Das Lotterbett der Lina Loos 


Мы поможем в написании ваших работ!



ЗНАЕТЕ ЛИ ВЫ?

Das Lotterbett der Lina Loos



Sie sind die besten Freunde: Adolf Loos und Peter Altenberg. Hier der rigide Architekturreformer und Geschmackspädagoge, dort der schrullige Feuilletonist und Bohemien. Beide sind von der jungen Schauspielelevin, die sie da zum erstenmal auf der Bühne erleben, hingerissen:»Das Firmament hat sich aufgetan, und Gott sagt: Sehet - ein Mensch!«Lina ist die jüngere Tochter des Wiener Kaffeesieders Obertimpfler, in dessen»Casa piccola«, Mariahilferstraße 1, vor allem Künstlervolk verkehrt.

Als die Neunzehnjährige im Sommer 1902 dem zwölf Jahre älteren Loos vorgestellt wird, macht an dessen Stammtisch gerade eine russische Tabakdose die Runde, die er kürzlich zum Geschenk erhalten hat. Auch Lina darf das kostbare Stück bewundern, doch bei ihrem Versuch, es zu öffnen, passiert das Malheur: Der Behälter zerbricht. Wie kann sie den Schaden wiedergutmachen? Loos zögert nicht mit der Antwort:»Indem Sie mich heiraten!«

Drei Monate später sind die beiden Mann und Frau, in der Liechtensteinschen Schloßkapelle zu Eisgrub in Mähren findet die Trauung statt, in der Wiener Pension Pohl nahe dem Rathaus beziehen sie ihr erstes gemeinsames Quartier. Doch Loos wäre ein schlechter Architekt, böte er seiner Angebeteten nicht ein eigenes Heim: Im fünften Stock des Hauses Giselastraße 3 zwischen Kärntnerring und Karlsplatz (heute Bösendorferstraße) richtet er für sich und seine Frau eine Wohnung ein, bei der vor allem dem Schlafzimmer sein besonderes Augenmerk gilt. Halb Thronsaal, halb Kammerspielbühne, ist der Raum weiß getüncht, sämtliche Möbel sind mit weißem Batist verhüllt, weiße Angorafelle bedecken Ruhestatt und Fußboden. Normalerweise penibel auf den Schutz seiner Privatsphäre bedacht, macht Loos in diesem Fall eine Ausnahme und tritt mit seiner Kreation an die Öffentlichkeit: Unter dem Titel»Das Schlafzimmer meiner Frau«erscheint in der Zeitschrift»Kunst«eine Photographie des zum feierlichen Schrein hochstilisierten Boudoirs.

Um so größer der Schock, als nach zwei Jahren Ehe aufkommt, Lina Loos habe ihren Mann an eben diesem Ort aufs schändlichste betrogen: Die inzwischen Einundzwanzigjährige will mit ihrem heimlichen Liebhaber, dem Gymnasiasten Heinz Lang, Sohn der nachmals berühmten Frauenrechtlerin Marie Lang, ein neues Leben beginnen. In England, wo der Achtzehnjährige, zum Schein auf Maturareise, ihr Kommen erwartet, platzt die Affäre: Lina selber reicht die Scheidung ein und geht für einige Monate nach Amerika; Heinz Lang, von einem vernichtenden Brief des gehörnten Ehemannes und einer zynisch-leichtfertigen Suizidaufforderung des gemeinsamen Freundes Peter Altenberg in die Enge getrieben, gibt sich die Kugel.

Schülerselbstmorde sind um diese Zeit keine Seltenheit. Hier aber, wo so viele große Namen im Spiel sind, weitet sich der Fall zum Gesellschaftsskandal: Hugo von Hofmannsthal, auch er einer aus der Clique um Loos, gibt in einer zornerfüllten Tagebucheintragung seiner Betroffenheit Ausdruck, und Arthur Schnitzler macht daraus gar ein Theaterstück. Der zügellose Jüngling aus bestem Wiener Hause, den sein»Frühlingserwachen«, durch ein unbedachtes Wort des»Ratgebers«Peter Altenberg vollends enthemmt, in den Freitod führt, ist für den Autor solcher Seelendramen wie»Liebelei«und»Das weite Land«der ideale Stoff.

