dresden berufen und baute hier eine Anzahl schöner Gebäude, wie das Opernhaus, die Synagoge, die Antikensäle im Japanischen Palais, die Villa Rosa und andere Palais und Bürgerhäuser. Er schuf auch das Grabmal für den Komponisten Carl Maria von Weber und ein Denkmal für den Philosophen Schelling. Im Jahre 1847 begann nach den Plänen Sempers der Bau des Galeriegebäudes, das an der Nordseite die heiteren, für Spiele und Feste zu den Hochzeitsfeierlichkeiten des Kurprinzen Friedrich August geschaffenen Bauwerke des Zwingers abschließt.

Es war ein bedeutsamer, aber sehr schwieriger Auftrag, der Semper mit diesem Bau erteilt wurde, und es gab damals gewiss kaum einen Baumeister, der diese Aufgabe so glänzend hätte lösen können. Als Semper im Jahre 1834 auf Empfehlung Schinkels als Direktor der Königlichen Bauakademie nach Dresden berufen werden sollte, befürwortete der Abgeordnete Krause in der Kammer dessen Berufung. „Semper gehört zu den wenigen und auserlesenen Künstlern, die von Zeit zu Zeit im Laufe der Jahrhunderte auftauchen!“ rief der Abgeordnete den Zweiflern zu. „Er ist der einzige Künstler deutscher Zunge, dem man die Herstellung eines ganzen und vollkommenen Kunstwerkes zutrauen kann.“

Ein ganzes und vollkommenes Kunstwerk wurde nicht nur die von Semper erbaute Oper, sondern auch die Gemäldegalerie, für deren Bau Semper sieben verschiedene Pläne anfertigte. Dieses Gebäude musste nicht nur in seinen äußeren Formen entsprechend den in ihm aufzubewahrenden Kunstwerken gestaltet und ausgestattet werden. Es musste nach der Seite des Zwingerhofes als Abschluss des reichverzierten Zwingers mit den Formen des Barockstils zu einer Einheit verschmelzen und sich auf der anderen Seite, nach dem Theaterplatz, den Fassaden der Oper, des Schlosses und der Katholischen Hofkirche harmonisch einfügen.

Der geniale Baumeister Semper wurde mit allen bei der Planung der Galerie immer wieder auftauchenden Schwierigkeiten fertig. Nach achtjähriger Bauzeit war ein Haus entstanden, das nicht nur in der äußeren Gestalt, sondern auch in seinem Inneren den Anforderungen eines modernen und zweckmäßigen Galeriegebäudes entsprach. Gottfried Semper selbst aber hatte den Bau nur planen und späterhin aus der Ferne dirigieren können, während dieser nach seinen Plänen von Hofbaurat Krüger und Oberlandbaumeister Hänel ausgeführt wurde. Denn Gottfried Semper war nicht nur ein genialer Baumeister, sondern auch ein Patriot.

Als Handwerker und Arbeiter, Studenten, Professoren und fortschrittliche Bürger immer stürmischer die Anerkennung der in der Frankfurter Nationalversammlung angenommenen Reichsverfassung forderten, kam es im Mai 1849 in Dresden zu Kämpfen gegen die Reaktion. Gottfried Semper leitete den Bau von mehr als hundert Barrikaden und kämpfte dort Seite an Seite mit dem Komponisten Richard Wagner und anderen fortschrittlichen Künstlern und Wissenschaftlern gemeinsam mit Studenten und Arbeitern für ein geeintes demokratisches Deutschland.

Am 9. Mai 1849 war der Aufstand vom preußischen Militär niedergeschlagen - der Kampf beendet. Hunderte toter oder verwundeter Freiheitskämpfer blieben auf den Barrikaden liegen. Richard Wagner und Gottfried Semper mußten ins Ausland emigrieren, denn sie wurden „wegen wesentlicher Teilnahme an der in der hiesigen Stadt stattgefundenen aufrührerischen Bewegung“ steckbrieflich verfolgt.

Viele Jahre verbrachte Semper, getrennt von seiner Familie und voll Sehnsucht nach der Heimat, als Emigrant im Ausland. Eine Zeitlang lebte er in England, später in der Schweiz. Erst 1863 - nach vierzehn Jahren - konnte Semper endlich nach Dresden zurückkehren, nachdem ihm am 8. Mai desselben Jahres das sächsische Justizministerium mitgeteilt hatte, daß „unter heutigem Tage Verordnung ergangen“ sei, „den von der vormaligen Stadtpolizei-Deputation gegen Sie wegen Ihrer Beteiligung an den hochverräterischen Unternehmungen in den Maitagen 1849 unterm 16. Mai 1849 erlassenen Steckbrief zurückzunehmen und solches mit tunlicher Beschleunigung bekanntzugeben, wovon Sie hierdurch benachrichtigt werden“. Der große deutsche Patriot kehrte danach in seine Heimat zurück, um seine Arbeit als Baumeister fortzusetzen.

Viele Besucher betrachteten die Schönheit des Semperschen Museumsbaues, die Bögen und kunstvollen Rosetten mit der gleichen Freude wie die darin ausgestellten Gemälde. Doch dieses schöne Haus versank ebenso wie viele andere vor Jahrhunderten erbaute kulturhistorisch wertvolle Gebäude beim anglo-amerikanischen Terrorangriff auf Dresden in Schutt und Asche.

