Der Expressionismus: Durchbruch ins 20. Jahrhundert. 


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Der Expressionismus: Durchbruch ins 20. Jahrhundert.



Grundzüge

 

Der Begriff >Expressionismus< - >Ausdruckskunst< als literarisch-künstlerischer Epochebegriff und als Bezeichnung für jene Kunst und Dichtung, die kurz vor dem Ersten Weltkriege unter heftigen Erschütterungen des gesamten geistigen Lebens einsetzen und gegen 1925 ihre Stoßkraft wieder verloren, wurde zuerst auf die Malerei des Holländers Vincent van Gogh (1835-1890) und des Norwegers Edvard Munch (1863-1944) angewandt.

Van Goghs Beispiel eines leidenschaftlich bewegten Lebens und einer absoluten Hingegebenheit an die Kunst übte unmittelbar nach der Jahrhundertwende ihre Wirkung auf die jüngeren französischen Maler aus und war bald auch in Deutschland zu spüren. In Frankreich lösten sich Henri Matisse (1869-1954) der junge Georges Braque (1882x963), Maurice Vlaminck (1876-1958), Raoul Dufy (1877-1953) und Kees van Dongen (1877-1968), von der Kritik abfällig als»es fauves«,»Die Wilden«, bezeichnet, von der Malerei des spätbürgerlichen Impressionismus, von dessen Raffinement und optischen Farbenspielen. Den natürlichen Dingen ihre Einfachheit wiederzugeben, die Natur in ihrem Ursprung zu erleben, den Menschen in seiner unkomplizierten Bereitschaft zum Leben zu zeigen, auch dort, wo dieses Leben abseits bürgerlicher Vorstellungen und Erwartungen verläuft, sind die künstlerischen Ziele der >Fauves< gewesen. Ihre Bilder leuchten in oft dissonantischen Farben auf, die Zeichnung ist betont unbekümmert, geradezu primitiv: dunkle Konturen umranden wie bei van Gogh die Gegenstände, die auf diese Weise aus der Unbestimmtheit, in die sie der Impressionismus versetzt hat, zur dinglichen Konkretheit und Bedeutsamkeit gesteigert werden.

Edvard Munch war einen Schritt weitergegangen: mit einer unwahrscheinlichen, fast erschreckenden Begabung für Gesichte und das Visionäre und mit einem ebensolchen Spürsinn für das Hintergründige der menschlichen Seele ausgestattet, ging er den Geheimnissen nach, die er überall in der Natur und in der menschlichen Seele entdeckte. Sein»Lebensfries«zeigt die Menschen in einer hintergründigen und unerlösten Einbezogenheit in den Kreislauf von Zeugung, Geburt, Liebe und Tod. Von quälender Melancholie befallen, versuchen sie vergeblich, das Lebensrätsel zu lösen. Inhalt und Stil werden bei Munch einander notwendig bedingende Ausdruckselemente des künstlerischen Gestaltens. Unter die Lithographie»Der Schrei«(1895) hatte er geschrieben:»Ich höre den Schrei der Natur«. Zum erstenmal in der abendländischen Malerei wird die Existenzangst des Menschen auf diese Weise im Bilde gestaltet. Munch hatte eine Zeitlang in Berlin gelebt und wurde das Vorbild für jene Maler, die sich seit 1905 in der Dresdner Künstlergemeinschaft»Die Brücke«zusammengefunden hatten: Erich Heckel (1883—1970), Ernst Ludwig Kirchner (1880—1938), Karl Schmidt-Rottluff (1884—1976) und Max Pechstein (1881—1955). Unabhängig von ihnen fanden Paula Becker-Modersohn (1876—1907), Emil Nolde (1867—1956) und Ernst Barlach (1870—1938) ihren Weg zu einer expressiven Kunst, während die Österreicher Oskar Kokoschka (1886—1980) und Egon Schiele über den Wiener Jugendstil zu einer barock-expressiven, von Freuds Tiefenpsychologie beeinflußten Menschen- und Naturdarstellung gelangten.

