Zum Tod der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren 


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Zum Tod der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren



 

Die schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren ist am 28. Januar im Alter von 94 Jahren gestorben. Zu den bekanntesten Büchern Lindgrens gehören „Pippi Langstrumpf', „Die Kinder von Bullerbü" und „Karlsson vom Dach". Lindgren schrieb mehr als 30 Bücher und Theaterstücke, von denen viele verfilmt wurden. Über 120 Millionen Exemplare ihrer Bücher, die in über 60 Sprachen erschienen, wurden verkauft.

Als Schöpferin von „Pippi Langstrumpf', der spielerischsten Rebellin der Kinderliteratur, ist Astrid Lindgren wohl die weltweit bekannteste und beliebteste Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts. Erst relativ spät, mit 37 Jahren, entdeckte sie das Schreiben, angeregt durch die Geschichtenwünsche ihrer Tochter. Aber dann schrieb sie während nahezu 50 Jahren „von ganzem Herzen und mit Lust". Dabei entstanden um die 70 Kinderbücher, Märchen und Bilderbuchtexte, die in mehr als 60 SprachenSchöpferin neuer Vorbildfiguren übersetzt wurden. Für die gegen 50 Filme und Fernsehserien, die nach ihren Geschichten gedreht wurden, schrieb sie meist selbst das Drehbuch. Zusätzlich arbeitete sie von 1946 bis 1970 als Kinderbuchlektorin. Lang ist die Liste ihrer Preise und Auszeichnungen. Darunter selbstredend die höchste Ehrung der Kinderliteratur, die Hans-Christian- Andersen-Medaille (1958), aber auch der renommierte Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1978), der damit erstmals an eine Kinderliteraturautorin vergeben wurde, und 1994 der „Alternative Nobelpreis".

1907 geboren, erlebte sie auf einem Bauernhof im südschwedischen Smäland eine Kindheit, die sie immer wieder als überaus glücklich und als Hauptquelle ihrer schriftstellerischen Kreativität beschrieb. Das Ende der Kindheit erfuhr sie als Verlust: „Ich erinnere mich noch an den Sommer, als ich dreizehn war und merkte, dass ich nicht mehr spielen konnte. Es war entsetzlich." Noch schmerzlicher muss es für sie gewesen sein, sich mit 19 Jahren als ledige Mutter in Stockholm durchzubringen. Um sich zur Sekretärin auszubilden und zu arbeiten, war sie gezwungen, ihr Kind zu Pflegeeltern zu geben, bis sie fünf Jahre später heiratete. Es dürfte mit dieser schwierigen Zeit ihrer Adoleszenz zusammenhängen, dass sie später fast ausschließlich für Kinder im (glücklichen) Spielalter schrieb.

Astrid Lindgrens Geschichten waren nie aktuell im landläufigen Sinn. Sie, die während des Zweiten Weltkriegs zu schreiben begann, hat in ihren Büchern nie Bezug genommen auf die Gräuel ihres Jahrhunderts. Aber sie setzte ihnen, indirekt, doch unermüdlich, die Utopie der glücklichen Kindheit entgegen. Dabei hat sie, fast unbemerkt, immer wieder wichtige Entwicklungen der modernen Kinderliteratur vorweggenommen. Schon ihr erstes und berühmtestes Buch, „Pippi Langstrumpf' (1945, dt. 1949), ist das beste Beispiel dafür. Ohne Eltern oder sonstiges Aufsichtspersonal in der eigenen Villa lebend, dafür im Besitz riesiger Körperkräfte und eines Koffers voller Goldstücke, kann Pippi ihre unerschöpfliche Spiel- und Fabulierlust ungestört von Erwachsenen ausleben. Anpassung und Konvention kennt sie nicht, dafür sorgt sie oft für Gerechtigkeit. Sie ist damit der Prototyp einer „antiautoritären" oder „emanzipatorischen" Vorbildfigur. Dies 20 Jahre bevor solche Termini und die entsprechende Kinderliteratur überhaupt kreiert wurden.

Pippi ist aber, darin liegt ein Grund für ihre Langlebigkeit und Lebendigkeit, nicht ausschließlich ein Ideal emanzipatorischer Pädagogik. Sie hat auch regressive Züge. Mit ihrer physischen und ökonomischen Macht verkörpert sie ebenso jene kindlichen Allmachtsphantasien, die beim Erwachsenwerden überwunden werden müssen. Damit erlaubt sie ihren „normalen" Spielgefährten (und den lesenden Kindern) neben prospektiv emanzipatorischen auch rückwärts gerichtete Wünsche.

