Stilelemente des Expressionismus 


Мы поможем в написании ваших работ!



ЗНАЕТЕ ЛИ ВЫ?

Stilelemente des Expressionismus



 

In der Sprache der expressionistischen Dichtung findet sich nichts Beschreibendes, Schilderndes, Malendes mehr. Bewußt zerstört der Dichter sogar das grammatikalische Gefüge, wenn dies seiner Idee dienlich ist, denn»Sprache, Gedicht, Musik wollen wie Welt nicht durch Verstand aufgenommen sein… Neuem Menschen genügt nicht alte Voraussetzung: Erkennbarkeit der Welt. Ihm geht es um mehr und weniger als Erkennen: er bemächtigt sich der Welt. Durch Wollen, Schauen, Formen. Wie der Urmensch bemächtigt er sich der tönenden Welt in Tönen. Die Irrwege sprachlicher Evolution liegen hinter ihm. Die Sophismen der Grammatik belächelt er. Das grobmaschige Netz der Logik verwirft er, ohne es übrigens zu zerreißen. Die versteinten Denkformen überläßt er dem Verwittern. Und schafft: Sprache.«(Kasimir Edschmid)

Das Wort als Ausdruck bekommt damit eine ganz neue Bedeutung.»Es wird Pfeil«(Edschmid); der Pfeil trifft ins Innere, er enthüllt den Kern der Dinge. Und wie die Dinge in ihrem Wesen sind, so wird die Sprache lapidar-unbeholfen, brutal, zerbrechlich, gefährlich, hart, scharf, innig oder glutvoll sein. Da aber die Welt ekstatisch erlebt wird, verschwinden die feinen Nuancen, während die Kontraste an Wert gewinnen. Letzte Konsequenz expressionistischer Sprache ist der pathetische»Schrei.«Die Verwandtschaft zum Barock und zum Sturm und Drang ist wiederum offenkundig: Die»Zentnerworte«der Barockdichtung haben die Expressionisten wiederentdeckt, auch das Stammeln der Stürmer und Dränger gehört zu ihrer Sprachgebärde. Raum und Zeit als Kriterien realistischen Welterfahrens sind in der expressionistischen Sprache aufgehoben; ja dort, wo die Phantasie des Dichters am radikalsten die Welt zerstört, entstehen die reinsten Gebilde neuer Dichtung. Die literarischen Gattungen sind unterschiedlich beteiligt: es dominiert die Lyrik und das Drama. Dem Wesen des Expressionismus kommt das Drama weit entgegen. Es ist in allem das Gegenstück zum naturalistischen und impressionistischen Drama. Es will vor allem große Symbole schaffen, die die Vision des Dichters verdeutlichen sollen, und von den Zufälligkeiten des Einzelschicksals wegführen auf die höhere Ebene des Allgemeinschicksals. Darum ist das expressionistische Drama wieder Ideendrama. Die Handelnden sind nicht Individuen, sondern Typen, durch welche die Allgemeingültigkeit der Idee bewiesen werden soll. Anstelle erfundener Namen begnügt sich der Dichter mit Typenbezeichnungen: Der Bettler, Der Vater, Der Sohn, Der Milliardär, Der Ingenieur usw. Er steigert darum auch die Charaktere seiner Gestalten über jedes Wirklichkeitsmaß hinaus, indem er alle entscheidenden Züge übertreibt und überhöht, während er zugleich alle individuellen Merkmale unterdrückt. Auch das Gebärdenspiel und selbst die Bühnenanweisungen werden im Sinne der Ausdruckskunst verformt.

Die erzählende Prosa widersetzt sich dem expressionistischen Gestaltungsprinzip aus Gründen innerer Gesetzmäßigkeit. Dennoch wurden Novellen und Erzählungen des neuen Stils versucht, der Roman hat wohl die expressionistische Thematik aufgegriffen, jedoch keine spezifisch expressionistische Gestaltung erfahren, wenn man von ein paar Versuchen absieht. Fremde Einflüsse strömten der deutschen Literatur vor allem aus Frankreich, Schweden, Rußland und Amerika zu. Arthur Rimbaud hatte als erster in Frankreich die Lyrik aus dem Bereich des Ästhetizismus herausgeführt und den Dichter als Seher mit der Wiklichkeit der modernen Welt konfrontiert. Seine Verse sind von einer schonungslosen Offenheit und zugleich von einer Sprache geformt, die als Urbild modernen lyrischen Sprechens gilt. Auch der Amerikaner Walt Whitman (1819-1892) hat die neue Lyrik beeinflußt. In seinem» Leaves of Grass «(» Grashalme «) betitelten Werk, das bereits 1855 Themen der modernen Technik, einer modernen Daseinsempfindung und eines zeitnahen, unsentimentalen Naturgefühls gestaltete, hatte Whitman breitangelegte freirhythmische Verszeilen verwendet, die die expressionistische Lyrik beeinflußten. Das Drama nahm Anregungen von August Strindberg auf; der Roman verarbeitete immer noch Einflüsse der großen russischen Prosaisten des 19. Jahrhunderts, namentlich Dostojewskijs.

Die wichtigsten Zeitschriften des Expressionismus waren:» Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst «, herausgegeben von Franz Pfemfert,» Der Sturm. Halbmonatsschrift für Kultur und Künste «, herausgegeben von Herwarth Walden,» Die weißen Blätter «, herausgegeben von Rene Schickele und» Das neue Pathos «, herausgegeben u. a. von Ludwig Meidner und Paul Zech. Der expressionistischen Bewegung standen auch die beiden österreichischen Zeitschriften» Der Brenner «, geleitet von Ludwig von Ficker, und vor allem» Die Fackel «, herausgegeben von Karl Kraus, nahe.