Als am 13. Februar 1945 abends 22 Uhr 9 Minuten die ersten Bomben auf die schöne Kunst- und Kulturstadt fielen, konnten ihre Bewohner noch nicht das ganze Ausmaß des Bombenangriffs und der ihnen drohenden Gefahr ermessen. Pausenlos warfen die Bombengeschwader in den 24 Minuten des ersten Angriffs Phosphorkanister und Bomben auf das dicht bebaute Zentrum der Stadt, das bald lichterloh brannte. In dieses entsetzliche Flammenmeer, in dem Wohnhäuser, öffentliche Gebäude und Kirchen zerbarsten, in dem Tausende Menschen verbrannten oder durch herabbrechende Trümmer erschlagen wurden, warfen wenig später um l Uhr 22 Minuten die Bombengeschwader bei dem zweiten, 32 Minuten währenden Bombenangriff erneut ihre Tod und Verderben bringende Last ab. Insgesamt wurden von etwa 1800 englischen und amerikanischen Flugzeugen über eine halbe Million Brand-, Flammenstrahl- und Flüssigkeitsbomben und 6000 schwere Sprengminen und Sprengbomben auf das schöne Elbflorenz abgeworfen.

Das Ergebnis dieses Angriffs war grauenvoll. Kilometerweit bis in die Tschechoslowakei und bis nach Halle hin zog sich der Feuerschein der tagelang brennenden Stadt. Die Leiden der Bewohner waren unbeschreiblich. Viele wurden verschüttet; Überlebende versuchten, sich durch eingestürzte Keller ins Freie zu graben. Gelang es nicht, so kamen sie unter den Trümmern um. Anderen waren die Lungen geplatzt. Der entsetzliche Sog des Feuersturms zog flüchtende Frauen und Kinder in die Flammen und verbrannte sie. Stürzende Balken zerrissen die Körper. Und Tausende, die sich aus der Glut der Innenstadt auf die Elbwiesen oder in den Großen Garten retten konnten, wurden beim zweiten Luftangriff durch Bomben oder durch Maschinengewehrfeuer von Tieffliegern getötet.

Viele Menschen waren wie leuchtende Fackeln in den Löschteich am Altmarkt gesprungen und hatten gehofft, im Wasser die brennende Glut der Kleidung abzuschütteln und sich retten zu können. Aber niemand kam aus dem Teich wieder heraus. Die glatten Wände ließen keinen Halt finden, und ein Hilfesuchender zog den anderen in die Tiefe.

Der Februar 1945 war mild, und es drohte Seuchengefahr, wenn die Leichen liegenblieben. Die an der Vernichtung von Leichen erprobten Sonderkommandos der Nazis holten einige Tage nach dem Angriff auf dem Altmarkt Eisenroste aus den zerstörten Häusern. Ausgerüstet mit den Erfahrungen von Auschwitz, Maidanek, Buchenwald und anderen Lagern, beseitigten die SS-Männer auch die Menschen, die beim Terrorangriff auf Dresden umgekommen waren. Tagelang schichteten sie auf dem Altmarkt die Toten auf Roste, begossen sie mit Benzin und zündeten sie an. Über 5000 wurden auf diese Weise verbrannt. Die amtliche Meldung sprach von insgesamt 35000 Toten. Wie viele es wirklich waren, wird nie zu ermitteln sein. Denn außer den Einwohnern der Stadt befanden sich zur Zeit des Angriffs einige Hunderttausende Evakuierte und Flüchtlinge, Urlauber und Verwundete in Dresden, die dort nirgendwo registriert waren.

Bei den zwei kurz aufeinanderfolgenden Bombenangriffen, die zusammen nur 56 Minuten dauerten, wurden von 220000 Wohnungen 80000 total zerstört, und nur ein Fünftel aller Wohnungen blieb unbeschädigt. Alle übrigen, fast 100000 Wohnungen, wurden schwer oder leichter beschädigt. Aber nicht nur Wohnhäuser, sondern auch Krankenhäuser und Kirchen, Schulen und Theater sowie die alten kulturhistorisch so wertvollen Gebäude erlitten durch den Bombenangriff schwere Schäden. Der schöne Barockbau des Zwingers wurde zerstört: Das Kronentor, der Glockenpavillon und der Wallpavillon brannten aus; zerschlagen und zerborsten lagen die schönen Kapitelle, die Putten und Figuren, die von der Meisterhand eines Permoser geschaffen worden waren. Das Operngebäude, die Katholische Hofkirche, das einzige Bauwerk des italienischen Baumeisters Chiaveri in Deutschland, das Gewandhaus, die Secundogenitur auf der Brühlschen Terrasse, das Albertinum und das Johanneum, das Japanische Palais, das Taschenbergpalais und das Palais im Großen Garten mit den zierlichen Kavalierhäusern - alle diese herrlichen Bauten wurden durch Bombenhagel und Flammen zerstört. Die Frauenkirche, einst das Wahrzeichen der Stadt Dresden, erhielt zwar nur einen einzigen Treffer, der aber bis in die Katakomben durchschlug und das dort aufbewahrte Filmmaterial des faschistischen Luftfahrtministeriums entzündete. Die Flammen schlugen in den Kirchenraum, ergriffen die kostbaren geschnitzten Kirchenstühle, die Silbermannorgel, und von innen her ausgeglüht, stürzte die mächtige Kuppel der Frauenkirche, stürzten die Säulen und Steinwände zusammen.

