Zwei Ohrfeigen, viel Geheul und ein Karpfen 


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Zwei Ohrfeigen, viel Geheul und ein Karpfen



 

 

 

':■■ Der Alibaba riss mich aus meinen Gedanken.

„Gehst du allein hin oder soll ich dich begleiten?"

„Wohin?", fragte ich. Dabei wusste ich ganz genau, was et meinte.

„Zur GOLDENEN GANS natürlich!"

Ich hatte schon nicht zum Herbert Plank gewollt! Ich hat­te auch nicht zum Getupften gewollt! Und zur GOLDENEN GANS wollte ich erst recht nicht. Was sollte ich denn dort? Und der rote BMW stand ja angeblich nicht mehr vor der Tür! Mir reichte es! Ich glaube, ich wollte einfach nicht noch mehr von meiner Schwester erfahren. Das passte ja alles nicht zu der Ilse, die ich kannte. Das war eine fremde Ilse! Die wollte ich nicht kennen lernen!

 

„Also, was ist?", forschte der Alibaba. „Die Rückertgasse ist

gleich dahinten." Er zeigte zum Park hin. „Wir könnten den Schuppen ja einmal besichtigen!"

Ich wagte nicht zu widersprechen. Brav marschierte ich neben ihm zur GOLDENEN GANS. Ich hatte angenommen, dass der Alibaba bloß das Haus - von außen – besichtigen wollte. Aber er marschierte auf die Restauranttür zu, riss sie auf und betrat das Lokal. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Bloß an zwei Tischen saßen Gäste. Wir setzten uns an einen Tisch hinter einem Fenster. Eine Kellnerin kam und fragte nach unseren Wünschen. Ich wusste nicht recht, was ich mir wünschen sollte.

Ich sagte zum Alibaba: „Ich nehme dasselbe wie du!"

„Dann zweimal Würstel mit Senf, zweimal Kirschtorte und zweimal einen halben Liter Apfelsaft", bestellte der Alibaba. Die Kellnerin ging weg, ich flüsterte dem Alibaba zu: „Aber so viel Geld habe ich nicht!"

„Du bist eingeladen", sagte der Alibaba großzügig. Ich wollte mich bedanken, doch dazu kam ich nicht, denn die Tür ging wieder auf und ein Mann, doppelt so groß und doppelt so dick wie der Alibaba, also so groß und so dick wie ein Grizzlybär, kam zur Tür herein. Hinter ihm her ein riesiger Hund.

Der Mann hatte eine blaue Wollmütze auf dem Kopf, eine Schürze vor dem Bauch und Holzschuhe an den Füßen. Ich kann das Alter von erwachsenen Leuten schwer schätzen, aber dass der Mann älter als mein Vater war, war ich mir sicher. Aber die Kellnerin sagte zu ihm: „Grüß Gott, Herr Chef!"

Und die Leute, die bei dem einen Tisch saßen, riefen: „Da kommt ja der Wirt! He Wirt, wie wäre es mit einem schnel­len Kartenspiel?"

Der Wirt nahm seine blaue Wollmütze vom Kopf. „Keine Zeit, Leute", sagte er. „Ich muss gleich wieder losfahren!" „Du, Alibaba", sagte ich leise. „Dass meine Schwester mit dem alten Halbaffen eine Liebschaft gehabt hat, ist unmög­lich!"

„Nichts ist unmöglich", flüsterte der Alibaba.

Ich hob die rotweiß karierten Vorhänge vom Fenster ein wenig hoch.

„Und ein roter BMW steht auch nicht da", sagte ich.

Der Alibaba schaute auch aus dem Fenster. „Hast Recht", sagte er.

„Von dem, was uns der Getupfte erzählt hat", sagte ich, „stimmt nur der Hund!"

 

Aber der Alibaba war sich sicher, dass der Getupfte nicht gelogen hatte. Er griff nach meiner Hand. „Irgendwie lässt sich jedes Rätsel lösen", sagte er. „Wir kommen schon noch dahinter!" Und dann brachte die Kellnerin die Apfelsäfte und die Würstel und die Torten und der Alibaba sagte zu mir, ich solle schnell essen, weil wir ins Kino gehen. Dort sei er mit dem Nikolaus verabredet. Er schien nicht den ge­ringsten Zweifel daran zu haben, dass ich ins Kino wollte. „Ich muss heim", sagte ich.

Er lachte mich aus. „Was heißt da müssen?"

Weil ich mir nicht schon wieder anhören wollte, dass man sich von den Eltern nichts verbieten lassen darf, sagte ich: „Ich geh gar nicht gern ins Kino!"

Ja, gibt es denn so etwas?", staunte der Alibaba und stopfte Würstel und nachher Torte in sich hinein und spülte Apfel­saft nach. „Zahlen!", rief er dann, und die Kellnerin kam, und er gab ihr mehr Geld, als ich in einem Monat Taschen­geld bekomme.

 

„Begleite mich wenigstens bis zum Kino", sagte er, als wir aus der GOLDENEN GANS auf die Straße traten.

Ich schaute auf die Uhr. Es war Viertel nach fünf. Ich bekam einen Schreck. Ich hätte schon um fünf Uhr wieder daheim sein sollen. Aber ich wollte dem Alibaba nicht erzählen, wie das mit der Mama und der Amtsrätin und der Pünkt­lichkeit war. So einer hat dafür kein Verständnis. Und ich dachte mir auch: Na gut! Jetzt komme ich sowieso schon zu spät, jetzt gibt es sowieso schon einen Krach! Also kann ich ihn auch noch zum Kino begleiten!

Vor dem Kino war nicht nur der Nikolaus. Es war auch sein kleiner Bruder da. Und aus meiner Klasse drei Kinder. Sie haben alle gesagt, dass ich doch ins Kino mitkommen soll. Und der Alibaba ging zur Kinokasse und kaufte eine Karte für mich. Und der Nikolaus sagte, es sei „super", dass ich mitgekommen sei. Und die drei Kinder aus meiner Klasse freuten sich auch, dass ich da war. Und sie waren alle so lustig. Und ich wollte einfach bei ihnen bleiben! Zwischen ihnen stehend, kam es mir auf einmal ganz normal vor, ins Kino zu gehen, ohne vorher daheim Bescheid zu sagen.

Nach dem Kino bin ich dann sofort nach Hause gelaufen, was mir gar nicht so leicht fiel, weil die anderen noch vor dem Kino herumstanden und redeten.

 

Als ich zu Hause angekeucht kam, gab es den ersten Krach. Die Mama war ziemlich hysterisch. „Um fünf hättest du daheim sein sollen", schrie sie. „Weißt du, wie spät es jetzt ist?"

„Zehn Minuten nach acht Uhr", sagte ich und bekam dafür die erste Ohrfeige.

„Schlag sie nicht, es lohnt nicht", sagte die Amtsrätin.

„Wo warst du?", schrie mich die Mama an.

„Im Nachmittagsturnen", sagte ich, „es hat länger gedau­ert!"

„Sie ist genauso verlogen wie ihre Schwester", sagte die Amtsrätin und die Mama gab mir die zweite Ohrfeige.

Ich musste an den Alibaba denken und an das, was er von den Eltern gesagt hatte. Ich dachte: Alibaba, wenn du mei­ne Mutter sehen könntest, würdest du nicht mehr glauben, dass Eltern bloß Papiertiger sind!

„Also, wo warst du?", brüllte meine Mutter. Ich gab ihr keine Antwort. Wenn man zwei Ohrfeigen bekommen hat, kann man auch eine dritte aushalten.Aber die Mama schlug nicht mehr zu. Sie fing zu weinen an. „Nimm dich zusammen", sagte die Amtsrätin zur Mama.

Jetzt fängt sie auch schon an, jetzt geht es bei ihr auch schon los!" Unter viel Geheul stieß die Mama das hervor. Ich war erstaunt, weil ich merkte, dass mir die Mama nicht Leid tat. Bisher hatte sie mir immer Leid getan, wenn ich sie weinen sah.

 

Ich ging in mein Zimmer. Ich hatte noch Hausaufgaben zu machen. Kaum saß ich am Schreibtisch, kam die Mama her­ein. Sie fing wieder von vorne an: wo ich war, dass ich sofort sagen soll, wo ich war, und dass mir etwas ganz Fürchterliches passieren wird, wenn ich es nicht sage. Und ich solle nur ja nicht glauben, tun zu können, was ich wolle! Und dann schrie sie noch, dass ich in meinem Zimmer bleiben müsse. Und kein Wort redet sie mehr mit mir! Und zum Geburtstag werde ich auch nichts von ihr bekommen! Als die Mama endlich aus dem Zimmer gegangen war, kam der Oliver herein.