»Das Wort«(so der Titel des Schlüsselstückes, in dem Peter Altenberg zu einem Anastasius Treuenhof, Adolf und Lina Loos zu einem Ehepaar Zack und der Maturant Heinz Lang zu einem Maler Willi Langer verfremdet werden) bleibt allerdings Fragment: Um keinem der Beteiligten zu schaden, schreibt Schnitzler es weder zu Ende, noch denkt er daran, es je für eine Aufführung freizugeben. Erst achtunddreißig Jahre nach seinem Tod kommt die»Tragikomödie in fünf Akten«, von Friedrich Schreyvogl fertiggestellt, auf die Bühne. Unter Ernst Haeussermans Regie tritt die erste»Josefstädter«Garnitur auf: Leopold Rudolf, Kurt Heintel, Eva Kerbler, Vilma Degiseher. Ein junger Schauspieler, der seine große Karriere noch vor sich hat, schlüpft in die Rolle des Ehebrechers und Selbstmörders - sein Name: Klaus Maria Brandauer.

Und wie geht's im wirklichen Leben weiter? Heinz Lang wird im September 1904 auf dem Friedhof von Kidderminster westlich von Birmingham (in nächster Nähe seines Sterbeortes) bestattet; Lina Loos, von ihrem Exgatten auch über die Trennung hinaus leidenschaftlich verehrt, kehrt aus den USA nach Wien zurück (und wird sich später neben ihrer Bühnenkarriere auch als Schriftstellerin einen Namen machen); Adolf Loos geht mit der Tänzerin Elsie Altmann eine zweite Ehe ein. Die Wohnung in der Giselastraße samt dem»entehrten«Schlafgemach bleibt weiterhin in Gebrauch, wird erst fünfundzwanzig Jahre nach Loos' Tod aufgelöst, landet zum Teil in der Mobiliensammlung des Historischen Museums der Stadt Wien. Und das»corpus delicti«, das Bett? Für die große Wiener Loos-Gedächtnisausstellung des Jahres 1989 wird es an Hand der Originalentwürfe von 1903 nachgebaut: Das Publikum darf noch ein letztesmal den Kitzel eines der schrillsten Skandale im Fin-de-siecle-Österreich genießen...

 

Virtueller Untermieter

In diesem Kapitel geht es um Möbelstücke, die es weder gibt noch je gegeben hat noch je geben wird: Oskar Kokoschkas virtuelles Untermietzimmer in der Villa Kreisky. Wären nicht zwei der herausragendsten Respektabilitäten des neueren Österreichs die Akteure und ein schmerzliches Kapitel Vergangenheitsbewältigung der Hintergrund der Geschichte, könnte man von einem Lausbubenstreich zweier älterer Herren sprechen. So viel steht fest: Kein noch so hochgradiges Grundsatzreferat, kein noch so profundes Konferenzprotokoll wüßte Treffenderes über den»Sonnenkönig«der Zweiten Republik auszusagen als dieses staatspolitische Capriccio der frühen Siebzigerjahre...