»Dem gesamten Lebensgefühl«, so hat der Literarhistoriker Fritz Martini die Leistung des Expressionismus für die Kultur des 20. Jahrhunderts zusammengefaßt,»bis in unsere Gegenwart hinein sind vom Expressionismus große und schöpferische Impulse gegeben worden:... Es ist der Sinn für ein großes Schicksal, das Vermögen zu großen und weiten Formen, der Aufschwung zum Absoluten, eine glühende religiöse Sehnsucht aus dem bohrenden und quälenden Bewußtsein der Fragwürdigkeit des Lebens und dieser Wirklichkeit. Es ist die Entgrenzung des Tatsächlichen zur Idee und zum Göttlichen, die unmittelbare, hüllenlose Aufrichtigkeit des Menschen vor sich selbst und der Mut zu einem äußersten Wagnis des Geistes. Der Expressionismus hat der Seele das Ahnen und selbst Wissen um ein Absolutes und Ursprüngliches zurückgegeben... Er hat das Tief- und Hintergründige des Lebens wieder erfahren, den Bereich des Geheimen und Gespenstischen des Daseins und die Kraft zur mythischen Gestaltung. Und er hat nicht zuletzt der deutschen Dichtung einige bedeutende Dichter und einige wohl dauernde Gedichte geschenkt.«

 

Der moderne roman: kafka – musil – broch – döblin

Die meisten der ernsthaft zu diskutierenden Dichter nach der Jahrhundertwende haben die europäische Welt in ihrer Brüchigkeit, den Menschen in seiner Ratlosigkeit und Unerlöstheit gezeigt, weil diese Welt brüchig und weil dieser Mensch ohne äußere und innere Sicherheit zu leben gezwungen war. Sie alle waren von der geheimen Hoffnung beseelt, das Bloßlegen pathologbscher Stellen werde eine Heilung versprechende Therapie einleiten. Die Diagnose war gestellt. Der exakteste Diagnostiker dieser Jahre war zugleich einer der stillsten und schwierigsten und blieb darum jahrzehntelang einer breiteren literarischen Öffentlichkeit verborgen, nur ein kleiner Kreis von Freunden kannte und schätze ihn:

Franz Kafka (1883—1924)

Mit Erstaunen vernahm die literarische Welt nach dem Zweiten Weltkrieg die wieder aufgerufene Stimme dieses Dichters, der schon vor und während des Ersten Weltkrieges die Lage des modernen Menschen mit unglaublicher Einfühlung in dessen Krankheitsgeschichte gedeutet und dabei vieles vorausgesehen hat, was uns Heutigen erst aus der Rückerinnerung an die Jahre der Barbarei ins Bewußtsein tritt und deutlich wird. Kafkas Diagnose freilich geschah mehr oder weniger unbewußt und nicht mit den Mitteln moderner Erkenntnistheorie (wie bei Broch oder Musil), das machte diese Stimme zu seiner Zeit so befremdend, sie geschah vielmehr durch die einfache Aufzeichnung dessen, was ist, wobei dem Schreibenden allerdings eine unwahrscheinlich empfindliche Sensibilität zur Verfügung stand, die den Zustand der Dinge noch unter ihrer Haut zu ertasten vermochte.

Kafkas Grundthema ist der dem Sein entfremdete, der scheinbar in ein Dasein ohne Sinn geworfene, der»verlorene«Mensch. Das Sich-bewußt-werden ihrer Verlorenheit ist das eigentliche Erlebnis aller Menschen Kafkas, die Ergebnislosigkeit ihres Suchens und Irrens der eigentliche Inhalt aller Erzählungen und Romane. Was dieses Werk vor anderen seiner Epoche auszeichnet, ist seine erstaunliche Geschlossenheit: alles, was Kafka schrieb, stamnmt aus einer einzigen und einzigartigen Gesamtkonzeption, die ihre Möglichkeiten und Ziele kannte, nicht aber Ergebnisse, und die aus einer einzigen inspirativen Quelle gespeist erscheint: dem bewußten und unbewußten Leben dieses Dichters, wie es seine Tagebücher und Briefe enthüllt haben.

Dieses Leben ist mit den äußeren Lebensdaten und -ereignissen nur zum kleinsten Teil erfaßbar und auch ohne eigentliche nennenswerte Vorkommnisse oder Höhepunkte: 1883 in Prag als Sohn eines begüterten jüdischen Großkaufmanns und Fabrikanten geboren, studierte er auf Wunsch des Vaters Jura und war in der Prager»Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen«tätig. Er erfuhr dort die ganze Schwere des Konflikts, der sich aus der Notwendigkeit eines bürgerlichen Berufs und dem inneren Zwang zum Schreiben ergab. Gerade die Lauterkeit seines Charakters ließ ihn das unauflösliche Dilemma als»großes Unglück«empfinden. Vom Vater, der Hilfe hätte gewähren können, durch Wesen und Berufung innerlich getrennt, durch Nachtarbeit körperlich geschwächt und seelisch bald auch durch die ausbrechende Tuberkulose, die ihm schließlich den Tod brachte, isoliert, gehört Kafka wohl zu den unglücklichsten Dichtern dieses Jahrhunderts und in jedem Fall zu jenen künstlerischen Naturen, die wie Hölderlin oder van Gogh ihr tiefstes Wesen durch das Leid erfahren und deren Werk — offen oder versteckt — der Schrei der gequälten Kreatur ist. Kafka starb 41jährig im Sanatorium Kierling bei Wien. In einem der Briefe an die Freundin Milena Jezenska hatte er geschrieben:»Du wirst ängstlich beim Gedanken an den Tod? Ich habe nur entsetzliche Angst vor Schmerzen. Das ist ein schlechtes Zeichen. Den Tod wollen, die Schmerzen aber nicht, das ist ein schlechtes Zeichen. Sonst aber kann man den Tod wagen. Man ist eben als eine biblische Taube ausgeschickt worden, hat nichts Grünes gefunden und schlüpft nun wieder in die dunkle Arche.«Er hatte letztwillig verfügt, daß sein gesamter Nachlaß verbrannt werde, doch hat sein Freund Max Brod, die Bedeutung dieses Werkes erkennend, nach dem Kriege mit der Edition der Romane begonnen und schließlich auch noch das wertvolle Tagebuch- und Briefwerk der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zu Lebzeiten des Dichters war nur wenig gedruckt erschienen.