„Wo warst du denn wirklich?", fragte er.

„Im Kino", sagte ich.

„Nimmst mich das nächste Mal mit?", fragte er. Ich nickte.

Die Zimmertür ging wieder auf. Die Amtsrätin schaute herein.

„Oliver, komm sofort heraus", rief sie.

Der Oliver wollte nicht. Sie kam ins Zimmer und packte ihn.

Er wehrte sich, aber sie war stärker. Sie trug den strampeln­den Oliver einfach aus dem Zimmer. „Aber das nächste Mal nimmt sie mich mit!", rief der Oliver. „Wohin nimmt sie dich mit?", fragte die Amtsrätin den Oli­ver und ließ ihn los.

„Sag ich dir doch nicht!", rief der Oliver, duckte sich und rannte, an der Amtsrätin vorbei, aufs Klo. Dort sperrte er sich ein und die Alte stand eine halbe Stunde vor der Klotür und klopfte und drohte und lockte, bis der Oliver dann endlich herauskam.

Kurz nachher kam der Kurt heim. Ich hörte die Amtsrätin zu ihm sagen: „Na endlich! Das Essen wird ja kalt!"

Dann, glaube ich, schaute er in die Küche hinein, wo die Mama war.

„Was Neues?", fragte er in dem gewissen Trauerton, in dem seit dem Verschwinden der Ilse bei uns zu Hause immer nach „etwas Neuem" gefragt wird.

„Nein, gar nichts", antwortete die Mama mit Tränenstimme und darauf fragte der Kurt: „Was ist denn? Hat sich die Polizei..."

Die Amtsrätin unterbrach ihn: „Die Polizei schläft und schreibt Strafzettel aus, da rührt sich nichts! Aber die Erika..."

„Was ist mit der Erika?", fragte der Kurt.

Und der Oliver rief: „Sie hat sie gehauen, ganz fest gehau­en!"

„Wer hat wen gehauen?", fragte der Kurt.

„Die Mama die Erika", rief der Oliver. „Ich mag sie nimmer, wenn sie die Erika haut!"

„Wie sprichst du denn über deine Mutter!", rief die Amtsrätin. „Halt sofort den Mund!"

Der Oliver machte „bäääh". Die Mama rief: „Benimm dich, Oliver!"

Und die Tatjana schrie: „Papa, ich will auf deinen Schultern reiten!"

 

Eine Zeitlang war dann vor meiner Tür so ein Geschrei und ein Gebrüll, dass ich kaum ein Wort verstehen konnte. Am lautesten brüllte die Tatjana. Wie ich nachher erfahren habe, wollte sie dem Kurt auf die Schultern klettern und stürzte dabei auf halber Höhe ab und fiel auf den Oliver. Schließlich ging das Geschrei und Gebrüll in Tatjana-Beru­higungsgemurmel über und die Stimmen entfernten sich von meiner Tür.

Ich legte mich auf mein Bett und starrte Löcher in die Luft. Ich versuchte, mir etwas Angenehmes vorzustellen, doch es gelang mir nicht. Dann kam der Kurt zu mir ins Zimmer. Ich solle doch essen kommen, sagte er. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte wirklich nicht. Ich hatte keine Lust, die Gesichter der Mama und der Amtsrätin zu sehen.

„Wenn sie nicht will, soll sie es bleiben lassen", rief die Mama aus der Küche.

„Komm, mir zuliebe", sagte der Kurt. Der Kurt hat mich noch nie um etwas gebeten und ich wollte gerade aufste­hen und mit ihm ins Wohnzimmer gehen, da schaute die Mama zur offenen Tür herein und rief: „So lass sie doch! Die Dame ist eben beleidigt! Ist ja auch unerhört, wenn ich wissen will, wo sie sich herumtreibt!"

„Ich bitte dich!", seufzte der Kurt und schaute die Mama verzweifelt an.

„Was heißt da, ich bitte dich!", rief die Mama. „Soll ich viel­leicht seelenruhig zuschauen, wie sie sich herumtreibt und..."

„Und was, bitte?", fragte der Kurt.

Bevor die Mama antworten konnte, war die Amtsrätin da. „Kurt!", zischte sie. „Ich finde, du benimmst dich grotesk! Alles hat seine Grenzen!"

„Alles hat wirklich seine Grenzen", rief der Kurt - und: „Ihr geht mir auf die Nerven!"

Die Amtsrätin schnappte nach Luft wie der Karpfen beim Fischhändler, bevor ihm der Fischhändler eins über den Schädel gibt. Die Mama fing wieder zu weinen an. Der Oliver tauchte hinter der Amtsrätin auf und rief: „Sie war doch nur im Kino! Und das nächste Mal nimmt sie mich mit!"

Der Oliver wollte mich garantiert nicht verraten. Er ist noch zu klein, um den Mund zu halten und ein Geheimnis nicht weiterzuerzählen.

„Du warst im Kino?", fragte mich der Kurt. Ich nickte. Er griff in seine Hosentasche und holte Geld heraus. „Kino ist teuer", sagte er und reichte mir einen Geldschein.

Jetzt schaute die Amtsrätin drein wie ein Karpfen, nachdem ihm der Fischhändler eins über den Schädel gegeben hat. Wie die Mama dreinschaute, kann ich nicht sagen. Die drehte sich nämlich um und verließ das Zimmer.

„Ich will auch Geld", sagte der Oliver zum Kurt.

„Wenn du ins Kino gehst, bekommst du auch Geld", ver­sprach der Kurt dem Oliver und zu mir sagte er: „So und jetzt gehen wir essen, wir werden uns doch den Appetit nicht verderben lassen!"

Ich hatte zwar noch immer keine Lust auf die Gesichter der Mama und der Amtsrätin, doch ich wollte den Kurt nicht enttäuschen.

Die Mama und die Amtsrätin hockten am Esstisch und machten total vergrämte Gesichter. Der Kurt tat, als wäre gar nichts vorgefallen. Er redete mit mir und dem Oliver und der Tatjana. Hin und wieder fragte er auch die Mama etwas; völlig nebensächliche Sachen. Die Mama antwortete bloß mit „ja" oder „nein". Doch dann fragte der Kurt etwas, worauf man nicht mit ja oder nein antworten konnte. Da gab die Mama gar keine Antwort.

„Sie scheint böse mit mir zu sein", sagte der Kurt zum Oliver und grinste.

„Warum ist sie böse?", fragte die Tatjana.

„Weiß ich doch nicht", sagte der Kurt. „Bin mir keiner Schuld bewusst!"

„Mama, warum bist du böse mit dem Papa?", fragte die Tatjana.

„Ich bin nicht böse mit ihm", sagte die Mama zur Tatjana und der Oliver sagte zum Kurt: „Sie sagt, sie ist nicht böse mit dir!"

Und da sagte der Kurt zu mir: „Oh, bin ich froh! Sie ist gar nicht böse mit mir!"

Es war ein total affiges Gespräch. Die Mama kam sich ver­höhnt vor. Sie schob den Teller weg und stand auf. „Da vergeht einem der letzte Appetit", sagte sie und verließ das Wohnzimmer.

 

 

Wortschatzerklärungen

 

 

° dreinschauen = auf bestimmte Weise blicken, eine böse Miene machen

° forschen = fragen, prüfen

° der Schuppen = jugendspr.: das Cafe, das Lokal

° „ Grüss Gott „ = Begrüssungsformel in der österr./ süddeut. Sprache

° Schreck bekommen = Angst bekommen, fürchten

° sich zusammen nehmen = sich beherrschen, ruhig bleiben

° sich wehren = sich verteidigen, für sich selber kämpfen

° hauen = schlagen

° nimmer = dialektale Verschmelzung von nicht und mehr

° sich herumtreiben = herumlaufen, bummeln

 

 

Aufgaben nach dem Lesen

 

 

1. Haben sich alle eure Vermutungen erfüllt?

Habt ihr alle Personen auf dem Bild erkannt?

Habt ihr noch was vom Text erwartet? Hat euch etwas schockiert

 

2. Ist die Suchaktion zu Ende? Will Erika sie jetzt fortsetzen?

 

3. Der Kinobesuch scheint interessant zu sein.

a) Warum lädt Alibaba Erika ins Kino ein?

b) Was bedeutet der Kinobesuch für Erika?

c) Warum sagt sie der Mutter nicht die Wahrheit?

d) Warum tut die Mutter ihr nicht Leid mehr?