Wegweisend in der modernen Kinderliteratur war nicht nur Pippis fröhliches emanzipatorisches Potenzial. Sie gehört natürlich auch zu den starken Mädchen der ersten Stunde. Und hat schon von Anfang an klargemacht, dass weibliche Vorbilder und Identifikationsfiguren auch für Buben (wie Thomas) taugen. Zum Glück für ihre Leserinnen hat Astrid Lindgren darüber hinaus eine ganze Reihe attraktiver Buchmädchen geschaffen, bevor das entsprechende Defizit in den 1970er Jahren allmählich erkannt wurde. Ich denke etwa an Lisa, die Ich-Erzählerin der Bullerbü-Geschichten („Wir Kinder aus Bullerbü", 1947,dt. 1954), an die quicklebendige dreijährige Lotta aus „Die Kinder aus der Krachmacherstraße" (dt. 1957) oder an die gewitzte Madita, der „die Einfalle so rasch kommen, wie 'n Ferkel blinzelt" („Madita", 1960, dt. 1961). Und mit „Ronja Räubertochter" (1981, dt. 1982), ihrem letzten großen Kinderroman, hat sie nochmals eine lebensfreudige, mutige, aber auch nachdenkliche Mädchenfigur ganz neuen Typs geschaffen. Eine, die sich mit ihrer Freundschaft zum „feindlichen" Räubersohn Birk gegen das väterliche Prinzip von Gewalt und Krieg wendet. Eine, die gewaltfreie Konfliktaustragung gegen die scheinbar unausweichliche Tragik des Romeo-und-Julia-Motivs setzt. Ronja ist ebenso sehr eine Tochter des Waldes. In der Natur holt sie ihre innere Kraft.

Astrid Lindgrens tiefe, geradezu magische Verbindung mit der Natur kommt schon in vielen früheren Büchern stark zum Ausdruck. Lange bevor sie sich (ab 1985) politisch für Tierschutz einsetzt, sind in ihrem Werk die heute in der Kinderliteratur präsenten Anliegen der Umweltbewegung unauffällig angelegt. Ihr Engagement für eine Erziehung ohne Gewalt, in ihren Büchern immer wieder als Wunschmodell vorgeführt, sowie die Auseinandersetzung mit dem Tod in ihrem umstrittenen Totenmärchen „Die Brüder Löwenherz" (1972) sind weitere Themen, die Astrid Lindgren scheinbar selbstverständlich aufgegriffen hat, bevor sie zu kinderliterarischen Trendthemen wurden.

Astrid Lindgrens Geschichten sind Sehnsuchtsgeschichten. In realistischer, phantastischer oder märchenhafter Form hat sie immer wieder Mythen glücklicher Kindheiten entworfen, nach denen sich die lesenden Kinder, aber auch die Erwachsenen und nicht zuletzt die Autorin sehnen. Im Weiler Bullerbü, im Dorf Lönneberga („Michel in der Suppenschüssel", 1963, dt. 1964) oder auf Birkenlund („Madita") genießen ihre Buchkinder jene „Geborgenheit und Freiheit", in der Astrid Lindgren die Zauberformel ihrer eigenen glücklichen Kinderzeit sah. „Ich war ein Kind aus Bullerbü", sagte sie, „und es gibt kein anderes Kind, das mich inspirieren kann, als das Kind, das ich selbst gewesen bin." In ihren im ländlichen Milieu des Pferdezeitalters angesiedelten Alltagsgeschichten über Lausbuben und Lausmädchen sind die Kinder oft unter sich. Außer Sichtweite der Erwachsenen erfinden sie Spiele und Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Aber wenn dabei etwas schiefgeht, wenn Madita vom Dach oder in den Fluss fällt, wenn Michels Kopf in der Suppenschüssel stecken bleibt, dann sind Eltern, Dienstmädchen oder Nachbarn doch in Hörweite der kindlichen Hilfeschreie. Überhaupt gehören Nachbarn, Großeltern, Dienstboten, Dorforiginale und viele Freunde ebenso selbstverständlich zum Alltag wie die eigenen Eltern und Geschwister.

Ebenso wie in den realistischen Alltagsgeschichten kommen Kindersehnsüchte in Astrid Lindgrens phantastischen Figuren zum Ausdruck. In Pippi Langstrumpf der Wunsch nach Autonomie in der Erwachsenenwelt, gepaart mit regressiven Phantasien. In „Karlsson vom Dach" (1955, dt. 1956), dem gefräßigen, prahlerischen und von sich selbst ganz und gar eingenommenen Mann mit dem Propeller auf dem Rücken, sind es neben dem Traum vom Fliegen vor allem die Wünsche nach dem unangepassten, unbescheidenen, aggressiven Verhalten, das durch Erziehung gezähmt werden soll. Beide, Pippi und Karlsson, entfalten ihr respektloses Treiben in der Freundschaft zu ganz normalen, wohlerzogenen Kindern. So kommen diese dank ihren phantastischen Freunden zu vielen befreienden Lachpausen im anstrengenden Prozess der Zivilisation.