Wer dieses Werk in seinem Wirklichkeitsanspruch richtig beurteilen will, muß sich vor allem die Lebenssituation Kafkas mit allen ihren äußeren und inneren Konflikten vergegenwärtigen, denn sie liefert den Schlüssel zu Kafkas eigentlichem Erlebnis, zum Erlebnis des menschlichen Ausgestoßenseins; diese Lebenssituation erhält ihr Bestimmendes durch Kafkas Geburtsort Prag und durch die historische Stunde: der Dichter war deutschsprachiger Jude, vom Tschechentum der Landeshauptstadt durch dessen Sprache getrennt, die er wohl sprach, aber nicht schrieb, vom Deutschtum dieser Stadt durch sein Judentum getrennt, dem orthodoxen Judentum seiner Zeitgenossen aber durch seine innere Distanz entfremdet, als Jurist im ständigen Kampf mit der inneren Berufung als Dichter, als Dichter in der ständigen Verlegenheit, seine Lebensexistenz nicht durch Schreiben, sondern durch einen bürgerlichen Brotberuf bestreiten zu müssen; als Akademiker wohl in unmittelbarer Berührung mit der Arbeiterschaft durch seinen Arbeitsplatz und doch geistig von jenem sozialen Stand getrennt. So lebte Kafka in einem mehrfachen Ghetto; er brauchte für dieses Ghetto-Erlebnis nur eine überzeugende Form zu finden und er fand diese Form in der Darstellung seines traumhaften Innenlebens, das alles äußere Erleben allmählich aufzehrte.

In seinem Tagebuch, Kafkas aufschlußreichster Selbstdarstellung, hat er seine Situation eindeutig beschrieben:»Von der Literatur aus gesehen ist mein Schicksal sehr einfach. Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt, und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufriedenstellen. Nun ist aber jene Kraft für meine Darstellung ganz unberechenbar, vielleicht ist sie schon für immer verschwunden, vielleicht kommt sie doch noch einmal über mich, meine Lebensumstände sind ihr allerdings nicht günstig. So schwanke ich also, fliege unaufhörlich zur Spitze des Berges, kann mich aber kaum einen Augenblick oben erhalten. Andere schwanken auch, aber in untern Gegenden, mit stärkeren Kräften; drohen sie zu fallen, so fängt sie der Verwandte auf, der zu diesem Zweck neben ihnen geht. Ich aber schwanke fort oben, es ist leider kein Tod, aber die ewigen Qualen des Sterbens.«(6. August 1914)

Dieses Bekenntnis seines tragischen Dichtertums, das sich um ähnliche beliebig erweitern ließe, führt mitten hinein in die dichterische Welt Kafkas. Sein dichterischer Antrieb ist das Bewußtsein einer allgemeinen Lebensunsicherheit, ja einer existentiellen Bedrohung durch die dämonischen Mächte einer rationalisierten, entgöttlichten und bürokratisch verplanten Welt und einer dadurch bedingten grenzenlosen menschlichen Verlorenheit. Der mit übermenschlicher Kraft immer wieder versuchte Flug Kafkas»zur Spitze des Berges«ist der in vielgestaltiger Verwandlung wiederholte Inhalt seiner Romane» Amerika «(ursprünglich» Der Verschollene «, beg. 1912, ersch. 1928),» Der Prozeß «(1925) und» Das Schloß «(1926) und seiner Erzählungen (»Die Verwandlung«,»Das Urteil«,»In der Strafkolonie«,»Jäger Gracchus«,»Ein Hungerkünstler«,»Beim Bau der Chinesischen Mauer«,»Forschungen eines Hundes«,»Der Nachbar« u. a.). So unterschiedlich diese Darstellungen untereinander sind, so einheitlich sind die in ihnen erkennbaren Konfliktmotive: das Dilemma zwischen religiöser Veranlagung und skeptischem Intellekt, die Spannug zwischen ihm und dem despotischen Vater (» Brief an den Vater «, 1919), der Widerstand gegen das unüberwindliche System der Bürokratie, die Ungewißheit der menschlichen Existenz in gottferner Zeit.

Die kürzeste Formulierung dieser Konfliktsituation ist eine aus wenigen einfachen Sätzen bestehende parabelähnliche Kurzerzählung mit dem bezeichnenden Titel» Gibs auf!«:

Es war früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, daß es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm hin und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte:»Von mir willst du den Weg erfahren?«»Ja«, sagte ich,»da ich ihn selbst nicht finden kann.«»Gibs auf, gibs auf«, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.

Zur Erklärung dieser parabelartigen Erzählung könnte man eine Briefstelle Kafkas heranziehen:»Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare a1s das Vertrauen ihm dauernd verborgen sein können.«