 

4. Warum tritt Kurt mehr und mehr in den Vordergrund und wird immer positiver? Was zeigt sein Verhalten gegenüber Erika?

 

5. Gebt den Inhalt aus verschiedenen Perspektiven (Erika, Kurt, die Mutter, die Amtsrätin, Alibaba) wieder!

 

 

6. Bildet bitte Hypothesen nach vorne!

Gibt es etwas, was ihr jetzt nach dem Ende des Kapitels gerne wissen möchtet? Schreibt bitte eure Fragen ins Arbeitsheft!

 

 

Kapitel 16

 

 

Aufgaben vor dem Lesen

 

1. Lest zuerst den Titel des Kapitels und seht euch die Illustration zum Kapitel an. Könnt ihr die Bedeutung neuer Wörter erschliessen? Ist es verständlich, was an dem Jungen die Frauen so erschrecken kann?

 

2. Lest das 16. Kapitel ohne Wörterbuch und macht parallel das Arbeitsblatt 10.

 

Zwei Frauen erschrecken über den Aliba­ba und der Alibaba erschrickt über diese zwei Frauen nicht minder

Nach dem Essen trug ich das Geschirr in die Küche und stellte es in das Spülbecken.

Die Mama war beim Oliver und der Tatjana im Zimmer. Ich hörte, wie sie aus einem Buch vorlas.

Der Kurt rollte den Fernsehapparat ins Schlafzimmer. Im Wohnzimmer kann er ja jetzt nicht mehr fernschauen, weil die Amtsrätin auf der Couch schläft, und die geht immer schon um elf Uhr zu Bett.

 

Ich dachte mir gerade: Für heute ist der Krach vorüber! Da klingelte es an der Wohnungstür. Halb zehn war es schon. Ich bekam Herzklopfen. Ich dachte mir: Um diese Zeit kommt doch kein Besuch mehr! Das muss mit der Ilse zusammenhängen! Das muss die Polizei sein! Und dann bekam ich noch mehr Herzklopfen, weil ich plötzlich dach­te: Vielleicht ist es die Ilse selber!

Ich glaube, der Kurt dachte etwas Ähnliches, denn er starrte auf die Wohnungstür und rührte sich nicht. Es klingelte wieder.

„Ist vielleicht der Hausmeister", sagte der Kurt und wollte zur Tür hin. Da kam die Amtsrätin aus dem Wohnzimmer, rief „Was öffnet denn keiner?", überholte den Kurt und riss die Wohnungstür auf. Vor der Tür stand der Alibaba. Mit rosa Damenhut, Urgroßvatermantel und bemalten Jeans. Er lächelte die Amtsrätin freundlich an.

„Pardon", sagte er, „entschuldigen Sie die späte Störung, ich suche..." Der Alibaba schaute, an der Amtsrätin vorbei, in die Diele hinein. „Ach, da ist ja mein Sweety!", rief er mir zu.

Die Amtsrätin hält Menschen, die wie der Alibaba aussehen, nicht für Gymnasiasten, sondern für ausgeflippte, vergam­melte Typen, und vor solchen hat sie Angst. Sie wich vor dem Alibaba zurück und der Alibaba nahm das als Einla­dung einzutreten.

 

Die Mama, der Oliver und die Tatjana waren auch in die Diele gekommen und schauten den Alibaba an. Der nahm den rosa Hut vom Kopf, nickte in die Runde, trat von einem Fuß auf den anderen und fühlte sich unbehaglich. Was ja kein Wunder war! Derart angestaunt zu werden ist nicht angenehm. Hilfesuchend schaute er mich an. Aber die Hilfe kam vom Kurt. Der sagte freundlich: „Guten Abend, junger Mann!"

 

 

Da grinste der Alibaba wieder und erklärte: „Ich habe ihrer Tochter etwas Wichtiges mitzuteilen!"

„Na, dann teile mit", sagte der Kurt.

„Ist aber, bitte, ein Unter-vier-Augen-Gespräch", sagte der Alibaba. Der Kurt nickte und zeigte mit der Hand zu meiner Zimmertür. Ich lief zu meinem Zimmer, machte die Tür auf, ließ den Alibaba eintreten und schlug die Tür wieder zu. Der Alibaba ließ sich auf das Bett der Ilse fallen. „Mensch, was war denn das für ein mehrfacher Alptraum?", fragte er. „Die zwei Weiber haben mich ja angeschaut, als war ich das Krokodil im Mädchenpensionat!" Der Alibaba schüttelte angewidert den Kopf. „Kein Wunder, dass deine Schwester weg ist!" Dann entschuldigte er sich bei mir. „Was taktlos", sagte er. „Aber die zwei Weiber haben mich total geschockt!" Und dann sagte er, er sei so spät noch gekommen, weil er eine tolle Neuigkeit habe.

 

„Der dicke Wirt hat einen Bruder", sagte er. „Einen sehr jungen Bruder. Und der fährt einen roten BMW. Das wird wohl der Mann sein, den wir suchen!"

Ich wollte wissen, wie der Alibaba das herausbekommen hatte.

„War nicht schwer", sagte er. „Nach dem Kino bin ich noch einmal zur GOLDENEN GANS. Ich wollte eigentlich nur schauen, ob vielleicht der rote BMW dort parkt. Und dann war im Nachbarhaus, im Erdgeschoss, ein Fenster offen und aus dem Fenster schaute eine alte Frau heraus. Da hab ich mir gedacht, die frage ich einfach. Und dann habe ich ihr einen Bären aufgebunden. Dass ich ein armer, sehr ar­mer Junge bin, habe ich ihr erzählt. Und dass mir ein roter BMW beim Einparken mein Fahrrad kaputt gemacht hat. Und dass ich jetzt einen roten BMW suche und den jungen Mann, der dazu gehört. Damit mir der den Schaden er­setzt!"

„Und die hat dir das geglaubt?", fragte ich.

„Na klar!", sagte der Alibaba. „Die hat sich gefreut. Die kann den Kerl nämlich nicht leiden. Weil er seine Autotür vor ihrem Fenster immer so laut zuschlägt. Mitten in der Nacht!"

„Hat sie auch etwas von der Ilse gewusst?", fragte ich. Der Alibaba erklärte, danach habe er die alte Frau nicht gefragt. „Das wäre zu auffällig gewesen", sagte er. „Jedenfalls hat sie mir erzählt, dass der Wirt ein guter Mensch ist, arbeit­sam, ehrlich und sparsam. Aber der junge Bruder ist ganz anders. Faul und verschwenderisch. Nichts arbeitet er. Angeblich studiert er. Aber er macht nie Prüfungen. Er in­teressiert sich nur für Autos und für Mädchen. Und lebt vom Geld seines Bruders! Das war's, was ich dir sagen wollte." Der Alibaba stand auf. „Und dass deine Schwester mit dem Kerl fortgefahren ist, scheint mir jetzt sicher. Und wenn das so ist, dann wird sie schon wiederkommen. Ich an deiner Stelle würde jetzt gar nichts mehr unternehmen! Deiner Schwester geht es gut! Das ist doch im Moment die Hauptsache, oder?"

Ich nickte und führte den Alibaba zu unserer Wohnungs­tür. „Dann bis morgen, Sweety", sagte der Alibaba, nahm meine Hand, hauchte mir einen Kuss auf den Handrücken und lief zur Treppe hin. Ich schloss die Wohnungstür und lehnte mich an die Wand. Ich hörte die Stimmen vom Kurt und der Mama aus dem Wohnzimmer. Die Wohnzimmertür war zu. Ich konnte nicht verstehen, was die Mama und der Kurt redeten, aber irgendwie klangen die Stimmen böse.

 

Ich ging leise zur Wohnzimmertür hin. Jetzt konnte ich die Stimmen verstehen. Der Kurt sagte gerade: „Das ist aber komisch! Zuerst heißt es, dass ich mich zu wenig um die Kinder kümmere, und wenn ich mich dann kümmere, ist es auch nicht recht! Könntest du mir freundlicherweise sagen, was ich eigentlich soll?"

Die Amtsrätin war auch im Wohnzimmer. Sie sagte: „Also auf gar keinen Fall hättest du dieses Individuum zu ihr ins Zimmer lassen sollen!"

„Er hat sich nicht einmal vorgestellt!", sagte die Mama.