Auch Sempers Galeriebau wurde zerstört. Der Ost- und der Mittelflügel brannten aus, der Westflügel wurde durch Volltreffer völlig vernichtet. Eine düstere Ruine mit rauchgeschwärztem, totem Mauerwerk war von dem übriggeblieben, was Künstler einst als ein Meisterwerk des genialen Baumeisters Semper gepriesen hatten, als ein Bauwerk, dessen „architektonische Formen und Maße so reich“ waren, dass „das Auge nicht satt wird, den schönen Linien und Details zu folgen“.

An all den schönen Linien und Details können sich die Besucher der Dresdener Gemäldegalerie heute wieder erfreuen. Das zerstörte Sempersche Galeriegebäude wurde in seiner Fassade genau nach den alten Plänen aufgebaut. Die Eingangshalle und das Treppenhaus wurden wie einst durch Rundbögen verziert. Jede Rosette, jede feine Linie der Stuckarbeiten, jeder Fenstersims und jeder Mauerstein, ja selbst jede Farbnuance wurde getreu den Originalen wiederhergestellt. In den Ausstellungsräumen aber wurden die Gemälde zur Freude der Besucher nach modernsten Gesichtspunkten angeordnet.

Bei den Meisterwerken der Gemäldegalerie

Alte Meister

Nein, es ist nicht möglich, alles auf einmal zu sehen. Darum greifen wir auch gern den Rat auf, den Arnold Zweig den Besuchern der Dresdener Gemäldegalerie ans Herz legte: „Wer sich einen Überblick über das vorhandene kostbare Gut verschafft hat, wähle sich ein halbes Dutzend Schauobjekte aus, um bei ihnen zu verweilen, und kehre dem übrigen Reichtum entschlossen den Rücken.“

Das ist in der Tat ein guter Rat, der jeden bei seinem Gang durch die Gemäldegalerie begleiten sollte. Denn es ist ganz unmöglich, alle Werke der Galerie bei einem Besuch aufzunehmen und zu erfassen. Aus seiner Reife, Lebenserfahrung und Klugheit heraus empfahl der greise Dichter, die Galerie wiederholt zu besuchen. Denn „nur Vertiefung in einzelne Schöpfungen führt zu wirklicher Erleuchtung und Bereicherung“!

Wie recht Arnold Zweig hat, das empfinden wir schon im ersten Saal, den wir im Erdgeschoß betreten. An den hohen Wänden, von künstlichem, sehr hellem und klarem Oberlicht bestrahlt, hängen riesige Bildteppiche. Zwei dieser Gobelins sind niederländische Wandbehänge, die im 16. Jahrhundert in Brüssel gewebt wurden. Sie zeigen Motive aus der Kreuzigung und der Himmelfahrt Christi. Die anderen fünf größeren Wandteppiche enthalten Darstellungen aus der Geschichte der Apostel. Papst Leo X. hatte die Entwürfe zu diesen „Tafeln“ bei dem großen Meister der italienischen Renaissance, bei Raffaelo Santi, im Jahr 1515 für die Sixtinische Kapelle des Vatikans in Rom bestellt und von Brüsseler Webern herstellen lassen. Mehr als hundert Jahrespäter wurden die gleichen Motive in England noch einmal gewebt. Der schönste dieser Wandteppiche nach Raffaelschen Kartons enthält die Legende vom wunderbaren Fischzug.

Die Motive auf den Wandteppichen treten so deutlich hervor, daß man glaubt, die Menschen und die Tiere greifen zu können, das Wasser fließen und rauschen zu hören. Es ist beim heutigen Stand der Technik beinahe unvorstellbar, dass diese herrlichen großen Teppiche auf primitiven Handwebstühlen gewebt wurden. Das Muster - der Karton von Raffael — lag unter der Webarbeit, so dass dem Weber stets die Rückseite zugekehrt war. Welch großes Können war erforderlich, wie viel Mühe und Zeit mag es gekostet haben, einen solchen Wandbehang zu weben, und wie gering wurden diejenigen entlohnt, die Raffaels Zeichnungen über die Webstühle auf die Teppiche zauberten.

Wir verlassen den Gobelinsaal und begeben uns in das erste Obergeschoß. Es ist wie ein Symbol: In dem ersten Raum, den wir dort betreten, sehen wir Gemälde von Bernardo Bellotto, Canaletto genannt, in denen er das alte Dresden in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit perspektivischer Genauigkeit festhielt. In dem gleichen Raum können wir in einer Gedenkstätte auch die Fotos und Dokumente betrachten, die vom Wachsen und Werden der Gemäldegalerie und der alten Stadt Dresden sowie von der Zerstörung des Galeriegebäudes durch den grauenvollen anglo-amerikanischen Terrorangriff erzählen. Aber schon lockt die hohe Rotunde mit ihren großformatigen Bildern von Rubens, Guido Reni, Jacob Jordaens und Carracci, lockt vor allem das Hauptgeschoß mit den großen Oberlichtsälen und den vielen kleinen Kabinetten. Und während Gemälde um Gemälde an uns vorbeizieht, denken wir oft an den weisen Rat Arnold Zweigs. Wir beschränken uns und wenden manchem Schönen den Rücken.