Was diese Erzählung von einer echten >Parabel< unterscheidet, ist der Umstand, daß sich hinter den angesprochenen Realitäten dieses Textes kein irgendwie zu Ergründendes versteckt, das sich zu dem Beschriebenen so wie das Rätsel zu einer Auflösung verhält. Jede Parabel verweist auf einen bestimmten und bestimmbaren Sinn, so wie z. B. Lessings Ringe in der»Ring-Parabel«die drei Weltreligionen meinen. Das Wesenhafte von Kafkas Dichtung besteht aber gerade im Fehlen eines solchen bestimmbaren Sinnes, der sich»hinter«den Erscheinungen verbergen könnte, sie ist die einfache und selbstverständliche Darstellung des in der Welt Vorgefundenen, ohne metaphysischen Bezug. Ja, gerade dieses offenkundige Fehlen jedes metaphysischen oder philosophischen oder jedes irgendwie in sich gegründeten festen Bezugssystems ist ja der eigentliche Darstellungsgrund Kafkas.»Daher geht es auch in denExegesen... um die ganz konkreten irdischen Fragen, ob unser menschliches Bewußtsein uns >täuscht< oder nicht täuscht, ob wir frei oder gebunden leben, in welchem Wechselverhältnis wir zueinander stehen, ob es sichere 1egitime Rangordnungen gibt, ob wir überhaupt wissen können, was Schuld und Unschuld sind, wann wir recht, wann unrecht handeln usw. D. h. gefragt wird danach, wieweit die menschlichen Lebens- und Erkenntniskräfte überhaupt in der Lage sind, eine gültige Lebens- und Rechtsordnung zu begründen, ein sicherndes >Gesetz< zu finden, Wahrheit von Lüge zu scheiden, Gewißheit von Ungewißheit.«(Wilhelm Emrich)

Der»Amerika«-Roman ist nicht mehr als eine Einleitung, die Geschichte des 16-jährigen Karl Roßmann, der wegen einer jugendlichen Verfehlung von den Eltern nach Amerika geschickt wird und hier inmitten des tosenden Lebens die Hilflosigkeit und Einsamkeit des Menschen erfährt. Das Grundthema Kafkas aber ist bereits auf entscheidende Weise angeschlagen. Im» Prozeß «ist es Josef K., Junggeselle und Prokurist, ein Durchschnittsmensch unserer Tage, der, ohne sich einer Schuld bewußt zu sein, verhaftet und vor ein obskures Gericht gestellt wird. Während er zunächst geneigt ist, die Angelegenheit als einen schlechten Scherz oder als einen üblen Übergriff der Bürokratie hinzustellen, gerät er allmählich in dem Bemühen, seine Lage wiederherzustellen, tiefer und tiefer in Widersprüche mit sich selbst und seinen bisherigen Leben. Bald muß er einsehen, daß sein Fall aussichtslos ist. Während er auf seiner Unschuld beharrt, wird er von einem Gerichtsbeauftragten in einem Steinbruch erstochen.

Alle Voraussetzungen, die wir in einem solchen Falle aus den Erfahrungen des bürgerlichen Lebens erwarteten, treffen für den» Prozeß «nicht zu: weder ist dem Angeklagten eine Schuld bekannt, noch handelt es sich bei dem Gericht um eine bestimmbare Instanz, noch hat das Verfahren den Charakter eines ordentlichen Gerichtsverfahrens. Das einzige, was dem Angeklagten zum Schluß zu bekennen bleibt, betrifft seine — jetzt erst — eingestandene Unsicherheit dem Leben gegenüber und seine als Willensfreiheit verkleidete Willkür in den Entscheidungen und die Entscheidungslosigkeit seines Daseins:»Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig.«

Der Versuch, diesen Roman entweder aus philosophischer, theologischer oder soziologischer Sicht zu deuten, wie dies wiederholt geschehen ist, trifft am Sinn dieser Dichtung vorbei, denn gerade in der Undeutbarkeit der gezeigten Verhältnisse beweist der Dichter die tragische Diskrepanz zwischen dem empirischen Dasein und einem unbedingten Gesetz (von dem wir ja nicht wissen können, wie das heißt:»... es gehört ja alles zum Gericht«). Die Unvertrautheit mit dem unbedingten Gesetz und das unheimliche Drohen des Gerichts zwingen den Menschen jedoch zur kritischen Distanz sich selbst gegenüber, zwingen ihn, sein Leben unaufhörlich zu verantworten, d. h. ein wahrhaftes Leben zu führen, ein»existentielles«Leben. Ein bekanntes, definierbares Gesetz würde den Menschen nur wieder zu rasch in Sicherheit wiegen und ihn aus seiner ständigen Gewissensentscheidung entlassen. Hier liegt auch der Sinn jener großen Szene im Roman, wo das Türhüter-Gleichnis auf unterschiedliche Weise ausgelegt wird; eine eindeutige Kommentierung der Legende würde den Menschen bereits seiner Freiheit berauben, weil sie ihm einen Sinn verriete, der nicht gewußt, sondern nur gelebt werden kann. Aber indirekt empfängt der Leser doch die einzig mögliche Lösung; er muß sie für sich als Aufforderung formulieren: Schieb den Türhüter beiseite, dringe ein durch das Tor, es wird das richtige sein auf dem Wege in das»Gesetz«! Der Entschluß wird freilich nicht leicht sein, denn Angst und Verlockung halten sich die Waage, und der Türhüter ist grimmig, und wer kann vorher wissen, ob es wirklich das Tor war,»nur für dich bestimmt«? Auf diese Weise aber dient die Dichtung doch auch einem religiösen Prinzip, wie alles Fragen nach der Sinngebung des Daseins, ebenso aber auch einem philosophischen und gesellschaftlichen. Die Interpretation von Kafkas Werk muß, weil dieses auf die Ganzheit des Menschen gerichtet ist, notwendig alle Teilaspekte seines Daseins berücksichtigen.

Im» Schloß «verwandelt sich die absurde Instanz des Gerichts in die ebenso absurde einer absoluten Schloßhierarchie, die für den Landmesser K. undurchschaubar und unerreichbar bleibt, obwohl diese Behörde ihn als Landmesser berufen hat. Das»Gesetz«der Schloßbehörde bleibt K. unbekannt, aber das Forschen nach dem Gesetz ist bereits Schuld: allein der Umstand, daß K. mit allen Mitteln, die ihm die jeweilige Situation in die Hände spielt, ins Schloß zu gelangen versucht, daß er aus einer an ihn ergangenen Botschaft der Schloßbehörde den Rechtsanspruch ableitet, ohne doch das»Gesetz«dieser Aristokratie zu kennen, ist die Schuld, die ihn für immer von der Welt des Schlosses ausschließt. Die Bewohner des Dorfes am Fuße des Schloßberges beschränkt und wissend zugleich, demütig und selbstbewußt, könnten K. belehren; ihr durch kein überflüssiges Fragen nach dem Gesetz getrübtes Verhältnis zum Schloß läßt sie zwar in unbegreiflicher Armut vegetieren, aber dennoch in jener Sicherheit, die Selbstbewußtsein verleiht. In einer Tagebuchaufzeichnung Kafkas findet sich der lakonische Aphorismus:»Wer sucht, findet nicht; wer nicht sucht, wird gefunden.«— Max Brod hat das Lebensgesetz, unter dem der Dichter stand, die»negative Aktualisierung des jüdischen Offenbarungsglaubens«genannt und ihn in die Reihe der homines religiosi der Literatur eingeordnet.