„Und fast zehn Uhr war es auch schon!", sagte die Amts­rätin.

„Und männlich war das Wesen auch noch dazu!", rief der Kurt höhnisch.

„Mit dir ist ja nicht zu reden", rief die Mama. „Ich habe doch nichts dagegen, dass die Erika auch mit Jungen be­freundet ist! Aber dieser entsetzliche Kerl ist erstens zu alt für sie, zweitens zu dick, drittens zu hässlich, viertens zu vergammelt und..."

Was sie noch alles gegen den Alibaba einzuwenden hatte, erfuhr ich nicht mehr, weil der Kurt rief: „Ist ja erstaunlich, was du an einem Menschen in ein paar Sekunden alles feststellen kannst! So eine Menschenkenntnis möchte ich haben!"

Die Mama fing wieder zu weinen an.

„Hör mit der ewigen Heulerei auf!", rief der Kurt. Da sagte die Mama, dass der Kurt gemein sei und das Leben mit ihm eine Qual.

Der Kurt rief, er zwinge ja keinen Menschen, mit ihm zu leben. Und die Mama schrie, das könne er leicht sagen! Weil er wisse, dass sie mit ihren vier Kindern nicht einfach weggehen könne!

Aber wenn sie keine Kinder hätte, wäre sie schon längst fortgegangen.

Dann sagte die Amtsrätin, dass sie zwar von Anfang an da­gegen gewesen sei, dass ihr Sohn die Mama heiratet, aber nun müsse sie doch der Mama Recht geben. „Kinder müs­sen erzogen werden", sagte sie. „Das verstehst du anschei­nend nicht!"

„Was ich nicht verstehe", rief der Kurt, „ist, dass man Kinder quälen und unglücklich machen muss!"

Worauf die Mama — unterbrochen von viel Schnäuzen und Schluchzen - erklärte, dass sie ihre Kinder nicht unglück­lich machen wolle. Bloß anständiges Benehmen und gute Manieren wolle sie ihnen beibringen! Und Moral! Und Fleiß! Und Ehrlichkeit!

„Wie ich sie von der alten Janda zu mir genommen habe", sagte sie, „da waren sie doch ganz verzogen! Die hat ihnen doch alles durchgehen lassen! Die waren doch wahnsinnig verwöhnt und haben sich nicht benehmen können!"

 

Ich wollte nicht weiter lauschen. Ich ging in mein Zimmer und räumte meine Schulsachen ein. Dann ging ich schlafen. Ich legte mich in Ilses Bett. Das Bett war noch immer nicht frisch überzogen. Es roch nach der Ilse. Nach ihrem Haar­spray und ihrem Eau de Cologne. Ich knipste das Licht aus, dachte ein bisschen an die Ilse und weinte ein bisschen.

 

 

Wortschatzerklärungen

 

° “ ausgeflippte, vergammelte Typen „ = die Menschen, die keine Kontrolle über ihr Leben selber haben und darum heruntergekommen sind

° unbehaglich = ungemütlich

° „..was öffnet denn keiner..“ = dialektalisch: warum öffnet keiner

° „..was taktlos..“ = dialektalisch: ich war taktlos

° j-m einen Bären aufbinden = j-m etwas unwahres so erzählen, dass er es glaubt

° den Schaden ersetzen = Geld für Reparatur zahlen

° j-m etwas beibringen = j-n lehren

° verzogen sein = verwöhnt sein, zu viel Pflege und Liebe der Verwandten oder Bekannten missbrauchen

° lauschen = hören

 

Aufgaben nach dem Lesen

 

1. Habt ihr den Kontrast zwischen Alibaba und dem Elternhaus von Erika bemerkt? Ist das Aussehen von Alibaba wirklich so schrecklich, wie die Frauen in der Familie von Erika meinen? Kann man Zusammenhänge zwischen seinem Äußeren und seinem Inneren finden?

 

2. Sind späte Besuche bei Jugendlichen bzw. Erwachsenen heutzutage normal?

a) Was bedeutete dieser Besuch für Erika?

b) Wie verhielten sich die Mutter, die Amtsrätin und Kurt gegenüber Alibaba?

c) Welche Position werdet ihr in dieser Situation nehmen?

Und eure Eltern?

 

3. Welche neue Information über Ilse lässt sich aus der Suchaktion herausstellen? Stützt euch auf eure Arbeitsblätter!

 

4. Wer wird die alte Janda genannt? Was meint ihr, verbirgt sich hinter diesem Spitznamen?

Wie nennt man sich gegenseitig bei euch in der Familie?

 

5. Erzählt das Kapitel in Rollen (Erika, Kurt, Alibaba, die Mutter, die Amtsrätin, jüngere Geschwister) nach!

 

6. Bildet bitte Hypothesen nach vorne!

Gibt es etwas, was ihr jetzt nach dem Ende des Kapitels gerne wissen möchtet? Schreibt bitte eure Fragen ins Arbeitsheft!

 

Kapitel 17

 

Aufgaben vor dem Lesen

 

1. Seht euch die Illustration zum Kapitel an. Könnt ihr alle Figuren hier erkennen? Gibt es Unterschiede zwischen der rechten und der linken Seiten des Bildes?

Schreibt bitte eure Gedanken dazu ins Arbeitsheft.

 

2. Lest das 17. Kapitel ohne Wörterbuch.

 

Eine Karte aus Florenz und keine Münze zum Telefonieren

 

Als mich der Oliver am Morgen aufweckte, sagte er mir, dass die Mama noch schläft. Und dass wir leise sein müssen, damit sie nicht aufwacht. Er flüsterte sogar in meinem Zimmer, obwohl er da ruhig laut hätte reden können.

„Und die Amtsrätin?", fragte ich.

„Wer?", fragte der Oliver. Er hatte keine Ahnung, dass ich seine Oma im Geheimen als Amtsrätin bezeichne.

„Die Oma", sagte ich.

„Die ist zum Bäcker gegangen", flüsterte er.

Ich stand auf und ging zum Badezimmer. Der Kurt war drinnen und rasierte sich. „Bin schon fertig", sagte er. „Kannst schon dableiben!" Er zog den Rasierstecker aus der Steckdose.

Ich dachte: Vielleicht hat der Alibaba doch nicht Recht, vielleicht sollte man doch etwas unternehmen!

Ich sagte: „Du, Kurt..."

Der Kurt schmierte sich etwas Creme ins Gesicht. „Ich habe es brandeilig", sagte er. „Ich muss ohne Frühstück weg! Bis Mittag muss ich einen Artikel fertig haben! Übrigens..." Er deutete mit dem Kopf in Richtung Schlafzimmer. „Die Mama schläft noch. Sie hat drei Schlafpulver genom­men. Sie ist mit den Nerven komplett fertig. Wäre schön, wenn ihr sie nicht aufweckt!"

Ich nickte.

Der Kurt wischte sich die cremigen Finger am Handtuch ab und ging aus dem Bad.

Ich hörte das Schnaufen der Amtsrätin vor der Wohnungs­tür. Ich schloss die Badezimmertür und riegelte ab. Dreimal klopfte die Alte an die Tür und rief: „Das Frühstück ist fertig!" Aber sooft sie klopfte, drehte ich das Wasser weit auf, damit sie glauben sollte, ich höre das Klopfen nicht. Dann lief ich aus dem Bad in mein Zimmer, zog mich im Weltrekordtempo an, packte meine Schultasche und ver­ließ auf Zehenspitzen das Zimmer und die Wohnung. Ein Tag, ohne Amtsrätin begonnen, fand ich, war ein guter Tag. Dafür lohnte es sich sogar, einen leeren, knurrenden Magen zu haben!

 

Ich ging zum Haustor hinaus, die Straße hinunter, der Schule zu. Es regnete ein bisschen. Ich hatte keinen Schal um, mich fror am Hals. Der Himmel war ganz grau. Er sah so aus, als ob er jeden Augenblick herunterfallen könnte. Ich drehte mich um und schaute zu unserem Haus zurück. Unser Haus kam mir fremd vor. So fremd wie damals, als ich es zum ersten Mal gesehen hatte, als ich mit der Mama und der Ilse hergekommen war, um den „Onkel Kurt" zu besuchen.