„Der Ruhm der Gemäldegalerie leitet sich von ihrem überwältigenden Reichtum- an italienischen und niederländischen Meisterwerken des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts her, die in gleicher Fülle und Güte wohl an kaum einem anderen Ort der Welt wieder anzutreffen sind“, heißt es im Vorwort zum Katalog der Sempergalerie. Unser kluger Ratgeber wird es verzeihen, wenn wir darum vor diesen Meisterwerken ein wenig länger verweilen.

Rechts von der Rotunde begegnen wir in drei großen Oberlichtsälen den flämischen und holländischen Meistern. „Was der Künstler nicht geliebt hat, und nicht liebt, soll er nicht schildern“, schrieb Johann Wolfgang von Goethe in „Betrachtungen über die Kunst“, und er fügte hinzu: „Ihr findet Rubens' Weiber zu fleischig? Ich sage euch, es waren seine Weiber...“ Ja, Rubens' Frauengestalten sind die Ideale seiner Zeit und seines Lebens. Dort leuchten die vollen Gestalten auf „Dianas Heimkehr von der Jagd“, auf „Der trunkene Herkules“ und auf „Der Tugendheld, von der Siegesgöttin gekrönt“. Mit diesen und vielen anderen ähnlichen Gemälden gab Rubens nicht nur sein eigenes Idealbild, entsprach er nicht nur dem Geschmack seiner Zeit, sondern erfüllte auch die Aufträge der Fürsten, die kraftvoll gezeichnete, blühende Frauengestalten - eingebaut in biblische Szenen oder Themen aus der griechischen Mythologie - von Rubens wünschten.

Aber hier hängt ein anderer Rubens – „Die Alte mit dem Kohlenbecken“. Was mag den Meister wohl veranlasst haben, in die Ecke seines Gemäldes „Venus in einer Grotte Schutz suchend“ dieses köstliche Detail hineinzumalen, mit beinahe Rem-brandtscher Farb- und Lichtgestaltung? Seinem Auftraggeber gefiel dieser Bildteil nicht, die Säge musste ihn darum aus der Holztafel herausschneiden. Als Gemälde, das von Rubens' Können auf andere Art zeugt, blieb es zum Glück erhalten.

Fast fünfzig Jahre war Rubens alt, als er zum zweiten mal heiratete. Seiner jungen, erst sechzehnjährigen Frau setzte der Meister in einem der schönsten und bekanntesten Bilder der Gemäldegalerie ein Denkmal – in seiner „Bathseba am Springbrunnen“. Nach einer alten Legende sieht König David von dem Balkon seines Palastes die Frau seines Feldhauptmanns, die junge, schöne Bathseba. Er sendet ihr durch einen Mohren seine Liebeswerbung. Spürt man nicht ganz deutlich, wie die lebensfrohe, sinnliche Frau bereit ist, die Werbung des Königs anzunehmen? Und wie ist es Rubens gelungen, den jungen, kraftstrotzenden Frauenkörper lebendig werden zu lassen, die Schönheit des hellen Fleisches durch das Dunkel des nahen Gesichts des Mohren herauszuheben. Der leicht geöffnete Mund des kleinen Liebesboten soll zeigen, wie der Knabe die Schönheit des Frauenkörpers bestaunt und – wie der große Meister Rubens selbst seine junge Frau verehrt, wie er ihre Schönheit bewundert.

Van Dyck gilt als einer der größten Porträtmaler seiner Zeit. Ähneln Inhalt und Gestalten seines Gemäldes „Der trunkene Silen“ ein wenig den fülligen und kraftstrotzenden Gestalten von Rubens, dessen Schüler van Dyck war, so zeigen seine Porträts, wie zum Beispiel im „Bildnis eines schwarz gekleideten Herrn vor einer Säule“, eine schlicht-herbe Kraft. Das bekannteste Bild van Dycks ist „Der heilige Hieronymus“ das aus der Frühzeit seines Schaffens stammt.

„Es ist töricht, von einem Künstler zu fordern, er soll viel, er soll alle Formen umfassen“, sagte Goethe in den „Betrachtungen über die Kunst“. „Wer allgemein sein will, wird nichts; die Einschränkung ist dem Künstler so notwendig, als jedem der aus sich etwas Bedeutendes bilden will. Das Haften an denselben Gegenständen, an dem Schrank voll alten Hausrates und wunderbaren Lumpen hat Rembrandt zu dem Einzigen gemacht, der er ist. Denn ich will hier nur von Licht und Schatten reden...“

Rembrandt van Rijn, der Müllerssohn aus Leiden in Holland - er ist in der Tat zu dem „Einzigen“ geworden. Licht und Schatten treten uns aus dem Saal entgegen, der gefüllt ist mit den Werken dieses großen Meisters.