Doch blenden wir zunächst zurück: Wien 1934. Der achtundvierzigjährige Oskar Kokoschka verläßt nach dem Tod seiner Mutter Österreich und übersiedelt nach Prag. Dort an seiner Seite: die Jus-Studentin Olda Palkovska. Die verhinderte Kunsthistorikerin macht ihren Doktor der Rechte, nun wollen die beiden heiraten. Doch die düsteren Zeitläufte verlangen ihnen zuvor noch einen anderen folgenreichen Schritt ab: Beide erklärte Gegner des Nationalsozialismus, emigrieren O & O nach England. Zur Trauung kommt es erst mitten im Krieg: Das Standesamt ist in einem Londoner Luftschutzkeller untergebracht, die»Hochzeitsreise«führt ins Kino ums Eck. Aus dem Österreicher und der Tschechin werden britische Staatsbürger. Und britische Staatsbürger bleiben sie auch, als sie 1950 beschließen, sich im Schweizer Kanton Waadt niederzulassen: im eigenen Chalet am Genfer See. In der alten Heimat macht sich der Meister unterdessen weiterhin rar - auch, als dort längst wieder demokratische Verhältnisse eingezogen sind. Zwar gäbe es Einladungen genug, doch sucht er sich seine Gesprächspartner mit aller Sorgfalt aus: Als im Frühjahr 1971 die große Kokoschka-Retrospektive im Oberen Belvedere eröffnet wird, ist OK bei Bruno Kreisky zum Tee. Der seit einem Jahr als Kanzler amtierende Kokoschka-Verehrer sähe es gern, wenn der»verlorene Sohn«wieder die österreichische Staatsbürgerschaft annähme. Doch die geltenden Gesetze verlangen von dem Kandidaten, daß er sich aktiv um die Neuverleihung bemüht. Kokoschka hingegen steht auf dem Standpunkt, sie stünde ihm automatisch zu, seitdem Hitler, der ihn ausgebürgert hat, von der politischen Bühne abgetreten ist. Mit einem eigenen Ansuchen bei der Wiener Landesregierung vorstellig zu werden, verbietet ihm sein Stolz.

Da nimmt Kreisky die Sache, die ihm längst zur Herzensangelegenheit geworden ist, persönlich in die Hand und bastelt heimlich, still und leise an einer eigenen Lex Kokoschka, die es ermöglicht, daß nicht nur der Bewerber selbst, sondern an dessen Stelle auch ein Dritter die Wiedereinbürgerung betreibt.

Voraussetzung ist allerdings in jedem Fall, daß der Betreffende in der Republik Österreich über ein Domizil verfügt, und davon kann bei Kokoschka keine Rede sein. Was also tun? Kreisky meldet den Künstler kurzerhand als Untermieter in seinem Haus an! Daß er sich damit der fortgesetzten Irreführung der Behörden schuldig macht, nimmt er in Kauf. OK, der zu keinem Zeitpunkt auch nur eine Sekunde in der Kreisky-Villa in der Armbrustergasse gewohnt hat, erfährt von dem listigen Manöver erst, als er Ende März 1974 die frisch ausgestellte österreichische Staatsbürgerschaftsurkunde in Händen hält. Ebenso gerührt wie amüsiert dankt er dem»verehrten Herrn Bundeskanzler«für den»unerwarteten Federstrich«, den man auch»einen Handstreich«nennen könnte,»noch lebendig der Republik Österreich einverleibt«worden zu sein, und gibt zugleich der Hoffnung Ausdruck, daß er sich damit zum letzten Mal habe»häuten«müssen:»Denn ich nähere mich meinem hundertsten Jahr eines oft recht bewegten Lebens auf Erden.«

Bei jeder künftigen Gelegenheit wird der Altneuösterreicher Oskar Kokoschka auf den Kanzler-Coup zu sprechen kommen, und Briefe in die Armbrustergasse 15 unterzeichnet er mit»Ihr sehr ergebener Hausgast«. Aber auch Kreisky läßt es sich nicht nehmen, anläßlich der Eröffnung einer Kokoschka-Ausstellung in der Wiener BAWAG-Galerie im Sommer 1978 das Geheimnis um sein Untermiet-Phantom zu enthüllen:»Es war ein ungeheuer kompliziertes Lügengewebe, mit dem wir diesen großen Österreicher getäuscht haben. Aber da hat der Zweck ausnahmsweise die Mittel geheiligt.«

1994, vierzehn Jahre nach Kokoschkas und vier Jahre nach Kreiskys Tod, kommt es noch zu einer Art Nachspiel: Witwe Olda stattet der Döblinger Villa, die sich inzwischen in ein»Bruno-Kreisky-Forum für internationalen Dialog«verwandelt hat, einen Freundschaftsbesuch ab und übergibt dessen Generalsekretärin (und vormaliger Kreisky-Assistentin) Margit Schmidt eine Kreidelithographie aus dem Kokoschka-Nachlaß:»Selbstbildnis mit Faunskopf«. So hält der berühmte»Untermieter«also doch noch verspätet Einzug im Haus seines Gönners: als Wandbild im einstigen Kreisky-Wohnzimmer im ersten Stock. Und daneben hängt, ebenfalls unter Glas, das Original des Dankbriefes vom 25. März 1974. Nur über die Möblierung des Kokoschka-Zimmers ist keinerlei Auskunft möglich: Es existiert nicht. Und hat nie existiert - außer auf dem Papier.