Langsam ging ich weiter und plötzlich kam mir alles sehr fremd vor. Die Bäckerei, das Milchgeschäft, sogar der Su­permarkt, in dem ich jeden Tag einkaufte. Und der Gedan­ke, dass ich schleunigst in die Schule gehen muss, war mir auch fremd. Ich ging weiter, kam zur Schule, ging an der Schule vorbei, bog in eine Seitengasse ein, ging geradeaus, bog wieder in eine Seitengasse ein und ging weiter.

 

Ich habe es wirklich nicht geplant gehabt, aber plötzlich war ich in der Rückertgasse. Drei Häuserblocks von der GOLDENEN GANS entfernt. Ich bekam Herzklopfen. Ich dachte: Vielleicht steht der rote BMW jetzt vor dem Haus? Vielleicht sitzt sogar die Ilse drin! Ich sagte mir, dass das sicher nicht so sein könne, dass das bloß meine dumme Fantasie sei, dass ich überhaupt dumm bin!

Trotzdem ging ich langsam auf die GOLDENE GANS zu. Natürlich stand da kein roter BMW! Ein Bierwagen stand

da. Zwei Männer in Overalls klappten hinten am Bierwagen die Holzwand herunter und rollten ein Fass aus dem Wagen. Ich stellte mich neben das Haustor von der GOLDENEN GANS und schaute ihnen zu.

 

Die Tür vom Restaurant war offen. Der Wirt stand in der Tür. Diesmal hatte er eine rote Mütze auf. Neben ihm saß der große Hund. Der Wirt redete mit den Männern. Dass das Wetter scheußlich sei, sagte er. Und dass er auch ein Fass dunkles Bier bestellt habe. Dann schaute der Wirt mich an. Er nickte mir zu und ich sagte:

„Grüß Gott!"

Der große Hund kam zu mir und ließ sich streicheln.

„Sag, woher kenne ich dich denn?", fragte mich der Wirt.

„Ich habe gestern bei Ihnen Würstel und Torte gegessen", sagte ich.

„Ach ja". Der Wirt lachte. „Mit deinem Freund! Das war der mit dem rosa Damenhut, gelt?"

Ich nickte.

Dann kam einer der Männer, die das Bier abgeladen hatten, zum Wirt. Er hatte einen Block in der Hand und einen Kugelschreiber. Der Block war ein Lieferschein-Block. Der Wirt nahm den Kugelschreiber und wollte den Lieferschein unterschreiben. Der Kugelschreiber schrieb nicht.

„So ein Dreck", sagte der Bier-Mann und suchte nach einem anderen Kugelschreiber.

„Hab selber einen", sagte der Wirt und griff in die Tasche seiner Bauchschürze. Er holte einen Kugelschreiber heraus und unterschrieb den Lieferschein. Und ich starrte den Kugelschreiber an. Das war mein Kugelschreiber! Ich konn­te mich gar nicht irren! Den hatte ich vor einem Jahr zum Geburtstag bekommen! Er war nicht nur genauso fliederlila wie mein Kugelschreiber und in der Mitte - genauso wie mein Kugelschreiber - mit einem grünen Tesaband verklebt, er hatte auch mein Monogramm: E.J. Zwei golde­ne Buchstaben. Vor ein paar Wochen war mein Kugelschreiber plötzlich verschwunden gewesen. Ich hatte gedacht,

jemand aus meiner Klasse hätte ihn eingesteckt.

Ich ging näher an den Wirt heran und sagte: „Sie haben

einen schönen Kugelschreiber!"

Der Wirt blickte mich sehr erstaunt an. „Weiß gar nicht, wo

der her ist", sagte er. Er entdeckte das Monogramm. „EJ,EJ",

murmelte er. „Ich kenne keinen E J! Den muss einer bei

mir liegen gelassen haben!" Er hielt mir den Kugelschreiber

hin. „Wenn er dir so gefällt, nimm ihn!"

Ich bedankte mich höflich für meinen Kugelschreiber.

„Mein Monogramm ist auch E J", sagte ich. „Weil ich Erika

Janda heiße!"

Der Wirt freute sich über diesen „lustigen Zwischenfall".

Aber mein Familienname besagte ihm anscheinend über­haupt nichts! Und ich hatte das Gefühl: Langsam wundert sich der Wirt über das komische Kind, das da neben ihm herumsteht, sich Kugelschreiber schenken lässt und nicht in der Schule sitzt! Weil am Haus gegenüber das Schild von einem Zahnarzt war, sagte ich. „Ich soll nämlich zum Zahn­arzt gehen!"

Der Wirt lachte. „Armer Wurm", sagte er. „Hast Angst! Schäm dich deswegen nicht! Ich hab auch immer Angst vor dem Zahnarzt!

„Hab ich ja gar nicht", sagte ich. „Ich bin nur zu früh dran. Und ich mag Wartezimmer nicht!"

 

Dann kam ein kleines gelbes Postauto gefahren und hielt vor uns. Der Briefträger stieg aus und überreichte dem Wirt einen ganzen Stoß Post. Zwischen weißen und blauen Kuverts steckte eine große Ansichtskarte. Der Wirt zog sie heraus.

„Florenz", sagte er.

„Da müsst' man jetzt sein!", sagte der Briefträger.

„Von meinem Bruder", sagte der Wirt.

„Ja, der hat es gut", sagte der Briefträger.

Ich trat ganz nahe an den Wirt heran, um die Schrift auf der Karte sehen zu können. Es war eine winzig kleine, ziemlich unlesbare Schrift. Aber unter dem Geschriebenen stand deutlich zu lesen: ERWIN. Unter dem ERWIN war ein Plus­zeichen und neben dem stand: ILSE.

Und das war garantiert die Schrift von meiner Schwester!

„Schreibt nix Besonderes", sagte der Wirt.

Der Briefträger ging zu seinem Auto zurück.

„Wann kommt denn Ihr Bruder wieder?", fragte ich.

Der Wirt zuckte mit den Schultern. „Das weiß man bei dem nie! Wenn ihm das Geld ausgeht, wahrscheinlich!" Er lach­te. Es klang nicht sehr freundlich. Dann schaute er mich an, legte die Stirn in Falten und fragte: „Wieso willst du das denn wissen?"

 

Da lief ich einfach weg. Ich schämte mich schrecklich. Ich lief die Straße hinunter, immer weiter. Es fing wieder zu regnen an. Die Schultasche zog mir die linke Schulter schief, eine nasse Haarsträhne baumelte mir beim Laufen in die Augen. Mein Magen knurrte laut. Und meine Schuhe waren auch schon innen nass. Je länger ich durch den Regen rannte, umso sicherer wurde ich: Die Ilse muss schnell wieder zurück! Der Kerl hat sie sicher nicht richtig lieb! Und die Ilse soll bei keinem sein, der sie nicht richtig

lieb hat! Und mir war auch klar: Ich brauche jemanden, der mir hilft, die Ilse zurückzuholen!

 

Zuerst fiel mir der Alibaba ein! Aber der, überlegte ich mir, konnte mir da auch nicht helfen! Der war zwar älter und mutiger als ich, aber er war auch ein Kind. Ich brauchte einen erwachsenen Menschen! Der Kurt, dachte ich, der Kurt muss mir helfen!

Ich wollte den Kurt anrufen. 56 56 16, die Nummer der Redaktion kenne ich auswendig! Und vorne an der Ecke war eine Telefonzelle. Als ich bei der ankam, fiel mir ein, dass ich kein Geld bei mir hatte. Nicht einmal eine Münze fürs Telefon!

Ich konnte doch nicht einfach jemanden um Geld anbet­teln! Obwohl ich schon gesehen hatte, dass Kinder das ma­chen. Eigentlich wäre ja auch gar nichts dabei! So geizig, dass sie nicht eine Münze fürs Telefon herausrücken, sind nur wenig Menschen.Aber ich schaffte das nicht! Ich dach­te: Lieber laufe ich zu Fuß in die Redaktion vom Kurt! Doch das war keine gute Idee. Mindestens eine Stunde hät­te ich da gebraucht. Und dann wäre der Kurt sicher schon in der Vormittags-Redaktionskonferenz gewesen. Und dort durfte man ihn nicht stören. Und am Nachmittag war der Kurt immer „unterwegs".