Da holt nach einer griechischen Sage ein kräftiger Adler im Auftrage des mächtigen Gottes Zeus den irdischen Jüngling Ganymed in seinen Fängen von der Erde, um ihn zu den Göttern auf den Olymp zu entführen. Rembrandts Meisterhand hatte aus Protest gegen die Tatsache, dass seine Malerkollegen Themen aus der antiken Mythologie den Themen ihres Lebens vorzogen, den Schalk spielen lassen und den geraubten Jüngling als ein Knäblein dargestellt, das greinend und voll Schreck über den Überfall sein kleines Geschäft verrichtet. Aus Rembrandts „Opfer des Manoah“ spricht nicht nur die Sehnsucht der Mutter nach einem Kind schlechthin. Rembrandt waren in seiner so glücklichen Ehe mit Saskia drei Kinder geboren und wieder gestorben. Seinem und seiner geliebten Frau heißem Verlangen nach einem Kind gibt der Meister in diesem Gemälde wundervollen künstlerischen Ausdruck. Ob die Angst um die Erfüllung des eigenen Wunsches den Meister veranlasste, den Kopf des Mannes von dem Opferfeuer abzuwenden und voll Sorge auf seine in brünstiges Gebet versunkene Frau zu richten, oder ob Rembrandt es vorausgeahnt hat, dass die Erfüllung Saskias und seines eigenen heißen Wunsches zugleich den Tod, die Trennung von seiner geliebten Frau bringen würde?

Dort lächelt die junge Saskia van Uijlenburgh, das reiche adlige Mädchen, seine geliebte Braut. Voll Zärtlichkeit und Glück über ihre Liebe und die baldige Ehe scheint sie auf den Maler zu blicken. Und wieder Saskia - diesmal mit dem Selbstbildnis des Meisters, als junge Frau auf dem Schoß ihres Gatten, geschmückt von der Liebe und Zärtlichkeit des Mannes, dem sie ganz zu eigen ist. Saskia noch einmal – „Mit der roten Blume“, die sie wohl als Liebespfand dem Gatten entgegenhält. Aus ihren Augen spricht nun schon das Leid um den Tod der Kinder, die Sehnsucht nach dem, der leben sollte, die Sehnsucht nach dem Sohn Titus, für den sie, die als liebreizende Gattin dem Meister so viel Glück und Freude spendete, dass er zu höchstem und erfolgreichstem Schaffen angeregt wurde, ihr Leben opfern musste.

Ja, Rembrandt hatte Erfolg, er gehörte in seiner Jugend zu den beliebtesten und bestbezahlten Malern seiner Zeit. „Ein großer Maler“, so sagte Goethe, „lockt durch große und kleine empfundene Naturzüge den Zuschauer, dass er glauben soll, er sei in die Zeiten der vorgestellten Geschichte entrückt und wird nur in die Vorstellungsart, in das Gefühl des Malers versetzt. Und was kann er im Grunde verlangen, als dass ihm Geschichte der Menschheit mit und zu wahrer menschlicher Teilnehmung hingezaubert werde?“

Der glückliche und der erfolgreiche Meister des holländischen Bürgertums hatte die „Geschichte der Menschheit“ oftmals mit vieler und wahrer „menschlicher Teilnehmung“ hingezaubert. Seine helldunklen Töne verbargen und zeigten zugleich das menschliche Glück und das große menschliche Leid. Und es war nicht nur das Leid um seine tote Saskia, es war das Leid, das er mit der Menschheit empfand, so dass er, der eigensinnige Künstler, allmählich dazu kam, Themen für seine Bilder zu wählen und sie so zu gestalten, daß seine reichen Auftraggeber nicht mehr zufrieden mit ihm waren. So verscherzte der große Meister deren Zuneigung, er wurde boykottiert, erhielt keine Aufträge, kam in Not und Sorgen um das tägliche Brot.

Auch seine zweite Frau, die liebenswerte Hendrikje Stoffels, starb, und der alternde, einsame Rembrandt gab seinen Gefühlen in seinen Gemälden Ausdruck. Voller Reife des Alters, aber oftmals auch voller Bitterkeit sind diese Werke. So seine Selbstbildnisse als alter Mann, in denen nichts mehr von der Lebenskraft und Lebensfreude seiner Selbstbildnisse aus der Zeit der Jugend, des Erfolges und des Glücks – wie dem als Rohrdommeljäger – zu erkennen ist. Seine große Meisterschaft zeigte er noch einmal in dem „Bildnis eines Mannes mit Perlen am Hut“, das er zwei Jahre vor seinem Tode, im Jahre 1667, malte.

Zwei Gemälde eines anderen großen Künstlers, in ihrer Art jedoch ganz verschieden, sind nach dem Helldunkel der Rembrandtbilder in ihrem Inhalt, ihrer Gestaltung und ihrer Farbgebung besonders interessant. Das helle Gelb des Mieders des von einer alten Frau an den reichen, aber nicht mehr jungen Mann verkuppelten blühenden Mädchens leuchtet uns entgegen. Mit welchem Geschick hat Vermeer van Delft es verstanden, die Habgier der Kupplerin, die auf die Bezahlung durch den reichen Mann wartet, die Gier des Mannes selbst darzustellen. Vermeer van Delfts „Bei der Kupplerin“ ist ein Meisterwerk, das eine Szene aus dem Alltag zeigt - denn unter den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen waren Frauen nur zu oft gezwungen, sich für Geld zu verkaufen. Eine Szene aus dem Alltag ist auch Vermeer van Delfts anderes Bild, das „Brieflesende Mädchen“. Verhalten sind im Gegensatz zur „Kupplerin“ hier die Farben, und doch leuchten sie. Die Sonne dringt durch das geöffnete Fenster und wirft ihre Strahlen auf den in tiefe Falten gelegten Seidenvorhang. Das ruhige Gesicht des jungen Mädchens, das gewiss den Brief seines Liebsten liest, spiegelt sich in den Scheiben des Fensters wider. Jedes kleinste Detail der in Falten liegenden Sofadecke ist mit der größten Liebe und Meisterschaft gezeichnet.