Aus dem jüdischen Glauben zweifellos wirkt die Theologie des Unheils in die Dichtung Kafkas herein, deren zentrales Thema die messianische Hoffnung ist, aber auch Kierkegaards Existenztheologie, die Kafka studierte; es ist die Theologie eines Guten»je für sich«und der unabdingbaren Verantwortlichkeit des Menschen. In den Tagebüchern lesen wir:»Glauben heißt, das Unzerstörbare in sich befreien, oder richtiger: sich befreien, oder richtiger: unzerstörbar sein, oder richtiger: sein.«Die Dialektik dieses Gedankengangs spiegelt sich in zahlreichen Erzählungen Kafkas: alles Bemühen des Menschen ist Arbeit an der»Chinesischen Mauer«, unvollendbar nach menschlichem Ermessen und unter einer Führerschaft, die für den einzelnen Arbeiter unsichtbar bleibt und für seinen unzulänglichen Verstand und angesichts seiner Unkenntnis des Gesamtplanes dieser Mauer fehlerhaft zu sein scheint; aber gerade diese Arbeit ist der eigentliche Sinn des Mauerbaues, nicht die Mauer selbst, der Sinn liegt in der Verantwortlichkeit eines jeden einzelnen der am Mauerbau Beschäftigten, es ist der Auftrag des Menschen, auch wenn er diesen Auftrag nicht begreift, und er kann ihn nicht begreifen, denn er kennt den Plan des Mauerbaues nicht. Überraschend angesichts der irrationalen Elemente in Kafkas Werk ist die Sachlichkeit, ja Nüchternheit seines registrierenden Stils, der auf jede Art von sprachlicher Verfremdung verzichtet, sondern bewußt zum klassischen Gestus hinstrebt, wobei der Dichter auch auf banale Wendungen unseres Alltags-Idioms nicht verzichtet. Kafka konnte jedoch auf die Sprachverfremdung verzichten, weil sich seine Bildwelt ohnehin ständig am Rande oder jenseits der von den Sinnen wahrnehmbaren Wirklichkeit bewegte; er hat sich auch nicht gescheut, diese Grenze ständig zu überschreiten, um ganz deutlich zu werden: so läßt er den Handelsvertreter Gregor Samsa eines Morgens in seinem Bett als riesiges Kerbtier aufwachen, um die Herzlosigkeit seiner Eltern zu entlarven, deren einziger Ernährer er seit langem gewesen ist. Oder er bedient sich der Perspektive eines»forschenden Hundes«, um auf die gebotene Rücksichtnahme in Sachen des Menschen auf menschliche Art verzichten zu können. Kafkas Stil resultiert aus der Lektüre seiner Lieblingsautoren; das waren vor allem Adalbert Stifter, dessen» Nachsommer «eines seiner Lieblingsbücher war, dann aber auch Johann Peter Hebel und der schlichte und so durchsichtige Robert Walser, vor allem aber Kierkegaard. Manche von Kierkegaards Texten, vor allem die unter dem Titel» Diapsalmata «in» Entweder - Oder «von 1843 veröffentlichten, verweisen auf den Kafka-Stil:»In einem Theater brach Feuer hinter den Kulissen aus. Bajazzo kam heraus, um das Publikum zu unterrichten. Man glaubte, er wolle einen Witz machen, und applaudierte. Er wiederholte seine Mitteilung, man jubelte noch mehr. So denk ich mir, daß die Welt untergehen wird unter dem allgemeinen Jubel der witzigen Köpfe, die glauben, das sei ein Witz.«Das könnte auch Kafka geschrieben haben.

Es gibt in der Kunst der zwanziger Jahre manche Erscheinung, die sich —vom Artistischen her gesehen — auf ähnlicher Ebene bewegt wie Kafka in der Dichtung, namentlich der Russe Chagall und die italienische Schule der >Pittura metafisica< lagen auf dieser Gestaltungsebene; so könnten die Bilder des Italieners Giorgio de Chirico in vielem durchaus als bildnerische Entsprechungen zu Kafkas dichterischer Welt aufgefaßt werden. De Chirico hat seinen Ruhm überlebt, derjenige Kafkas wächst von Stunde zu Stunde immer noch! Das liegt nicht nur daran, daß wir uns heute immer noch in der Kafkaschen Lebensproblematik entdecken, auch wenn wir es uns nur selten eingestehen. Das liegt auch daran, daß wir seinen seherischen Tiefblick bewundern, der in unserem Jahrhundert einmalig ist:»Kafkas Erzählkunst sprengt... das in sich schwingende, endliche Bewußtsein unserer Epoche. In einem Jahrhundert, in dem dreitausendjährige europäische Geschichte in eine sinnlose Trümmerstätte sich auflöst, in dem keine verbindlichen Ordnungen bestehen, gestaltet sich das untrügliche, bleibende Gesetz unseres Lebens nicht mehr als Schöpfungsmythos, der in Widerspruch zur Wissenschaft zu geraten vermöchte, nicht mehr als formulierbares Sittengebot, nicht mehr als weltanschauliche Lehre, nicht mehr als historisch relativierbares Phänomen, sondern als das schlechthin Unerforschliche, Vorgegebene, Unerzwingbare, das zugleich jeden Menschen in die Distanz zu sich selbst zwingt.«(Wilhelm Emrich)

 

>KONKRETE< EXPERIMENTE: GOMRINGER-HEISSENBÜTTEL-MON u. a.