 

Natürlich hätte ich warten können, bis der Kurt am Abend heimkommt. Schließlich war die Ilse schon so lange weg. Da kam es nun auf ein paar Stunden auch nicht mehr an. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich in so einer Panik war! So aufgeregt und so ungeduldig! Mir war so zumute, als ob es jetzt auf jede Minute ankäme! Und da fiel mir die Oma ein! Die wohnte gar nicht weit weg von der Rückertgasse! Und die hatte sicher Geld zum Telefonieren für mich! Durch einen richtigen Wolkenbruch hindurch lief ich zur Oma. Klatschnass kam ich beim Haus der Oma an. Und schrecklich kalt war mir. Meine Zähne klapperten. Und meine Finger waren ganz steif. Die Nachbarin der Oma sagte mir, dass die Oma im Keller, in der Waschküche sei. Ich stolperte in den Keller hinunter. Die Waschküche war voll Dampf. Die Oma hatte eine Gummischürze umgebun­den und rührte im großen Wäschekessel herum. Er­schrocken schaute sie mich an und fragte: „Was ist denn passiert? Wieso bist du denn am Vormittag da? Was ist geschehen?"

„Ich brauche Geld zum Telefonieren", sagte ich und setzte mich neben den Ofen. Da war es angenehm warm.

„Jetzt sag mir aber, was wirklich los ist", sagte die Oma. Ich nickte und erzählte ihr alles. Alles, was ich wusste.Vom Wirt und vom Bruder, vom roten BMW, von meinem Kugel­schreiber und der Ansichtskarte.

Die Oma hörte mir zu, rieb sich die Nase mit dem Daumen und dem Zeigefinger und sagte bloß: „Na ja!"

 

Dann schob sie eine Haarsträhne aus der Stirn unter das Kopftuch und rührte wieder im Wäschekessel.

„Hilfst du mir?", fragte ich.

„Bei was? ", fragte sie.

„Sie zurückholen", sagte ich.

„Die kommt schon von allein wieder", sagte die Oma.

„Nein!", rief ich.

„Doch", sagte die Oma. „Dieser Erwin, der wird schon von ihr genug kriegen. Und der muss ja auch wieder heim! Und dann muss sie mit ihm zurück!"

„Ich will aber, dass sie gleich zurückkommt", rief ich.

„Und was soll ich da tun?", fragte die Oma.

„Rede mit dem Wirt!", sagte ich.

„Blödsinn", sagte die Oma. „Was soll denn der tun? Zur Polizei müsste man gehen. Weil deine Schwester minder­jährig ist. Und das ist Verführung Minderjähriger!"

„Dann geh zur Polizei", rief ich. Die Oma wollte nicht zur Polizei gehen. „Und überhaupt!", sagte sie. „Ich habe gar kein Recht, mich da einzumischen.

Zur Polizei kann nur dein Vater gehen. Oder deine Mutter!" „Dann rede doch mit dem Papa", rief ich.

Die Oma schaute bitterböse. „Er war seit einem Jahr nicht mehr bei mir! Und ich gehe nicht zu ihm! Ich nicht!"

„Dann rede mit der Mama", bat ich. Ich war nahe am Heulen.

„Warum redest du nicht mit ihr? Du brauchst ihr doch nur zu erzählen, was du mir erzählt hast!", sagte die Oma.

„Ich kann mit der Mama nicht reden", rief ich und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Es muss jemand mit ihr reden, der ihr alles erklären kann!"

„Was erklären?", fragte die Oma.

„Warum die Ilse weg ist und dass die Ilse deshalb nicht schlecht ist und in kein Internat gehört! Das muss man ihr erklären und das kann ich doch nicht!" „Ich auch nicht", sagte die Oma.

„Doch, du kannst es", rief ich. „Wenigstens probieren kannst du es, der Ilse zuliebe!"

Die Oma legte den Wäschelöffel auf den Tisch und öffnete unten am Ofen die kleine Tür. „Damit es allein weiter­brennt", sagte sie.

Und dann sagte sie: „Na, dann komm!"

Wir gingen aus der Waschküche. Die Oma merkte erst jetzt, dass ich klatschnass war. Sie wollte mit mir in die Wohnung gehen und dort meine Kleider trocknen. „Holst dir ja den Tod!", sagte sie.

Aber ich wollte nicht so lange warten. Ich wollte die Sache hinter mir haben! Und ich hatte auch Angst, die Oma könnte es sich wieder anders überlegen. Dazu wollte ich ihr keine Zeit geben.

„Nein, nein", beteuerte ich. „Ich friere überhaupt nicht! Und ich bin ja fast schon wieder trocken!"

 

 

Wortschatzerklärungen

 

° abriegeln = abschliessen

° der Overall = der Anzug, die Uniform

° besagen = bedeuten

° sich schämen = verlegen und schüchtern werden

° „ …als ob es jetzt auf jede Minute ankämme…“ = jede Minute ist sehr wichtig

° minderjährig sein = zu jung sein, um verantwortlich für seine Taten zu sein

° frieren = kalt werden, ziterrn

 

 

Aufgaben nach dem Lesen

 

1. Erika schwänzt die Schule zum ersten Mal.

a) Warum ist ihr alles fremd geworden?

b) Wohin geht sie und warum?

c) Wart ihr auch in solcher Situation?

 

2. Was haltet ihr von dem Verhalten von Erika von der „ Goldenen Ganz “? War Erika findig und mutig oder kindlich und dumm? Warum beschloss Erika ihre Schwester so schnell wie möglich zurückzuholen?

 

3. Wie könnt ihr merken, dass Kurt immer mehr Wert für Erika gewinnt? Ist es zurecht?

 

 

4. Versteht ihr das Benehmen von der Oma?

Warum muss Erika sie mehrmals inständig bitten, ihr zu helfen? Wer eurer Meinung nach hat Recht?

 

5. Erzählt das Kapitel nach. Seht die ganze Situation aus verschiedenen Perspektiven (Erika, die Oma, der Wirt, der Postbeamte)!

 

6. Bildet bitte Hypothesen nach vorne!

Gibt es etwas, was ihr jetzt nach dem Ende des Kapitels gerne wissen möchtet? Schreibt bitte eure Fragen ins Arbeitsheft!

 

Kapitel 18

 

Aufgaben vor dem Lesen

 

1. Lest zuerst den Titel des Kapitels und schaut euch die Illustration dazu. Geht es hier um den Gebrauch des Possessivpronomens oder um etwas anderes?

Schreibt eure Gedanken ins Arbeitsheft auf!

 

2. Lest das 18. Kapitel ohne Wörterbuch.

 

 

Mein Oma, deine Oma, unsere Oma...

 

 

 

 

Die Oma drückte fest auf die Klingel neben unserer Woh­nungstür. Wir haben eine sehr laute Klingel.

Ich hörte den Oliver rufen: „Es klingelt, ich lauf aufma­chen!"

Ich hörte auch die Stimme der Tatjana: „Ich will aufmachen, ich!"

Dann hörte ich Schritte. Es waren die Schritte der Amtsrätin. Die Schritte kamen zur Tür.

„Die Mutter vom Kurt", flüsterte ich.

Die Amtsrätin machte die Tür auf.

„GutenTag", sagte die Oma.

Die Amtsrätin schaute verwirrt drein. Sie kennt die Oma nicht. Der Oliver und die Tatjana standen hinter der Amts­rätin.

„Wer ist das?", fragte er und zeigte auf die Oma.

„Ich bin die Oma von der Erika und der Ilse", sagte die Oma.

„Wer ist denn gekommen?", rief die Mama. Sie rief aus dem Bad.

„Die Erika und die Frau Janda sind hier", sagte die Amtsrä­tin.

Aus dem Badezimmer hörte man sonderbare Geräusche. Die Mama musste sehr schnell aus der Wanne gestiegen sein und das Wasser schwappte wahrscheinlich in der Ba­dewanne herum.

„Ich komme sofort", rief die Mama.

Die Amtsrätin sagte zur Oma: „Wollen Sie bitte ablegen?"

Die Oma zog ihren Mantel aus und hängte ihn an einen Haken. Ich hängte meinen daneben.

„Kommen Sie weiter", sagte die Amtsrätin. Sie sah noch immer verwirrt aus.

Wir gingen hinter der Amtsrätin her ins Wohnzimmer. Wir setzten uns auf die Couch. Ich saß dicht neben der Oma, und wenn es mir nicht so dumm vorgekommen wäre, dann hätte ich der Oma die Hand gegeben, damit sie die Hand festhält.

Der Oliver und die Tatjana standen bei der Wohnzimmertür und schauten neugierig zu uns her.

„Geht spielen", sagte die Amtsrätin.

Der Oliver schüttelte den Kopf. Die Tatjana sagte: „Nein!" Die Tatjana kam langsam und zögernd zu uns. Sie zeigte auf die Amtsrätin und dann auf die Oma und sagte:

„Das ist meine Oma und das ist die Oma von der Erika!"

