Die Nachbarschaft als Grundzelle des Staatsaufbaues 


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Die Nachbarschaft als Grundzelle des Staatsaufbaues



Die Entdeckung der Nachbarschaft als politischen Gliederungsbegriff ist die ureigenste und bedeutendste Leistung Mahrauns, mit der er auch den wesentlichsten Beitrag zur Fortbildung der föderalistischen Theorie erbracht hat. Er griff damit der Entwicklung um Jahrzehnte voraus. Erst in unseren Tagen ist in breiteren Kreisen das merklich wachsende Bewußtsein des Wertes des nahen, überschaubaren Raumes und damit auch der Nachbarschaft erwacht. Mahraun gelangte zur Institution der Nachbarschaft auf der Suche nach einem organischen Gliederungsprinzip zur Bewältigung der Vermassung und zur Vergemeinschaftung der entfremdeten Menschen. "Leiden und Erfahrungen der Vergangenheit haben gelehrt, daß keine demokratische Ordnung Bestand haben


 

 

kann, wenn sie die elementarste Aufgabe mißachtet, dem Einzelmenschen einen überschaubaren Menschen- und Wirkungskreis für eine verantwortliche Mitarbeit am Gemeinwesen zuzuweisen." Die politische Gemeinde erschien ihm dabei weitgehend nicht mehr als geeignet, dieser Funktion zu genügen, weil sie, namentlich in Form der Großstadt, zu groß und daher zu unpersönlich geworden sei. "Wollte man den Grundsätzen der Steinschen Erneuerungslehre treu bleiben, so mußte ein neuer Gliederungsbegriff gefunden werden, in welchem der Einzelmensch durch Verantwortlichkeit und Mitarbeit heimisch zu werden versprach. Die modernen Verhältnisse erforderten, daß der neu zu schaffende Raum noch viel lebensnaher als zur Stein'schen Zeit sein mußte. Waren doch die Gefahren der Vermassung und alle Kräfte der Zersetzung viel größer als damals. Diesen Gedankengängen folgend kam ich zum Begriff der Nachbarschaft." Er konstruierte damit freilich kein abstrakt-wirklichkeitsfernes Gedankengebilde, sondern konnte auf einer großen Tradition aufbauen.

 

Unter der "Nachbarschaft" verstand Mahraun "die gebietsmäßige Zusammenfassung einer Summevon wahlberechtigten Staatsbürgern in Stadt und Land". Das territoriale Prinzip des räumlich verbundenen Wohnsitzes sollte also die Grundlage der neuen politischen Gemeinschaft bilden. Auch hier lag die Idee der Gemeinsamkeit zugrunde. Mahraun sah in der Nachbarschaft sogar die "gottgewollte Gemeinschaft der Menschen". Der bisher bestehende Leerraum zwischen den Menschen sollte durch eine Einrichtung ausgefüllt werden, "deren Ursprung, Bestand und Zweck das allen Gemeinsame und Verbindende ist und nicht die vorhandenen oder noch kommenden Gegensätze. Die Nachbarschaft war als "vertikaler Schnitt durch das Volkstum" gedacht, der "gleichverantwortliche Staatsbürger aller Schichten zueinander führt". Sie sollte "alle unter dem Appell an ihre Gemeinsamkeiten sammeln", darum bringe sie nicht den Kampf, sondern die Befriedung. Nicht wie die bisherigen politischen Organisationen unter dem Gesichtspunkt des Gegensatzes, sondern des Verbindenden sollte sie die Bewohner eines Gebiets einigen. Die Größe des Gebiets einer Nachbarschaft sollte sich nach den unterschiedlichen Wohnverhältnissen richten. Ihr Mitglied könne jeder wahlberechtigte Staatsbürger sein. Als ihre Rechtsform war die eineröffentlich-rechtlichen Körperschaft (Genossenschaft) gedacht. Die Höhe der Zahl ihrer Mitglieder sollte durch die Erwägung begrenzt sein, daß sich die Mitglieder untereinander persönlich kennen und die Mitgliederversammlung eine arbeitsfähige Einrichtung bleiben sollte. Als Richtzahl gab Mahraun unverbindlich die Zahl 500 an.