Eine Lyrik, die sich energisch von aller Materialität des geistigen und formalen Bestandes seit dem Realismus entfernt, will demnach»autochthon«sein und muß sich ihre poetischen Muster selber schaffen. Zwangsläufig stößt sie dabei in jenen Grenzbezirk der gestaltenden Sprache vor, wo die Wörter abhebbar sind von ihrer logischen Bindung und sich auch außerhalb einer immer als»Inhalt«begriffenen Bildlichkeit bewegen. Das Wortmaterial wild»konkret«— ein Ausdruck aus der bildenden Kunst, der die mißdeutbaren Begriffe»abstrakt«und»gegenstandslos«ersetzt hat —: es signalisiert Bedeutungen, die assoziativ aus dem auf wenige Wörter reduzierten Kontext erschlossen werden müssen. Das Einzelwort ist von sich aus mehrdeutig, seine Nennung löst Assoziationen aus, die in verschiedenen Richtungen verlaufen; der Kontext bestimmt den Richtungslauf und damit den Signalwert des Wortes. Die Reduktion des Kontextes auf wenige Wörter beschränkt wohl die Assoziationsreihe, verleiht aber dem Einzelwort eine suggestive Faszination durch Anordnung und Klang. Solche Gedichte kommen keinesfalls ohne Zutun der dichterischen Imagination zustande, auch wenn sie wie mathematisch-technische Mutationen anmuten. Die graphische Anordnung der Wörter im Satzbild, wodurch die Wörter zeichenhaft-signalisierende Heraushebung erfahren, sind bereits ein entscheidender Teil des imaginativen Einsatzes: sie suggeriert zum Teil bereits den künstlerischen Sinn ohne philosophische, soziologische, literarische Interpretation. Der andere Teil der künstlerischen Absicht erschließt sich aus der — scheinbaren — Willkürlichkeit des Wortmaterials, das»Bedeutetes«(Begriffsbild),»Bedeutendes«(Wahrnehmungsbild) und»Vorgestelltes«(in der Erinnerung ruhendes,»zeichenhaftes«, d. h. aller zufälligen Merkmale entkleidetes Gedächtnisbild) umschließt und zum Einsatz bringt,»somit möchte die konkrete Dichtung eine Art Literatur sein, die mit dem Literaturbetrieb weniger zu tun hat als mit führenden Entwicklungen auf den Gebieten des Bauens, der Malerei und Plastik, der Produktionsgestaltung, der industriellen Organisation, mit Entwicklungen, denen ein kritisches, doch positiv entschiedenes Denken zugrunde liegt«(Eugen Gomringer).»Zwischen dem >unverbindlich< schwebenden Spiel und der >verpflichtenden< Botschaft steht eine experimentelle Demonstration, die beides enthält. Durch Kombinationen, Konstellationen, Artikulationen, Montagen, Demontagen, Re-Demontagen, Ideogramme, Letternbilder, Lautgedichte wird ein methodisches, gewissenhaft kontrolliertes Spiel mit formalen und materiellen Elementen getrieben, ein Spiel, das zum großen Teil nicht Selbstzweck ist, sondern Zerstörung, Aufbau, Umbildung im Dienste ganz bestimmter Wege der Erkenntnis.«(Kurt Leonhard)

Ein Gedicht von Eugen Gomringer (geb. 1925), Initiator der Schriftenreihe» konkrete poesie — poesia concreta «, und Verfasser des Manifests» vom vers zur konkretion «, lautet:

einanderzudrehen und

aufeinandereinstellen

ineinandergreifen und

einandermitteilen

miteinanderdrehen und

voneinanderlösen

auseinanderkreisen und

einanderzudrehen

aufeinandereinstellen und

ineinandergreifen

einandermitteilen und

miteinanderdrehen

voneinanderlösen und

auseinanderkreisen

einanderzudrehen und

Da das Wort als»Bedeutetes«,»Bedeutendes«, und»Vorgestelltes«dem Geist verhaftet bleibt, läßt sich der Sinn der — scheinbar — mechanisch variierten Sätze als Gedichtkern bloßlegen, er bedarf keiner Erläuterung. Gomringer nennt seine Bücher sachlich» konstellationen «(1953),» 33 konstellationen «(1960).

SPIEGELUNG     fisch fisch fisch fisch fisch fisch hcsif hcsif hcsif hcsif hcsif hcsif fisch fisch fisch fisch fisch hcsif hcsif hcsif hcsif hcsif hcsif hcsif fisch hcsif hcsif hcsif hcsif hcsif (Comringer) »Unter Konstellationen verstehe ich die Gruppierung von wenigen, verschiedenen Worten, so daß ihre gegenseitige Beziehung nicht vorwiegend durch syntaktische Mittel entsteht, sondern durch ihre materielle, konkrete Anwesenheit im selben Raum. Dadurch entstehen statt der einen Beziehung meist deren mehrere in verschiedenen Richtungen, was dem Leser erlaubt, in der vom Dichter (durch die Wahl der Worte) bestimmten Struktur, verschiedene Sinndeutungen anzunehmen und auszuprobieren. Die Haltung des Lesers der Konstellation ist die des Mitspielenden, die des Dichters, die des Spielgebenden.«

Helmut Heissenbüttel (geb. 1921) vermeidet die Begriffe»Gedicht«und»Dichtung«ebenfalls, er spricht von» Topographien «(1956) und nennt seine weiteren Sammlungen einfach»Textbücher«. Sein Bemühen folgt dem Antrieb,»einzudringen und Fuß zu fassen in einer Welt, die sich noch der Sprache zu entziehen scheint. Und die Grenze, die erreicht wird, ist nicht die zum Nichts, zum Sprachlosen, zum Chaos (was immer auch die Gründe sein mögen, die für das Hindrängen an solche Grenze erfunden werden), es ist die Grenze zu dem, was noch nicht sagbar ist.«Poesie manifestiert hier nicht nur die Erfahrung, die die Dichter seit der Romantik in immer stärkerem Maße gemacht haben, die der nicht mehr rückgängig zu machenden Ambivalenz der Sprache, sie signalisiert einen Vorgriff auf ein Zukünftiges und im gegenwärtigen Augenblick sprachlich noch nicht zu»Begreifendes«.