In den Märchenerzählungen schließlich werden Sehnsüchte in einer ändern Welt gestillt. Wenn liebevolle Eltern und eine kinderfreundliche Umgebung fehlen, wenn Kinder so einsam, krank oder arm sind, dass es nicht reicht, ihnen einen phantastischen Freund zuzugesellen, dann erfindet Astrid Lindgren eine zweite, glücklichere, tröstliche Welt für sie. In „Mio, mein Mio" (1954, dt. 1955) ist es das „Land der Feme". Dort findet Mio, vorher von lieblosen Pflegeeltern vernachlässigt, seinen Vater, den König. In „Die Brüder Löwenherz" sind es die Märchentäler „Nangijala" und „Nangilima" in denen die beiden Brüder von Krankheit und Tod erlöst werden. Zwar gibt es auch in diesen Märchenwelten böse Mächte. Aber anders als in der Realität sind die Kinder hier nicht machtlos. In der magischen Welt können sie kämpfen und mit Mut auch in scheinbar aussichtslosen Situationen gewinnen.

Ist so viel Sehnsucht, Wunscherfüllung und Trost nicht kitschig? Sind Astrid Lindgrens Geschichten idyllen- oder, im Falle der Trostbücher, gar todessüchtig? Rein inhaltlich gesehen, liegen solche Zweifel manchmal nahe. Sie lösen sich aber (fast) immer auf, sobald man genau hinhört, wie Astrid Lindgren erzählt. Sie ist nämlich nicht nur eine Wunscherfüllerin und Sehnsuchtsstillerin, sondern auch und vor allem eine große, genuine Erzählerin. Erinnerungserzählungen des Vaters, Vorlesestunden bei der Tochter des Kuhknechts haben ihre Geschichten nicht nur dem Inhalt, sondern auch der Form nach geprägt. Dem natürlichen Rhythmus mündlichen Erzählens nahe, sind sie ideale Vorlesebücher. Außergewöhnliche Sprachbilder, auffallige Erzählkonstruktionen verwendet sie mit größter Sparsamkeit. Ihr Raffinement liegt in der Einfachheit, mit der sie so zu erzählen weiß, dass das Alltägliche unerhört wird und das Unerhörte in den Alltag einzieht.

Claudia Weilenmann

 

Günter Grass' Novelle „Im Krebsgang"

 

Im Herbst 1997 löste der unlängst tödlich verunglückte Schriftsteller W. G. Sebald eine literarische Debatte aus mit der These, der Luftkrieg gegen die deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg und die immensen Opfer unter der Zivilbevölkerung seien in der deutschen Literatur mit einem Darstellungstabu belegt gewesen. Die Erinnerung an die erlittenen Verluste sei vom Schulddiskurs fast vollständig verdrängt worden. Sebald erhielt viel Zustimmung, mitunter wurden indessen auch Einwände geäußert, oder man zitierte Beispiele, die Sebalds These entkräften sollten. Davon unangefochten blieb der Kern seiner Aussage: Das „Geheimnis von den in die Grundfesten des deutschen Staates eingemauerten Leichen" habe die Deutschen untergründig fester aneinander gebunden als jede andere positive Zielsetzung.

Freilich traf Sebalds Feststellung eines eklatanten Versäumnisses in der deutschen Nachkriegsliteratur auf kaum ein Werk von Rang so wenig zu wie auf jenes von Günter Grass. Von seiner Danziger Trilogie bis ins spätere Werk hinein grundierte der Zweite Weltkrieg den Stoff des Erzählers. Er brachte sowohl die schuldhafte Verstrickung wie die fortdauernden Traumata von Verlust und Vertreibung zur Sprache; unerschrocken rührte er an den wunden Punkt deutschen Gedenkens: Es tut weh, wohin man schaut; man war Täter und Opfer in einem; Scham empfand man für das eine wie das andere. Diese Gleichzeitigkeit von nicht gegeneinander aufzurechnender Schuld und Schmach stellt eine Grundkonstante seines Schaffens dar.