 

Im staatsbürgerlichen Leben der Nachbarschaft sollte jeder der Angehörigen die Möglichkeit haben, "seine politischen Kenntnisse zu erweitern und sich das Rüstzeug für sein politisches Urteil zu schaffen". Auch sollte in der Nachbarschaft "die Erziehung des Menschen zum wahren Staatsbürgertum" vollzogen werden; ihr kam die Funktion zu, "lebendige Grundschule der höheren Staatsführung" zu sein. Die "staatsbürgerliche Laufbahn, d. h. der Aufstieg des einzelnenStaatsbürgers zu höheren Ämtern" auch im Staat sollte in der Nachbarschaft beginnen.Voraussetzung für einen solchen Aufstieg sollten eine politische Leistungsprüfung und der Nachweispolitischer Bewährung durch Leistung sein. Vor allem aber sollte die Nachbarschaft den Bürgern eine Organisation ihrer selbst verschaffen, mit der sie ihren politischen Willen wirksam gestalten konnten. Sie sollten damit aufhören, "ohnmächtiger Spielball herrschender Gewalten" zu sein und abzuhängen "von der Propaganda, die jeder Besitzer der dazu notwendigen Machtmittel erzeugen kann". Als wichtigstes Organ hierfür betrachtete Mahraun die Mitgliederversammlung der Nachbarschaft. Sie sollte regelmäßig in bestimmten Zeitabständen stattfinden, bei besonderen Anlässen aber auch außerordentlich einberufen werden können. Die Teilnahme an ihr sollte freiwillig sein. Ihre erste Aufgabe war die Wahl eines Vorstehers und einer Anzahl von Beisitzern. Der Vorsteher sollte dann die Versammlungen einberufen, diese leiten und die Wünsche der Nachbarschaft "nach oben" weitergeben. Seine Wahl sollte auf unbestimmte Zeit unter dem Vorbehalt jederzeitiger Abwahl bei Vertrauensentzug erfolgen. Die Ämter in der Nachbarschaft sollten ehrenamtlich sein. Die Nachbarschaft sollte nicht durch Zwangsbeiträge, sondern durch freiwillige Spenden finanziert werden. In der Mitgliederversammlung der Nachbarschaft sollten alle politischen Probleme, nicht bloß  die  lokaler  Natur,  angeschnitten  werden  können,  damit  in  allen  Fragen  eine  wirkliche


 

 

Willensbildung von unten nach oben möglich sei. "Das Vorhandensein der Nachbarschaft macht die Volksabstimmung zu einer fast dauernden Angelegenheit. Mit diesen Möglichkeiten wird der Volkswille zu jener Autorität, die er sein muß, wenn man nicht Gefahr laufen will, daß er zu einem leeren Wort herabsinkt". Die Nachbarschaftsversammlung soll nämlich verbindlich entscheiden können und nicht nur, wie die bisherigen Bürgerschaftsversammlungen, praktisch unverbindlich als bloßer Bittsteller gegenüber den kommunalen und staatlichen Behörden. Sie bietet auch den Vorteil, daß die Bürgerschaft jederzeit eine Volksabstimmung durchführen kann, "ohne geldmächtige Gruppen um die Finanzierung einer solchen Abstimmung anbetteln zu müssen". Mit ihr realisiert sich somit die echte, direkte Demokratie.

 

Die Nachbarschaftsversammlung ist gleichzeitig Teil der - fiktiv - allgemeinen Versammlung des Volkes. Da für ein Volk, das Millionen von Wählern umfaßt, die ursprüngliche Volksversammlung nicht mehr in Frage kommt, weil sie einmal technisch unmöglich wäre, zum andern eine handlungsunfähige Masse versammeln würde, ist eine Aufgliederung der Wählerschaft in viele Teile, eben die Nachbarschaftsversammlungen, nach dem Grundsatz der Dezentralisation geboten. "Die Summe dieser Versammlungen stellt demgemäß die organisch geteilte Volksversammlung dar". Jede einzelne Nachbarschaftsversammlung ist "ein Ebenbild des Ganzen".

 

Die Nachbarschaft ist im Verhältnis zum Staat "ein Stätlein in der entsprechenden Verkleinerung. Die Theorien, welche die politische Betätigung der Nachbarschaft gebiert, werden zu Grundtheorien des Staatslebens an sich." Die Nachbarschaft bildet "die Grundlage eines durch keinerlei Ständekampf oder Klassenhaß durchwühlten Zellenstaates". Sie tritt als politisches Willensbildungsorgan an die Stelle der Parteien. In ihr bestimmen die Bürger selbst, nicht bloß die Parteimitglieder wie in der bisherigen Form der "Demokratie". Der gesunde Menschenverstand, nicht mehr Ideologien und Parteiinteressen sollen das Gemeindeleben bestimmen. "Lüge und Demagogie kommen auf dem Boden der Nachbarschaft zu Fall. Als Glied der Gemeinschaft steht jedes der Worte und jede politische Handlung des einzelnen Staatsbürgers in hellem Licht. Zusammenfassend konnte Mahraun daher konstatieren: " Im überschaubaren Raum der Nachbarschaft findet somit derEinzelmensch die Würde seiner Eigenpersönlichkeit und alle Werte einer beständigen undabstimmungsfähigen Gemeinde wieder, die ihm ein auf Massen und politischen Machtkämpfenbegründetes Organisationsprinzip geraubt hat. "

 



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