Nicht weniger meisterhaft und reizvoll sind die vielen kleinformatigen Bilder der niederländischen Kleinmeister, die fast durchweg das Leben der Bauern im Alltag oder andere volkstümliche Szenen zeigen. Da ist Hans Bohl mit der „Dorfkirmes vor der Kirche“ oder dem „Wasserturnier auf dem Weiher im Haag“, da sind Adriaen van Ostades köstliche Bauernszenen, da sind Gerard Terborch, Gabriel Metsu, Frans van Mieris der Ältere, Gerard Dou und Caspar Netscher, Brueghel und Wouwerman, da ist Adriaen Brouwers in seiner Thematik so ganz aus dem täglichen Leben gegriffenes kleines Bild, das er selbst mit dem Titel „Unangenehme Vaterpflichten“ bezeichnete. Da gibt es Spezialisten, die besonders Landschaften malten oder Architektur, während andere wiederum Stillleben mit Früchten oder Blumen bevorzugten. Kostbar glänzender Stoff der Kleidung oder der Vorhänge zeugt vom Reichtum des Bürgertums, das viele dieser Gemälde gern bestellte und zum Schmücken der Zimmer benützte.

Geht man wieder über die Rotunde auf die linke Seite der Sempergalerie,wo in den anderen drei großen Oberlichtsälen die alten italienischen Meister hängen, dann begegnet man zuerst Paolo Caliari, genannt Veronese, dessen Gemälde zu den kostbarsten Werken der italienischen Hochrenaissance gehören. Auf seinem Hauptwerk „Die Madonna mit der Familie Cuccina“ führen die personifizierten drei Haupttugenden - Glaube, Liebe und Hoffnung - die Mitglieder der Familie Cuccina der zwischen Johannes dem Täufer und dem heiligen Hieronymus thronenden Madonna zu. Aber während die Madonna mit dem Kind und die Heiligen nur etwa ein Drittel des Gemäldes einnehmen, sind für den Auftraggeber des Malers, Cuccina und dessen Familie, etwa zwei Drittel des über vier Meter breiten Gemäldes bestimmt.

Reich und mächtig war der Besteller des Bildes. Wie könnte der Maler dem mehr Ausdruck geben als durch die Gewährung des Raumes, in dessen Vordergrund der reiche Patrizier mit seiner prächtig gekleideten Gattin und ihren acht Kindern gestellt ist. Zwar kann das kleinste der Kinder nur auf den Armen der Amme hereingetragen werden, aber die Amme selbst wendet ihren Kopf ab, denn sie sollte nicht porträtiert werden. Der Reichtum und die Macht der Familie Cuccina werden auf dem Gemälde auch durch den Palast ausgedrückt, der im Hintergrund des Bildes aufleuchtet, während die Madonna nur aus einem Raum hervorzutreten und der reichen Familie entgegenzukommen scheint. Die drei Gestalten der Haupttugenden sind in die ihnen zugedachten symbolischen Farben gekleidet: Weiß ist die Farbe des Glaubens, die Hoffnung drückt das grüne Gewand aus, die Liebe das rote. Während aber hier nur die Farben leuchten, spiegeln die Gewänder der Familienmitglieder alle Pracht und den Reichtum des Raumes in vielen Details wider.

Wo soll man in dem nächsten Saal zuerst hingehen - wo länger verweilen? Giorgiones „Schlummernde Venus“ leuchtet in ruhiger Schönheit und fordert Zeit zur Betrachtung. Es ist das erste Aktbild, ohne religiösen Vorwand gemalt. Giorgione schuf es ohne Bestellung, aber auch ohne Modell, den Frauenkörper nach den Schönheitsidealen seiner Zeit mathematisch berechnend. Der Maler verteilte das Licht über den ganzen Körper gleichmäßig und schuf eine wunderbare Einheit von Mensch und umgebender Natur. Giorgione konnte dieses Bild nicht selbst vollenden. Er wurde innerhalb von zwei Tagen von der Pest aus seinem Schaffen gerissen. Es ist ein Glück, dass dieses schöne Gemälde der Menschheit erhalten wurde. Der junge, noch unausgeglichene Tizian vollendete die Landschaft; er malte auch das Tuch, auf dem der Frauenkörper ruht, und gab diesem die leuchtende Kraft seiner Jugend und seiner jungen, drängenden Kunst.

Palma Vecchios „Drei Schwestern“ scheinen neben Giorgiones „Schlummernder Venus“ in ihren Gesichtszügen ein wenig zu verblassen. Und doch sind die Farben leuchtend. Die drei Venezianerinnen sind nach dem damaligen Schönheitsbegriff gemalt, bei dem als beliebter und durch künstliche Mittel oft mühsam erzeugter Gegensatz das blonde Haar und die dunklen Augen der Südländerinnen hervorgehoben wurden.