Die Oma nickte.

„Es gibt noch eine Oma", rief der Oliver. „Die Oma von der Mama. Aber mit der sind wir bös! Die ist blöd!"

„Oliver", rief die Amtsrätin.

Der Kopf vom Oliver ver­schwand.

Ich hörte ihn in der Diele kichern. Dann hörte ich die Mama zum Oliver sagen: „Sei brav, ärgere deine Oma nicht!"

Und dann kam die Mama ins Wohnzimmer. Sie hatte den Bademantel an. Ihre Haare waren nass. Und ihr Gesicht war nackt. Ohne Make-up und Lippenstift und falsche Wim­pern.

Sie zog einen Stuhl vom Esstisch zur Couch, setzte sich und fragte mich: „Wieso bist du nicht in der Schule?"

„Wegen der Ilse", sagte ich. Ich hatte wieder die Wald­mausstimme. Die Mama zündete sich eine Zigarette an. Ihre Finger zitterten.

„Was hat sie gesagt?" Die Amtsrätin beugte sich zu mir. Sie ist eine bisschen schwerhörig. Sie hatte meine Waldmaus­stimme nicht verstanden.

„Wegen ihrer Schwester", brüllte die Oma, in der Lautstär­ke, in der sie zum Opa spricht. Die Amtsrätin zuckte er­schrocken zusammen.

„Was ist mit der Ilse?" Die Mama hatte auch eine Waldmaus­stimme. Die Oma stupste mich in die Rippen. Sie wollte, dass ich rede.

Ich schaute die Oma an. Ich wollte, dass sie redet.

„So sagt doch schon!", rief die Mama. „Was ist mit der Ilse?"

Die Oma sagte: „Wenn eine Karte aus Florenz zwei Tage braucht, dann kann man zumindest sagen, dass es ihr vor zwei Tagen noch gut gegangen ist!"

Die Mama lehnte sich im Stuhl zurück. Sie schloss die Augen. Sie gab einen halben Seufzer von sich. Dann gab sie den zweiten Teil des Seufzers von sich. Und die Zigarette in ihrer Hand zitterte nicht mehr.

„Sie hat Ihnen eine Karte geschrieben?", fragte dieAmtsrätin.

„Nein", sagte die Oma.

„Wem hat sie die Karte geschrieben?", forschte die Amtsrätin.

„Sie hat überhaupt keine Karte geschrieben", sagte die Oma.

„Was reden Sie denn da daher?" Die Amtsrätin schüttelte den Kopf.

Die Mama hatte die Augen noch immer geschlossen. An ihrer Zigarette war schon viel Asche. Ich stand auf und holte einen Aschenbecher vom Fensterbrett und stellte ihn der Mama auf den Schoß.

Die Mama machte die Augen auf. Sie streifte die Asche von der Zigarette. Sie sagte: „Hauptsache, sie lebt! Hauptsache, sie kommt wieder!"

Die Oma nickte.

„Und wie ist das jetzt mit der Karte?", fragte die Amtsrätin.

„Das weiß die Erika besser als ich", sagte die Oma. Sie woll­te noch etwas sagen, doch die Amtsrätin rief empört: „Also, da hat das Kind die ganze Zeit etwas gewusst und nichts gesagt!"

„Nichts hat sie gewusst", schrie die Oma. „Sie hat es heraus­bekommen! "

„Und dann erzählt sie es zuerst Ihnen, das ist doch..."

Weiter kam sie nicht, denn die Mama sagte: „Lass doch bitte die Oma reden!"

Sie sagte wirklich: die Oma! Nicht: die alte Janda. Und nicht: die Frau Janda.

Ich weiß nicht, ob es die Oma merkte und ob es die Mama selber merkte, die Amtsrätin merkte das Wort „Oma". Und es störte sie. Sie machte ganz dünne Lippen.

Die Oma sagte: „Also die Erika und ein Freund von ihr haben herausgefunden, dass die Ilse in Florenz ist."

„Allein?", fragte die Mama.

„Natürlich nicht", sagte die Oma. „Sie ist mit einem jungen Herrn in seinem Auto gefahren!" Sie sagte das so, als ob das ganz selbstverständlich wäre, dass man mit einem jungen Herrn im Auto ins Ausland fährt.

„Autostopp?", fragte die Mama. Die Mama ist gegen Auto­stoppen, aber ich glaube, jetzt hätte sie recht gern gehört, dass die Ilse per Autostopp unterwegs war.

Die Oma blickte die Mama so starr an, als wollte sie sie hypnotisieren. „Der junge Mann dürfte ihr Freund sein. Ihr..." Die Oma schwieg einen Augenblick. „Um es beim richtigen Namen zu nennen, ihr Geliebter!"

Ich schielte zur Amtsrätin. Die machte noch immer dünne Lippen.

Die Tatjana hockte auf dem Teppich neben der Amtsrätin. „Ge-lieb-ter", sagte sie, und dann wieder: „Ge-lieb-ter".

Das Wort war neu für sie. Anscheinend fand sie es schön. „Erika, bring das Kind hinaus, das ist nichts für das Kind", zischte mir die Amtsrätin zu.

Wenn die Tatjana merkt, dass man sie irgendwo nicht haben will, dann bleibt sie erst recht. Sie kletterte auf die Couch hinauf, setzte sich neben die Oma, legte ihre Hände genau­so in den Schoß wie die Oma und rief: „Tatjana bleibt hier! Tatjana geht nicht weg!"

Die Mama drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und holte eine neue aus der Schachtel.

„Rauch nicht ununterbrochen", sagte die Amtsrätin. Die Mama steckte die Zigarette wieder in die Schachtel hinein. Ich bekam einen Niesanfall. „Das Kind hat sich erkältet", sagte die Amtsrätin.

Ich musste wieder niesen.

„Eine Gänsehaut hat sie auch", sagte die Amtsrätin.

Die Mama zuckte zusammen „Wer?", fragte sie. „Wer hat eine Gänsehaut?"

Die Amtsrätin zeigte auf mich. „Sie hat sich erkältet!"

„Ach so." Die Mama war an meiner Gänsehaut nicht inter­essiert.

„Was heißt: Ach so!", ärgerte sich die Amtsrätin. „Sie braucht zu allem Ärger dazu nicht auch noch die Grippe bekom­men!"

„Erika, zieh dir etwas anderes an", sagte die Oma.

„Und trockne dir die Haare", rief mir die Amtsrätin nach, als ich aus dem Zimmer ging.

 

Der Oliver lauerte noch immer hinter der Tür in der Diele.

„Kommt jetzt die Ilse zurück?", fragte er mich.

Ich ging in mein Zimmer und zog mich um. Der Oliver kam mit mir.

„Ist deine Oma lieb?", fragte er. „Kann deine Oma auch

meine Oma sein? Hat die auch einen Opa? Ist der Opa auch

lieb?"

Ich nieste, und zwischen den Niesern sagte ich ein paarmal,Ja,ja".

 

Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, saßen dort nur die Amtsrätin und die Oma. Die Mama war im Schlafzimmer und zog sich an.

„Wo geht sie denn hin?", fragte ich die Oma.

„Zum Wirt", antwortete die Oma.

Und die Amtsrätin meinte, sie wolle sich ja nicht einmi­schen, aber es wäre besser, zur Polizei zu gehen!

„Dazu ist ja nachher immer noch Zeit", sagte die Oma.

Die Mama war erstaunlich schnell angezogen. Sonst braucht sie zehnmal so lange. Während sie in den Mantel schlüpfte und meine rote Wollmütze aufsetzte und aller­hand in die Handtasche stopfte, murmelte sie ein paarmal: „Ich komme bald zurück, ich beeile mich, ich bin bald wieder da!"

„Soll ich dich begleiten?", fragte die Amtsrätin.

Die Mama machte so ein erschrockenes Gesicht, dass die Amtsrätin merkte, dass sie als Begleitperson nicht er­wünscht war.