Expressionismus im allgemeineren Verständnis ist letzten Endes die gesamte Kunstrevolution seit etwa 1905, die sich wohl auf Vorgänger und Wegbereiter der vorhergehenden Generation beruft, jetzt aber ihre entscheidende Stoßkraft entwickelt: Dokumentation und Demonstration jenes geistigen Umwertungsprozesses, der die im 19. Jahrhundert gebildeten Maßstäbe niederriß. Gegen den Rationalismus der positivistischen Wissenschaftslehre und die Überschätzung der naturwissenschaftlichen Determination gerichtet, bedeutet der Expressionismus die entscheidende Wendung zu einer geistig-künstlerischen Neuorientierung.

Die Dichtung des Expressionismus trägt das Signum dieser Auseinandersetzung. Sie ist Geist-Dichtung, nicht Erlebnis- oder Stimmungsdichtung. Sie will neue Werte setzen und nicht durch erlesene Schönheit bestechen. Sie steht daher im Gegensatz zum Impressionismus der Jahrhundertwende, aber auch zum Naturalismus, dessen soziales Ethos sie zwar teilt, von dem sie sich aber durch bewußte Vergeistigung und durch eine andere Formensprache unterscheidet. Sie will der Ausdruck eines neuen Lebensgefühls sein, das sich im Gegensatz weiß zum Dekadenzgefühl des Fin de siecle und zur materialistischen Weltanschauung der Väter-Generation.

Mit kühner Gebärde entwerfen die Manifeste der Künstler und Dichter jener Tage die Gesamtkonzeption eines neuen Zeitalters, welches angesichts der drohenden europäischen Katastrophe mit glühender Leidenschaft herbeigesehnt wird. Pathos will zum Bekennertum mitreißen. Im Mittelpunkt expressionistischer Dichtung steht der Mensch, die»Erneuerung des Menschen«ist ihr Ziel.

In einer im Dezember 1917 in Berlin gehaltenen vielbeachteten Rede hat Kasimir Edschmid — aus einer Art Rückschau über die entscheidenden Jahre und Werke der jungen Dichter — das Wesen der neuen Dichtung und ihr Verhältnis zum Menschen formuliert:»Er (der Mensch) wird in dieser Kunst nichts als das Erhebendste und Kläglichste: er wird Mensch. Hier liegt das Neue und Unerhörte gegen die Epochen vorher... Sein Herz atmet, seine Lunge braust, er gibt sich hin der Schöpfung, von der er nicht ein Stück ist, die in ihm sich schaukelt, wie er sie widerspiegelt... Er begreift die Welt, die Erde steht in ihr. Er steht auf ihr, mit beiden Beinen angewachsen, seine Inbrunst umfaßt das Sichtbare und das Geschaute. Er klügelt sich nicht durch das Leben. Er geht hindurch. Er denkt nicht über sich, er erlebt sich. Er schleicht nicht um die Dinge, er faßt sie im Mittelpunkt an. Er ist nicht un-, nicht übermenschlich, er ist nur Mensch, feig und stark, gut und gemein und herrlich, wie ihn Gott aus der Schöpfung entließ.

So kann er sich steigern und zu Begeisterungen kommen, große Ekstasen aus seiner Seele aufschwingen lassen.

Er kommt bis an Gott als die große nur mit unerhörter Ekstase des Geiste zu erreichende Spitze des Gefühls.«(» Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung «).

Mit der Erneuerung des Menschen ist das Thema expressionistischer Dichtung also keinesfalls erschöpft. Sie erfaßt vielmehr alles, was auch um den Menschen als unmittelbarer Lebensraum wirkt und über ihm als metyphysischer Ort erahnt und ersehnt wird. Wie in der Frühromantik erfährt die Welt eine radikale Umgestaltung aus der Vision des Dichters; im Gegensatz zur Romantik aber soll diese Vision durch Aktion verwirklicht werden; sie mündet zwangsläufig ins Politische.