Gomringer, Heissenbüttel, Franz Mon (eigentl. Dr. Franz Löffelholz, geb. 1926) und Claus Bremer (geb. 1924) treiben die experimentelle Demonstration durch gestischen Ausdruck des zerstörten Wortfeldes, durch bewußt imaginierte Schriftbildkonstruktionen aus Worten und Wortfetzen oder überhaupt nur aus Lauten, Buchstaben (>Lettrismus<) zum Teil über die Grenze des vom Leser zu erwartenden Verständnisses hinaus. Solche»Texte«sind nur dann dem Verständnis näherzubringen, wenn ein immens überfeinertes Gefühl diese ungewöhnlichen Eingriffe dem Gehirn auf direktem Wege mit außerordentlichen Mitteln und damit in das herrschende Lebensbewußtsein zu signalisieren vermag. Man muß auf die >Buchstabenmystik<, die >Wortnetze<, und auf die >Figurengedichte<, überhaupt auf die Wortalchemie des europäischen Manierismus und des >Dada< zurückgreifen, um ähnliche Verfahren in der deutschen Literatur vergleichen zu können; andererseits bieten Op-Art und die»kinetische«Plastik und Malerei vergleichbare Verfahrensweisen des Gestaltens im zeitgenössischen Kunstbereich.

Das folgende»Gedicht«von Heissenbüttel aus dem Zyklus» Sprech-Wörter «wird durch die herbeigeführte Auflösung syntaktischer Regeln, durch Auslassungen und Aussparungen, durch den Verzicht auf gewohnte Stilfiguren und nicht zuletzt durch die bewußte typographische Anordnung zunächst befremden; erst beim Lautsprechen des Textes mit allen Pausen enträtselt es sich von selbst. Das letzte Wort»Krümel«ist ohnehin ein fast schon zu deutlicher Schlüssel. Ohne viel nachdenken zu müssen, weiß man: hier»spricht«einer sein Leid in einer unmißverständlichen Geste aus, die bis in die archetypische Ur-Geste des Menschen zurückzuverfolgen ist:

1 Mann 1 Zwieback     1 Mann 1 Zwieback   1 Zwieback Krümel auf in   in auf   1 Bank 1 Hand 1 Hand 1 Hand     Hand Hand 1 Bank   und und und   und   und

In letzter Konsequenz folgen Mon und Bremer nicht dem Gesetzen des Sprechens, sondern des Artikulierens, und nicht des Artikulierens allein, sondern des gleichzeitigen Schauens: akustische und optische Quanten wirken zusammen:»Poesie... kann dem Elementaren gar nicht ausweichen, denn früher als das Sprechen übten die Lippen, Zunge, Zähne die Tätigkeiten des Einverleibens, des Zerstörens, des Liebens, der Lust.«—»das Verrücken eines Wortes auf dem Papier ist gestisch und gehört zu den Aussagemitteln der geschriebenen Sprache, ebenso wichtig ist natürlich das Format des Spielraums und der Lichtwert der Druckbilder, also die Stärke und Größe der Schrift, nicht nur, um die Bedeutung eines Wortes von den benachbarten zu unterscheiden, sondern weil sich auf diese Weise Lesewerte über den bloßen Wortsinn hinaus verkörpern.«In der Sammlung» movens — Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur «(1960), die Walter Höllerer, Manfred de la Motte und Franz Mon zusammengestellt haben, wird ein Überblick über Möglichkeiten konkreter Gestaltung versucht. Hier steht auch ein»Text«von Franz Mon:

rakon tsiste himil kokard reche chrest sukzess arb

hakon tris umir kott  ädre rest kukt abe

acre dress umsens gorf eder kest schuga

kran drett rums gror dree kir sus

krakä dreis rirn grett erd rieh

kras erk ir ega rnd re

kars ese rir rd r

hare ids urnd hn

arr drie odt rann

tror unda

tar usd

drustar

Es bedarf keines Hinweises, daß die gesellschaftliche Funktion solcher Texte gieich null ist, sie verzichten von sich aus weitgehend auf Kommunikation mit dem»Leser«(aber sie haben, wie alle anderen, z. B. auch die wissenschaftlichen Experimente, ergründenden, vorbereitenden Charakter) — es sei denn, sie lassen sich zugleich als Scherzartikel verwenden, wie viele der witzig pointierten Texte des österreichischen Gymnasiallehrers Ernst Jandl (geb. 1925):»Was ich will, sind Gedichte, die nicht kalt lassen.«

eile mit feile     durch die füste

eile mit feile     durch die füste

eile mit feile     durch die füste

durch den fald  bläst der find...

etüde in f «)

Für die, die nicht mitkommen, kann es Jandl auch weniger experimentell sagen:

manche meinen

lechts und rinks

kann man nicht

velwechsern.

werch ein illtum!

lichtung «)

Aber das ist freilich schon kein Scherz mehr, sondern engagierte Literatur, auch wenn die spekulativen Pointen durch Lautverschiebung oder aus der Grammatik entstehen.