Dort hängen die Porträts von Tizian, dem Meister der Porträtkunst, dem Fürsten der Maler und dem Maler der Fürsten, wie Tizian oft genannt wird. Und wahrlich: Tizians „Zinsgroschen“ ist ein Kunstwerk, das allein zu betrachten schon einen Besuch in der Gemäldegalerie lohnt. Wie charakteristisch sind die beiden Köpfe - Christus und der Pharisäer - auf die sich in dem Gemälde alles konzentriert. Dunkel und scharf geschnitten ist das Profil des Pharisäers, hell, weich und leuchtend das ihm zugewandte Gesicht seines Gegenspielers. Die warmen Farben des Gewandes hellen das Gesicht Christus' auf, während das Weiß des Hemdes das dunkle, scharfe, lauernde Profil des Pharisäers noch schärfer heraustreten läßt. Tizian, der das Bild im Auftrage des Herzogs Alfons von Ferrara malte, hielt meisterhaft den Augenblick fest, da von Christus die Beantwortung der Frage gefordert wird, ob man dem Kaiser Steuern zahlen soll oder nicht. Christus, der die heuchlerische Absicht des Fragestellers durchschaut, läßt sich den Denar zeigen, in den Bild und Name des Kaisers eingeprägt sind. Auf seine Frage, wessen Bild das ist, antwortet der Pharisäer: „Des Kaisers Bild.“ Und Christus erwidert darauf: „Gebet also Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist!“

Tizians „Zinsgroschen“ ist auf sehr empfindliches Pappelholz gemalt, das im Gegensatz zu vielen anderen Gemälden, die in den hohen Sälen ausgezeichnet erhalten bleiben, stets eine besondere Pflege und konstante Luftfeuchtigkeit benötigt. Darum wurde nach langen Versuchen für dieses Gemälde eine Vitrine mit einer besonderen Klimaanlage geschaffen. „Seit Mitte 1962...“, so berichtete Karl-Heinz Weber, der Chefrestaurator der Gemäldegalerie, „war das Bild, außer der zur Bearbeitung notwendigen Zeit, im Depot bei einer relativen Luftfeuchte von etwa 65 bis 70 Prozent und 20 bis 22 Grad Celsius aufbewahrt worden. Da sich nach der Restaurierung im April 1964 bis August 1967 keine Nachteile zeigten, galt das als Bestätigung dafür, dass die Tafel zur Erhaltung ihres Holzfeuchtegleichgewichtes diese Werte benötigt.“

Diese Feststellung traf zu. Jetzt und gewiss noch viele Jahrzehnte wird in dieser geschmackvollen Vitrine mit der ihr gemäßen Temperatur und Feuchtigkeit die früher immer wieder „krank“ gewordene kostbare Tafel von Tizian „gesund“ bleiben und Millionen Besucher durch den Glanz der Farben und die großartige Malweise erfreuen.

Tizians „Maria mit dem Kinde und den vier Heiligen“ steht in seiner Farbkraft in beinahe seltsamem Gegensatz zu dem Dunkel des Gewandes eines Mannes mit einer Palme. Des Meisters Tochter hält kokett den Straußenwedel in die Höhe, so als wollte ihr Vater sagen: Seht, dieser Wedel, das Zeichen des Reichtums, soll euch, den zukünftigen Beschauern, zeigen, wie sehr mich meine Auftraggeber schätzen, wie viel ich mit meiner Kunst verdiene. Und mit welchem lieblichen Stolz trägt die weißgekleidete venezianische Schönheit den Fächer, der der Jungvermählten in ihrer neuen Würde gegeben ist.

Correggios „Heilige Nacht“ zieht uns ebenfalls in ihren Bann. Es zeigt dieses vielgewählte Thema in einer ganz neuen Auffassung. Der Künstler malte eine wirkliche Nacht. Dunkel umgibt die Hütte. Aber aus diesem Nachtdunkel heraus scheint das soeben geborene Kind selbst das Licht zu spenden, so viel strahlendes Licht, dass die Menschen sich geblendet abwenden müssen. Nur die Madonna, die Mutter des Kindes, kann den vollen Lichtschein ertragen. Und während sie ihr Kind mit mütterlicher Geste umfängt, scheint auch von ihr aus das Licht in die Welt hineinzustrahlen. Licht und Schatten - das sind Probleme, durch die viele Maler der Renaissance stark beeinflusst wurden, während die hellen und leuchtenden Farben Ausdruck der venezianischen Malschule sind.

Besonders kostbar sind die Meister der italienischen Frührenaissance, die einen würdigen und schönen Rahmen für die an der Stirnseite des dritten Oberlichtsaales hängende „Sixtinische Madonna“ bilden. In diesen frühen Werken drückt sich der gewaltige Fortschritt aus, der sich auch in der Kunst dieser Zeit entwickelte. Sandro Botticellis „Vier Szenen aus dem Leben des heiligen Zenobius“ behandeln zwar ebenfalls ein Thema, das von der Wundermacht des religiösen Glaubens erfüllt ist. Aber mit realistischer Genauigkeit malte Botticelli auf einer Tafel vier Geschehnisse: wie ein Knabe überfahren wird, wie die verzweifelte Mutter ihren kranken Sohn zur Heilung dem Heiligen übergibt, wie der heilige Zenobius den geheilten Knaben der Mutter wieder zurückführt und schließlich den Tod des heiligen Zenobius. Die Schilderung der religiösen Szenen ist klar und tief. Doch Botticelli will sich nicht mehr allein auf diese Schilderungen beschränken. Sein Anliegen ist es, daneben auch vielerlei aus dem Alltagsleben zu erzählen. Die Menschen bewegen sich, sie leben.