 

»Bauen Sie mir ein Haus um einen Riesenkamin!«

Was tut ein Architekt, der den Auftrag erhält:»Bauen Sie mir ein Haus um einen Riesenkamin!«? Er läßt mächtige Granitblöcke heranschaffen und eine offene Feuerstelle mauern, deren Wandung die komplette Längsseite des künftigen Wohnzimmers einnimmt. Und da es sich bei der Bauherrin um die Muse aller Musen, um Alma Mahler handelt, muß das Ganze natürlich auch künstlerisch verbrämt sein: Oskar Kokoschka steuert ein monumentales Fresko bei, in dem sich das Flammenspiel fortsetzt -»mich zeigend, wie ich in gespensterhafte Helligkeit zum Himmel weise, während er in der Hölle stehend von Tod und Schlangen umwuchert scheint«.

Die zweistöckige Villa mit dem zum Arbeitsatelier ausgebauten Dachboden fällt auch sonst aus dem Rahmen: Die Säulenreihe, die die gedeckte Terrasse des Erdgeschosses säumt, hat Frau Alma den amerikanischen Landhäusern abgeschaut, die sie bei den Überseegastspielen ihres Mannes kennengelernt hat. Doch mit das Schönste an dem exzentrischen Projekt ist die Aussicht: der Blick vom Kreuzberg auf die Rax-Alpe. Seit seinem Kuraufenthalt im Hotel Edlacherhof ist Gustav Mahler - noch amtiert er als Direktor der Wiener Hofoper - auf der Suche nach einem geeigneten Baugrund. Endlich, im Oktober 1910, findet er ihn: nahe dem Orthof-Sattel in Breitenstein, dicht an der Gemeindegrenze zu Reichenau. Satte 30 000 Kronen ist ihm die Liegenschaft wert, obwohl dem Vorbesitzer das Recht eingeräumt wird, den Grund noch ein volles Jahr weiterzubewirtschaften.

Mahler erlebt die Realisierung seines Traumes nicht mehr: Als Alma im Sommer 1914 in Breitenstein Einzug hält, ist er bereits drei Jahre unter der Erde. 139000 Kronen und 100000 Dollar Barvermögen hat er der inzwischen Fünfunddreißigjährigen hinterlassen; dazu kommt die ihr von der Oper gewährte Witwenpension. Das ersehnte Liebesnest für sie und Kokoschka, der mittlerweile Mahlers Platz eingenommen hat, wird es dennoch nicht: Über Almas Entschluß, im Salon die Totenmaske des Ehegatten aufzustellen (und außerdem das von OK empfangene Kind abzutreiben), kommt es zum Zerwürfnis: Die junge Witwe heiratet den Architekten Walter Gropius.

Doch auch dieser Beziehung ist keine Dauer beschieden: Alma Mahler wendet sich dem Dichter Franz Werfel zu, und für ihn, den elf Jahre Jüngeren, wird das Landhaus im Süden Wiens für die folgenden zwei Jahrzehnte zur Lebensmitte. Hier schreibt er die Dramen»Spiegelmensch«und»Bocksgesang«,»Paulus unter den Juden«und»Juarez und Maximilian«sowie die Romane»Die Geschwister von Neapel«und»Die vierzig Tage des Musa Dagh«. Hofmannsthal und Schnitzler kommen zu Besuch, desgleichen die Kollegen Zuckmayer, Gerhart Hauptmann und Franz Blei, die Komponisten Schönberg, Krenek, Pfitzner und Alban Berg. Der Maler Carl Moll, ein Schüler ihres Vaters (und seit 1897 Almas Stiefvater), stellt auf der Wiese vorm Haus seine Staffelei auf und hält das Anwesen samt Baumbestand und Voralpenpanorama in leuchtenden Ölfarben fest. Selbst der so betriebsamen Hausfrau wird's zeitweise»zu bevölkert«:»Diese einsamen Villen auf einem schönen Platz am Berg sind entweder das Ziel aller Ausflügler oder ganz vereinsamt - eine Mitte scheint es nicht zu geben.«