 

Wortschatzerklärungen

° mein Oma = die Personalendung –e fällt meist beim Sprechen weg: meine Oma

° kichern = lachen

° starr = hart, konzentriert

° lauern = heimlich, unbemerkt auf j-n warten

 

 

Aufgaben nach dem Lesen

 

 

1. Was haltet ihr vom Verhalten aller Frauen in der Situation?

a) der Oma

b) der Mutter

c) der Amtsrätin

 

2. Zu wem ist sich die alte Janda verwandelt? Ist es absichtlich oder zufällig geworden? Wer hat das bemerkt?

 

3. Erzählt das Kapitel in Rollen (die Mutter, die Oma, Erika, jüngere Geschwister, die Amtsrätin) nach!

 

 

4. Warum bleibt Erika die treibende Kraft, die das Erzähl- und Handlungsgeschehen vorantreibt?

 

5. Wie findet ihr den Beschluss der Frauen zum Wirt zu gehen? Lohnt es sich? Was werdet ihr selber in solcher Lage unternehmen?

 

 

6. Bildet bitte Hypothesen nach vorne!

Gibt es etwas, was ihr jetzt nach dem Ende des Kapitels gerne wissen möchtet? Schreibt bitte eure Fragen ins Arbeitsheft!

 

Kapitel 19

 

Aufgaben vor dem Lesen

 

 

1. Lest bitte zuerst den ersten Absatz.

Was könnt ihr zu den vielen und…..und….. und hinzufügen? Schreibt eure Ideen ins Arbeitsheft auf!

 

2. Lest das 19. Kapitel ohne Wörterbuch.

 

Die Oma sagt ihre Meinung und mir brummt der Schädel

Kaum war die Mama weggegangen, hielt die Amtsrätin der Oma eine Ansprache. Sie redete über die Ilse. Sie sagte, die Ilse habe doch alles gehabt, was sich ein Mädchen nur wünschen kann! Ein ordentliches Heim, eine Mutter ohne Beruf, keine Geldschwierigkeiten, einen gütigen, allzu gü­tigen Stiefvater... und... und... und...

 

Aber leider, sagte sie, habe die Mama versäumt, der Ilse die wichtigsten Dinge im Leben beizubringen. Ich habe nicht alles behalten, was die Mama der Ilse beizubringen verges­sen hat. Ich weiß nur noch, dass Unterordnung, Beschei­denheit, Gehorsam, Pünktlichkeit und Moral dabei waren. Die Oma hörte sich das an und massierte ihre Nase. Und die Tatjana, die neben der Oma saß, griff sich auch an die Nase und versuchte, die Handbewegung der Oma nachzu­machen. Und ich nieste wieder. Und der Oliver stand bei der Tür und fragte in kurzen Abständen: „Wann kommt denn die Mama wieder?" Zum Abschluss ihrer Ansprache fragte die Amtsrätin die Oma:

„Und wie sehen Sie den Fall?"

Die Oma ließ ihre Nase los. „Hören Sie einmal", rief sie. „Das ist kein Fall! Das ist die Ilse. Und die ist mein Enkel­kind! Und der Ilse ist es nicht gut gegangen, sondern schlecht! Und der Erika..." Sie stach mir den Zeigefinger in den Bauch, als wollte sie mich aufspießen. „Der Erika geht es auch nicht gut. Aber die Erika ist anders, die hält mehr aus!"

„Und was bitte", fragte die Amtsrätin hoheitsvoll, „hat der Ilse gefehlt, außer einer ordentlichen Tracht Prügel hin und wieder?"

Die Oma wurde rot im Gesicht. Ich merkte, dass sie sehr wütend war. Sie holte tief Luft, dann legte sie los. „Die Ilse ist von ihrer Mutter viel zu oft geschlagen worden! Und nicht zu wenig! Und im Übrigen haben ihr all die schönen Sachen gefehlt, die Sie vorher aufgezählt haben!"

Die Amtsrätin wollte die Oma unterbrechen, aber die Oma fauchte: Jetzt rede ich! Sie haben lange genug Unsinn geredet! Weil man täglich ein Mittagessen kriegt, hat man noch lange keine Mutter, die für einen sorgt. Und wenn man sechs oder sieben Zimmer hat, hat man noch lange kein Heim! Und wenn sich der Stiefvater um einen nicht schert, dann ist das keine Güte!"

„Aber..." rief die Amtsrätin.

„Nix aber!", sagte die Oma. „Ihre Schwiegertochter, meine ehemalige Schwiegertochter, die hätte überhaupt keine Kinder kriegen sollen! Und dann kriegt sie vier! Der helle Wahnsinn!"

„Wie können Sie das behaupten?", rief die Amtsrätin.

„Weil es wahr ist!", rief die Oma. „Zuerst heiratet sie und kriegt Kinder, weil man eben Kinder bekommt. Dann kom­men Schwierigkeiten und die hält sie nicht aus. Und da lässt man sich eben scheiden. Ob das die Kinder wollen, danach hat sie nicht gefragt. Und dann kommen die Kinder zu mir. Und da bleiben sie zwei Jahre. Und dann kommt sie eines Tages und sagt, jetzt heiratet sie wieder, jetzt müssen die Kinder weg von mir. Ob das die Kinder wollen, fragt sie wieder nicht. Nein, die haben einfach brav zu sein und damit basta!" Die Oma war jetzt richtig aufgeregt. „Und das waren auch brave Kinder! Nie habe ich Probleme mit ihnen gehabt, solange sie bei mir waren!"

 

Jetzt war die Oma erschöpft und die Amtsrätin konnte sie unterbrechen. „Na schön", sagte sie. „Sie mögen ja Recht haben. Nach Scheidungen gibt es mit den Kindern immer Schwierigkeiten, aber das ist doch kein Grund, dass man viele Jahre später mit dem Bruder eines Wirts davonläuft!" „Sie hat einen gesucht, der sie wirklich gern hat", sagte die Oma. „So ist das!"

„Na, da hat sie sich ja den Richtigen ausgesucht!", rief die Amtsrätin.

„Hat sie nicht", rief die Oma. „Wie hätte sie denn das kön­nen? Wenn man fünfzehn Jahre alt ist, kann man das nicht. Und jemanden, den sie um Rat hätte fragen können, hat sie ja nicht gehabt!"

Ich nieste und die Amtsrätin schwieg. Die Oma sagte auch nichts mehr. So hockten wir da und warteten auf die Mama. Sogar die Tatjana hielt den Mund. Sie kuschelte sich an die Hüfte der Oma. Die Amtsrätin nahm das mit ver­grämtem Blick zur Kenntnis.

 

Ich stand auf und ging in mein Zimmer. Mir war schwindlig. Und mein Kopf brummte. Ich zog mich aus und legte mich ins Bett. Die Mama kam nicht allein zurück, sie kam mit dem Kurt. Den hatte sie vom Wirt aus angerufen und er war in die GOLDENE GANS gefahren. In der GOLDENEN GANS war anscheinend ziemlich viel telefoniert worden, denn die Mama erzählte der Oma und der Amtsrätin dau­ernd vom Telefonieren.

„Dann haben wir einen Freund von diesem Erwin in Vene­dig angerufen und der hat uns die Telefonnummer von einem Freund in Florenz gegeben..."

„Dann haben wir diese Nummer in Florenz angerufen und der Mann hat uns zuerst das falsche Hotel genannt..."

„Aber dann haben wir noch einmal bei ihm angerufen und da haben wir das richtige Hotel erfahren..."

„Und dann war aber dieser Erwin nicht im Hotel..."

„Und dann hat der Wirt dort angerufen und sagen lassen, es sei wahnsinnig wichtig, sein Bruder soll sofort daheim anrufen..."

Ganz genau bekam ich nicht mit, was die Mama erzählte, weil ich ja im Bett lag und weil mein Kopf so weh tat.

Immer wenn ich mich aufrichten wollte, um besser zuhören zu können, spürte ich hinter der Stirn einen stechenden Schmerz.

Ich hörte nur noch, dass die Mama und der Kurt und der Wirt dann auf einen Anruf vom Bruder gewartet hatten. Und dass der dann wirklich angerufen hatte.

Da hielt ich es im Bett, trotz der Kopfschmerzen, nicht mehr aus. Ich wankte ins Wohnzimmer hinüber. Ich lehnte mich an die offene Tür und hielt meinen armen Schädel mit beiden Händen.

Der Kurt sagte zur Oma: „Der Kerl hat gesagt, dass er keine Ahnung hatte, dass die Ilse noch nicht sechzehn Jahre alt ist. Der Wirt hat auch gedacht, sie sei schon siebzehn Jahre vorbei. Angeblich hat sie ihnen auch erzählt, dass sie bei einer alten, tauben Tante wohnt. Und im Sommer Abitur macht. Und dass ihre Eltern in Tirol leben!"

„Warum sollte sie so einen Unsinn erzählt haben!", rief die

Mama.



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