Auf Francesco Cossas „Die Verkündigung“ werden die Menschen von schöner Architektur umrahmt. Die Architekturbögen sind korrekt und mit äußerster Genauigkeit durchgezeichnet. Man spürt bereits den Versuch einer Perspektive, obwohl Farben und Formen des Hintergrundes genauso deutlich hervortreten wie die des Vordergrundes. Aber hier, wie in vielen anderen Gemälden jener frühen italienischen Meister, so zum Beispiel auch in Mantegnas „Heiliger Familie“, einem der schönsten Bilder der Dresdener Gemäldegalerie, ist spürbar, wie statt der rein religiösen Motive für den Maler neue Aufgaben in den Vordergrund getreten sind: Porträts, Landschaften, Architektur und Innenräume. Für den Akt und für das Porträt liefert die Antike das Vorbild. So zeigt der Kopf des Josef in Mantegnas „Heiliger Familie“ eindeutig die Züge eines alten Römers.

Pinturicchios „Bildnis eines Knaben“ ist eines der frühesten Porträts, das keine religiöse Thematik zum Inhalt hat. Es zeigt einen Knaben in der Tracht seiner Zeit, mit trotzig aufgeworfenem Mund und dem fragenden und forschenden Blick eines Knaben in jener Entwicklungsstufe, in der das Leben täglich neue Aufgaben stellt und neue Erkenntnisse bringt. Den Hintergrund dieses frühen Porträts bildet eine sogenannte „ideale“ Landschaft, die der Künstler aus vielerlei Motiven und nicht nach der Wirklichkeit gemalt hat.

Es ist besonders interessant, in diesem Raum zwei Gemälde zu vergleichen, die das gleiche Thema behandeln: „Der heilige Sebastian“, einmal von Cosimo Tura gemalt, ein zweites Mal von Antonello da Messina. Beide Maler sind um 1340 geboren. Während Cosimo Turas Sebastian unter dem Einfluß mittelalterlicher Arbeiten steht und einen Heiligen zeigt, dessen von Pfeilen durchbohrter Körper naturalistisch gemalt wurde und dessen Antlitz ebenso naturalistisch den Schmerz ausdrückt, stellt der von Antonello da Messina unter niederländischem Einfluß entstandene Sebastian einen träumerischen, ruhig blickenden Jüngling dar. Die Legende des Sebastian scheint mehr ein Vorwand zu sein, um einen schönen nackten Jünglingskörper zu malen. Und während Cosimo Tura neben dem religiösen Thema alle Nebenszenen bewußt vermeidet, ist Antonello da Messinas Gemälde voll realistischer Volksszenen: An der Balustrade des mit buntgewebten Teppichen geschmückten Balkons stehen Frauen, auf der Straße geht das Volk, und in einer Ecke liegt ein offensichtlich betrunkener Mann, der seinen Stab und damit das Gleichgewicht verloren hat. Aus dieser vom Leben des Tages erfüllten Atmosphäre scheint der träumende Jüngling trotz des ihm zugefügten Leides kraftvoll herauszuwachsen.

In dem zum Zwingerkomplex gehörenden altdeutschen Saal wurde 1964 bei einer Restaurierung die Innenarchitektur nach den im Jahre 1725 von Pellegrini geschaffenen Entwürfen wiederhergestellt, so daß dort schon der Wandschmuck von Interesse ist. Die Dresdener Gemäldegalerie hat nicht viele, aber dafür einige besonders gute Werke der alten deutschen Meister. Zu ihnen gehört vor allem Lucas Cranach, der für die sächsischen Fürsten malte. Sein 1506 entstandener „Katharinenaltar“ ist eines der schönsten Werke des Meisters. Nicht weniger bedeutend sind Dürers „Bildnis eines jungen Mannes“, sein kostbarer „Dresdener Altar“ und seine Darstellung aus dem Leben Christi, festgehalten auf sieben Holztafeln: „Die sieben Schmerzen Maria“. Bis vor einigen Jahren galten diese Tafeln als Arbeit aus der Werkstatt des Meisters. Inzwischen aber haben Dürerforscher festgestellt, daß die Tafeln von Dürer selbst gemalt wurden. Eine der Tafeln befindet sich in der Münchener Pinakothek.

Zu den bekanntesten Bildern der altdeutschen Meister gehört Holbeins „Bildnis des Sieur de Morette“, des französischen Gesandten in London. Weniger bekannt, aber von besonderem Liebreiz ist die Madonna des Basler Bürgermeisters Jakob Meyer, die man bis Ende des vorigen Jahrhunderts für eines der besten Werke Holbeins im Besitz der Dresdener Gemäldegalerie hielt. Im Jahre 1892 wurde jedoch festgestellt, daß dieses Gemälde eine zwar vorzügliche Arbeit, aber doch nur eine Kopie des Bartholomäus Sarburg ist, um 1637 in Amsterdam nach der „Darmstädter Madonna“ Holbeins gemalt. Das Original aus Darmstadt kehrte nach den Kriegswirren und vielen Irrfahrten erst 1958 in seine alte Heimstatt nach Darmstadt zurück. Es befindet sich als Leihgabe im Basler Kunstmuseum.



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