Kaum einmal hat Grass versucht, das letztlich Inkommensurable und also auch Unaussprechliche frontal anzugehen. Wohlweislich hat er sich gehütet, daraus ein „Thema" zu machen. Denn nur eingeflochten in eine Geschichte lässt sich das Grauen erzählen. Erst wo es in einzelnen flüchtigen Bildern aufblitzt, wo es im Krebsgang, seitlich streifend, erzählt wird, greift es uns kalt ans Herz. So geschah es in manchem Buch von Günter Grass; so geschieht es in einigen Büchern dieses Frühjahrs, von Judith Kuckart über Hanna Johansen bis Christa Wolf.

Vor vier Jahren noch vertrat Grass in einem Interview die Ansicht, es lasse sich nicht erzählen, was Sebald eingeklagt hatte. Zwei Jahre später machte er sich in seinem Sinneswandel dessen Auffassung zu eigen: Merkwürdig mute an, so stellte er in einer in Vilnius gehaltenen Rede fest, „wie spät und immer noch zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während des Krieges den Deutschen zugefügt wurden. Selbst in der Nachkriegsliteratur fand die Erinnerung an die vielen Toten der Bombennächte und Massenflucht nur wenig Raum." Und nun, abermals zwei Jahre später, legt er seine Novelle „Im Krebsgang" vor, und holt er - in einer verspäteten Erinnerung -nach, was er und seine Generation versäumt haben sollen.

Als Alter Ego des Autors tritt in der Novelle ein in die Jahre gekommener Schriftsteller auf. Seine Aufgabe wäre es gewesen, so lässt ihn Grass gleichsam in eigener Sache gestehen, das Elend der ostpreußischen Flüchtlinge zu beschreiben: „Gleich nach Erscheinen des Wälzers 'Hundejahre' sei ihm diese Stoffmasse auferlegt worden. Er - wer sonst? - hätte sie abtragen müssen, Schicht für Schicht" Stattdessen hat der alternde Dichter, „der sich müdegeschrieben hat", einen eher miesen als nur mittelmäßigen Journalisten zum Ghostwriter ausersehen: Dieser soll nun nachholen, was Grass bzw. sein Novellen-Alter-Ego aus Geschichtsverdrossenheit in den sechziger Jahren unterlassen habe: aussprechen, was niemand wissen, aber jeder vergessen wollte; das von der übermächtigen eigenen Schuld Verdrängte hervorholen und nicht nur der fremden, sondern auch der eigenen Toten gedenken. - Und schon jubelt das deutsche Feuilleton: Nun endlich sei eingelöst, was Sebald gefordert hatte. Endlich sei das literarische Schweigen über die deutschen Opfer gebrochen, sei das namenlose Leid in Gesichtern und Geschichten aufgehoben.

Aber tut Grass auch wirklich, was man ihm nachsagt und was er sich selber abverlangt? Nun ja, er erzählt die Geschichte des am 30. Januar 1945 in der Ostsee von einem rassischen U-Boot versenkten deutschen Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff”. Wohl gegen 9000 Menschen sind dabei umgekommen, darunter viele Kinder und Frauen, die vor den anrückenden rassischen Truppen evakuiert werden sollten; nur wenig mehr als 1200 Menschen überlebten die Katastrophe. Gewiss, Grass schildert in einigen ergreifenden Skizzen das Elend der Flüchtlinge und den tausendfachen Tod im eiskalten Meer. Indessen holt er weiter aus. Ein zweiter - dünner - Erzählstrang folgt den Spuren des serbischen Juden David Frankfurter, der 1936 in Davos den Landesgrappenleiter Wilhelm Gustloff (nach ihm war der ehemalige „Kraft durch Freude"-Dampfer benannt) erschossen hatte. Ein dritter und nicht weniger dürftiger Strang schließlich handelt vom rassischen U-Boot-Kommandanten, der den verhängnisvollen Schießbefehl gegeben hatte. Das alles fügt sich zu einer brisanten Triade: hier ein jüdischer, dort ein rassischer Täter - und dazwischen das Opfer, ein deutsches Flüchtlingsschiff.

Erzählt uns Grass diese Geschichte? Nein, dazu ist er zu klug, sein Trick ist indessen ganz und gar durchsichtig. Er hat die Geschichte seinem Ghostwriter in den Mund gelegt. Umständlich und sprunghaft berichtet dieser, mit dokumentarischem Eifer und selten auf die eigene Einbildungskraft oder die Erinnerung der Zeitzeugen vertrauend. Ausgerechnet dieser Journalist - der abwechselnd für die rechte Springer-Presse und die linke „taz" schreibt - soll also das Versäumte nachholen? Einer, den Grass ungestraft Sätze wie diesen schreiben lässt: „Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch." Die Wahl indessen fiel nicht zufallig auf diesen schlechten Stilisten. Er ist gewissermaßen ein Oberlebender der „Gustloff, geboren in der Stunde ihres Untergangs auf deren Begleitschiff, wohin seine bereits in den Wehen liegende Mutter gerettet worden war. Er ist der Sohn der Tulla Pokriefke, von der es in dem Roman „Die Rättin" noch geheißen hatte, sie sei wahrscheinlich mit der „Gustloff' untergegangen.