Kaum klassifizierbar im ganzen, entzieht sich der Österreicher H(ans) C(arl) Artmann (geb. 1921) nach jedem neuen Werk mit wohlüberlegter Absicht jeder Einordnung in literarische Kategorien durch seine Kritiker, ein fahrender Scholar, dem eine schier unerschöpfliche Anzahl Register der parodistischen Verfremdung und formalen Artistik bis zum absoluten Sprachexperiment zur Verfügung stehen. Der Grundakkord dieses bedeutenden Lyrikers ist melancholisch:» Med ana schwoazzn Dintn «(1958), war der Auftakt im Dialekt der Wiener Vorstädte,» ein lilienweißer brief aus lincolnshire «(1969) sammelt über 450 Gedichte aus 21 Jahren.

 

Max Frisch

 

Max Frisch (geb. 1911), der Schweizer, dessen Vorfahren aus Österreich und Württemberg kommen, studierte zuerst Germanistik und wurde Journalist, um schließlich noch ein Architekturstudium zu absolvieren und den Doppelberuf eines Architekten und Schriftstellers auszuüben. Als Intellektueller, der sich in der Welt von heute umgesehen hat, schrieb Frisch Dramen und Romane von zeittypischem Charakter mit dem Generalthema: die Selbstfindung des Menschen. Schon in der Erzählung» Bin oder Die Reise nach Peking «(1945), in der sich Reales und Traumhaftes mischen und die in ein imaginäres Peking jenseits der Großen Mauer der zivilisatorischen Konventionen führt, deutet sich dieses Zentralthema an, das dann in den Romanen» Stiller «(1954),» Homo faber «(1957) und» Mein Name sei Gantenbein «(1964) mit unterschiedlichen Perspektiven durchgeführt wird. Der Bildhauer Anatol Ludwig Stiller ist ein Ausbrecher aus dem Gefängnis der bürgerlichen Konventionen und seiner selbst, einer, der anders sein möchte als das Bild, das sich seine Frau und seine Freunde und die Welt von ihm machen. Darum gibt er, erschreckt vor dem Vakuum seiner eigenen Existenz, alle Bindungen auf, Frau, Ehe, Freunde, und flüchtet. Erst nach sechs Jahren kehrt er mit falschem Namen zurück, in der Absicht, eine völlig neue personelle Existenz zu begründen.»Ich bin nicht Stiller«, ist die immer wieder wiederholte Beteuerung gegenüber den Behörden, der Frau und den Freunden, die den Vermißten zu überführen versuchen, von denen er wiedererkannt wird. Am Schluß muß Stiller erkennen, daß es nichts half,»irgendein neues Leben anzufangen, indem das alte einfach liegenblieb.«

Frisch hatte dem Roman als Motto ein Wort Kierkegaards, des Existential-philosophen aus dem 19. Jahrhundert, vorangestellt:»Sieh, darum ist es so schwer, sich selbst zu wählen, weil in dieser Wahl die absolute Isolation mit der tiefsten Kontinuität identisch ist, weil durch sie jede Möglichkeit, etwas anderes zu werden, vielmehr sich in etwas anderes einzudichten, unbedingt ausgeschlossen wird.«Der Roman liefert den konkreten Modellfall zu dieser These eines modernen Existenzbewußtseins, glaubhaft gemacht an der Kompliziertheit eines übersensiblen Künstlers:

Die Selbsterkenntnis, die einen Menschen langsam oder jählings seinem bisherigen Leben entfremdet, ist ja bloß der erste unerläßliche, doch keineswegs genügende Schritt. Wie viele Menschen kennen wir, die eben auf dieser Stufe stehenbleiben, sich mit der Melancholie der bloßen Selbsterkenntnis begnügen und ihr den Anschein der Reife geben! Darüber war Stiller hinaus, glaube ich, schon als er in seine Verschollenheit ging. Er war im Begriff, den zweiten und noch viel schwereren Schritt zu tun, herauszutreten aus der Resignation darüber, daß man nicht ist, was man so gerne gewesen wäre, und zu werden, was man ist. Nichts ist schwerer als sich selbst anzunehmen!...

Ein existentialistischer Menschwerdungsversuch also, der in die absolute Stille führt — symbolisch-zeichenhaft auch der Titel! —, in die Befriedigung des Mit-sich-einig-seins.

Im Tagebuchroman» Homo faber «— auch dieser Titel zeichenhaft für eine Form moderner menschlicher Existenz — ein ähnlicher Fall von Selbstfindung. Anstelle des überlieferten Nervenmenschen Stiller hier der Typ des nüchternen Technikers, der keiner sensiblen Regung zugänglich erscheint.»Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas — klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis?«Auf der Rückkehr von Amerika begegnet Faber seiner ihm bislang unbekannt gebliebenen Tochter Sabeth aus seiner früheren Ehe mit Hanna, und er verliebt sich in sie, ohne die Zusammenhänge zu ahnen. Durch das sich anbahnende enge Verhältnis zu dem Mädchen muß er zwangsläufig auch einmal seiner ehemaligen Frau begegnen und die Wahrheit über Sabeth erfahren. Der tragische Konflikt, in dem er sich plötzlich befindet, wird durch einen Zufall gelöst; auf einer gemeinsamen Griechenlandreise stirbt das Mädchen durch den Biß einer giftigen Natter. Faber selbst geht an einer Krankheit zugrunde, der er keine Bedeutung beigemessen hatte. Ein paar Tagebuchnotizen entlarven zum Schluß einen vom Schicksal überrumpelten Menschen, der sich nur schwer mit der Erkenntnis abfindet, daß es in einer Welt des Kalküls und der berechenbaren Größen auch so etwas wie ein Schicksal, Gefühl und Zufälle gibt, die dem menschlichen Dasein zu integrieren sind.

 

Der Kuß



Поделиться:


Последнее изменение этой страницы: 2020-11-11; просмотров: 101; Нарушение авторского права страницы; Мы поможем в написании вашей работы!

infopedia.su Все материалы представленные на сайте исключительно с целью ознакомления читателями и не преследуют коммерческих целей или нарушение авторских прав. Обратная связь - 18.223.106.100 (0.107 с.)