Der Ekel vor der Großstadt, vor der Brüchigkeit ihrer gigantischen Fassade der Protest gegen jede Art der das Individuum einengenden Gewalten in Staat und Gesellschaft sind Grundmotive expressionistischer Dichtung; sie entsprechen dem negativen Erlebnis der Dichter. Andere sind die Befreiung des Menschen aus der erniedrigenden Umklammerung von Materialismus und Rationalismus, die Verkündung des Erneuerungswillens und einer auf unabdingbarer Wahrhaftigkeit gegründeten Ethik, die Verkündung des Willens zur Selbstverwirklichung des Menschen, zur Anerkennung des Absoluten, Unendlichen, Überweltlichen, das die Religion postuliert. Beide Tendenzen, die negierende und die aktivistische, liegen hart nebeneinander und durchdringen sich vielfach.

Kirchners Holzschnitt der»Straßenszene«von 1913 verdeutlicht beispielhaft den Protest des Künstlers gegen die entmenschlichte Großstadt; er könnte als Illustration zu einer Schilderung dienen, die der junge Reinhard Johannies Sorge, einer der ersten Wortführer der neuen Dichtung, an seine Braut schrieb:»Ich wünschte, ich könnte Dir — bei einem Gang die Linden hinunter — von der großartigen Empfindung reden, die mich heute vormittag dort beherrschte; Ekelempfindung größten Stils. Wünschte, ich könnte Dir die Dekadenz zeigen in allen den Menschen, die Lüsternheit der Blicke, die Siechheit des Ganges und die Gier der Gesichtszüge oder die Stumpfheit, die Ermüdung und Überreizung.«(1. 10. 1911) Das dichterische Ergebnis dieses Erlebnisses war das folgende Gedicht des Neunzehnjährigen:

Weißt du: ich möchte meine grausigen Fieber löschen

In andren Welten;

Daß doch die Leiden und schwarzen Gestirne all

Am Lichte zerschellten!

Aber die Riegel sind fest und aus den Nähen all

Starren die Kälten.

Ahnst du: ich schaue aus Herz und Geist stets

Zum blauen Äther;

Ich möchte mich biegen zur Sonne, im großen Werden

Ein Wundertäter!

Aber die Macht köpft jede Befreiung, der Tod sät

Und erntet später.

Imgrunde war dieser Großstadtekel nur der Ausdruck einer religiösen Erlösungssehnsucht als Antwort auf das Gefühl der seelischen Entwurzelung und inneren Heimatlosigkeit. In der Sehnsucht nach Gott wurde die eigene Verlassenheit und Verschuldung offenbar. So ist expressionistische Dichtung in ihren tiefsten Wurzeln und Bezügen immer eigentlich religiöse Dichtung:

O Herr zerreiße mich!

Was soll dies dumpfe, klägliche Genießen?

Ich bin nicht wert, daß Deine Wunden fließen.

Begnade mich mit Martern, Stich um Stich!

Ich will den Tod der ganzen Welt einschließen.

O Herr zerreiße mich!

(Franz Werfel)

Über die religiöse Erneuerung soll sich die Erneuerung des sozialen und politischen Menschen vollziehen. Der Erste Weltkrieg hat diesen Bestrebungen Vorschub geleistet. Er schließt die geistige Phalanx der Gleichgesinnten gegen Mechanisierung, Technisierung, Kapitalisierung und jede Art des berechnenden Kalküls für die Ideale freien Menschentums, der sozialen Gesundung, des Völkerfriedens. Der expressionistische Mensch erlebt sich daher nicht nur im Ich, sondern vor allem im Du und im Wir. Er erlebt sich im Mitmenschen und verlangt nach Verbrüderung und Weltbürgertum:

Freund,

wenn du lächelst,

lächelt mein Herz,

und die Freude hebt ihre Fackel,

unsere Straße ist ein lächelnder Tag!