Freilich hätte weder der ominöse Auftraggeber noch das Drängen seiner Mutter diesen Paul Pokriefke dazu bringen können, die Geschichte der gesunkenen „Gustloff' aufzuzeichnen. Erst als er bei lustlosen Recherchen im Internet auf eine rechtsradikale Homepage aufmerksam wurde, hinter der er bald den eigenen, halbwüchsigen Sohn Konrad vermutete, schreckte er auf. Und so wird uns denn die Geschichte weder von Grass noch zur Hauptsache von diesem Paul Pokriefke und geschweige denn im Krebsgang erzählt, vielmehr erhalten wir Zugang zu Fakten und Legenden im Maß, wie diese von Konrad im Internet aufgeschaltet werden.'

In doppelter Brechung also wird erzählt. Die Absicht ist leicht erkennbar: Grass geht es nicht vor allem um die Tragödie des Flüchtlingsschiffes, vielmehr führt er vor, was mit dieser und ähnlichen Geschichten von deutschem Leid geschieht, wenn sich der für sie prädestinierte Schriftsteller aus Überdrass an der Vergangenheit der Verantwortung entzieht und das Erzählen einem opportunistischen Journalisten überläset, der sich seinerseits davor drückt, bis der Stoff seinem rechtsradikalen Sohn zufällt, der mit diesen Opfergeschichten ganz eigene Zwecke verfolgt. Vor die Hunde geht dabei nicht nur die Erinnerung, die Geschichtsverdrehung stiftet auch zu Revanchismus an. Das alles zeigt uns Grass, einschließlich eines daraus hervorgehenden antisemitisch motivierten Mordes.

Gewiss, ein Gestus der Selbstanklage begleitet diese Novelle, pedantisch indessen ist das didaktisch-belehrende Kalkül ihrer Konstruktion. Der Text hält mit dem Zeitgeist Schritt, politisch ist ihm nichts vorzuwerfen, literarisch aber ist er bis auf wenige Szenen belanglos. Hätte Grass nur zunächst ein politisches Manifest geschrieben und hätte er dann seine Novelle verfasst und hätte er darauf verzichtet, seine Worte einem Strohmann in den Mund zu legen, es wären ihm vielleicht ureigene Bildei gelungen, womöglich noch mehrere von dei Art wie dieses, in welchem das Leiden nur mittelbar, gespiegelt aufscheint: Kurz bevor die „Gustloff” mit den Flüchtlingen an Bord zu ihrer Fahrt ins Verderben ablegt, kommen - in einer Erinnerung der Mutter - die zurückgelassenen und herrenlosen Hunde in den Blick, die nicht aufs Schiff durften und nun so verstört wie hungrig die Quaianlagen unsicher machten.

Indessen scheint die Novelle mit ihren einprägsam-schlichten Denkfiguren politischen Anschauungsunterricht betreiben zu wollen: hier die Generation der Mütter, die mit ihren Erinnerungen nur Widerwillen auslösen und diese allmählich nostalgisch einfärben; da die unwillige Kindergeneration, die von all dem nichts wissen will; dort die Enkel, die widerstandslos den Neonazis anheim fallen. Oder hier die DDR mit ihrem institutionalisierten Antifaschismus, der nach dem Mauerfall mit einer sentimentalen Erinnerungskultur kompensiert wird; im Westen dagegen eine liberalaufgeklärte Toleranz, die dann freilich dem rechtsradikalen Gedankengut ihrer Jugendlichen nur obrigkeitliche Zensur entgegenzustellen weiß.

Selten hat Grass weniger den Krebsgang gewählt, selten ist er der Zeit weniger „schrägläufig in die Quere" gekommen. Fadenscheinig hat er seinen Stoff gewoben, eher gut gemeint als gut gemacht. Grass wird viel Zustimmung und Beifall erhalten für seine politisch korrekte Novelle. Doch statt, was not tut, zu erzählen, strickt Grass bereits an einem neuen Schuld- und Selbstbezichtigungsdiskurs.

Roman Bucheli

 

 



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