O, daß wir Du sind einander,

daß wir dieses Du

tragen dürfen in jedes Herz —

das ist, was uns eint.

Wohl baut sich manchmal der Tempel Stille auf,

und die Berge der Einsamkeit hüllen uns ein,

O,

tief in sich ist jeder allein.

Doch das Lächeln schlägt Bogen von mir zu dir,

und die Türen sind weit zum Tempel der Seele.

Heilig

ist der Mensch!

Knieen sollen wir einander vor dem Leid,

erheben soll uns die Freude,

wie schenken einander das Ich und das Du —

ewig eint uns das Wort

MENSCH.

Immer

können wir glücklich sein.

(Kurt Heynicke)

Diesen programmatischen Zielsetzungen mußten sich die Formen der Dichtung anpassen, wie auch das Gestaltungsprinzip ein anderes sein mußte, als es etwa die naturalistische oder auch die symbolistische Kunst verfolgt hatten. Der expressionistische Dichter muß»Visionär«sein und zugleich»Künder«seiner Vision. Er»sieht nicht, er schaut. Er schildert nicht, er erlebt. Er gibt nicht wieder, er gestaltet... Die Erde ist eine riesige Landschaft, die Gott uns gab. Es muß nach ihr so gesehen werden, daß sie unverbildet zu uns kommt. Niemand zweifelt, daß das Echte nicht sein kann, was uns als äußere Realität erscheint. Die Realität muß von uns geschaffen werden. Der Sinn des Gegenstands muß erwühlt sein. Begnügt darf sich nicht mit der geglaubten, gewähnten, notierten Tatsache, es muß das Bild der Welt rein und unverfälscht gespiegelt werden. Das aber ist nur in uns selbst. (Kasimir Edschmid)

Expressionistische Dichtung ist Ideendichtung, das Bannen von»Gesichten«ein Urausbruch dunkler, ungestalteter Kräfte, in denen das Dämonische, Elementare eines Gefühls, eines Zustandes visionär enthüllt wird. Der Dichter selbst fühlt sich nur als Medium, es spricht gewissermaßen aus ihm; er selbst erschrickt vor der radikalen Enthüllung seines Innern:

Ah! Ich habe mich ausverraten.

Mein entsetzliches Geheimnis und mein gütiges,

Aus den Kasernen der Verstellung ausgebrochen!!

Das gepflegte Antlitz meiner Lüge,

das blatternarbige Antlitz meiner Wahrheit

Enträtselt sich zur Wahrheit.

Ich schrieb mir unbekannte Chiffernschrift,

Unerbittlich log ich Wahrheit.

Nun beginne ich mich zu bedeuten,

Nun beginne ich hinter meinem Weiß hervorzukommen,

Nun baue ich mich auf mit abgehackten Händen...

Hilflos

Höhn ich mich Hilflosen von fern an.

(Franz Werfel)

Solche Entbindung des Gefühls im ekstatischen Ausbruch kann nicht in einer gebändigten Form geschehen. Form bedeutet diesen Dichtern Zwang, kalte Schönheit, ja Verschleierung und Lüge:

Form und Riegel mußten erst zerspringen,

Welt durch aufgeschlossene Röhren dringen:

Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen,

Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen.

Form will mich verschnüren und verengen,

Doch ich will mein Sein in alle Weiten drängen —...

(Ernst Stadler)

Die Dynamik der Entladung und das Übermächtig-Drängende führen auch in der Lyrik zur Bevorzugung der >offenen Form<. Die Stürmer und Dränger des 18. Jahrhunderts und der junge Goethe haben ähnliche Wege beschritten. Jeder Formkanon wird folgerichtig abgelehnt und nebeneinander stehen traumhafte Gebilde von zerfließender Musikalität und harte Rhythmen, Dissonanzen, schwermuttrunkene Elegien und rauschhafte Gesänge.

 



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