Über das Leben in Breitenstein schreibt sie in ihren Erinnerungen:»In jedem Zimmer wurde gearbeitet, Vorhänge auf der Maschine genäht, aufgehängt. Meine Mutter kochte, am Abend saß man um den Kamin, las vor oder musizierte. Auch am Agrarischen findet Alma Geschmack:»Ich habe mir viel Arbeit gemacht in den letzten Tagen: Erdäpfel ausgenommen, Äpfel im Keller auf Stroh gelegt, Rüben.«Da es zu dieser Zeit weit und breit keinen Greißler gibt, versucht man sich in autarker Haushaltsführung. Alles Übrige schleppt»Perle«Agnes Huizd (der Franz Werfel später unter dem Namen Teta Linek in seinem Roman»Der veruntreute Himmel«ein Denkmal setzen wird) aus der Stadt herbei: Bepackt mit dem großen Naschmarktkorb und spagatverschnürten Kartons, zwängt sie sich ins enge Abteil des Südbahnzuges, der Hausdiener holt sie mit der Kutsche von der Bahnstation ab.

1938 hat es mit dem ländlichen Idyll ein Ende: Franz Werfel und Alma Mahler, seit Sommer 1929 auch vor dem Gesetz Mann und Frau, emigrieren in die USA, der Besitz wird arisiert. Bei Kriegsschluß von Soldaten der Roten Armee requiriert, wird das»Haus Mahler«zunächst ein sowjetisches Gewerkschaftsheim, später Feriendomizil für die Belegschaft der Korneuburger Schiffswerft, schließlich geht es in Privatbesitz über. Ein barbarischer Deinolierungsakt folgt auf den anderen: Haben die Russen das Kokoschka-Fresko nur übermalt, so entfernen es die Österreicher vollends von der Wand und mauern den Kamin zu. Über seinen weiteren Verbleib kursieren unterschiedliche Berichte: Sprechen die einen von mutwilliger Zerstörung, so munkeln andere, das kostbare Unikat sei im Gegenteil kunstvoll abgetragen, fachmännisch zerlegt und in aller Stille an einen Kokoschka-Sammler veräußert worden (den manche in Amerika vermuten).

Seit 1995 hat das»Haus Mahler«in der Person der kunstsinnigen Wiener Unternehmerin Christine Jacobsen eine neue Besitzerin, und sie scheut weder Kosten noch Mühe, das lange Zeit desolate Anwesen stilgerecht zu restaurieren. Freilich mit Abstrichen: Kamin und Fresko, einst die beiden Glanzlichter des Musentempels, sind unwiederbringlich dahin.

 

Madame Benvenistis milde Gabe

Die Sessel im Wartezimmer sind knapp, also borgt man sich welche beim Hausmeister aus: Der Dozent für Neuropathologie am Allgemeinen Krankenhaus in Wien, Dr. Sigmund Freud, soeben vierunddreißig geworden, zweifacher Vater und seit vier Jahren verheiratet, muß bei der Möblierung seiner Privatpraxis mit jeder Krone rechnen. Es ist Tür Nr. 12 im sogenannten»Sühnhaus«, Maria-Theresien-Straße 8, das Rathausarchitekt Friedrich von Schmidt aus kaiserlichen Stiftungsmitteln an der Stelle des abgebrannten Ringtheaters errichtet hat. Frau Marthas Mitgift geht zur Gänze in ihrem»reizenden Hauswesen«auf; da ist es ein Glück, daß betuchte Patientinnen mit Dankgeschenken aushelfen: kostspieligen Delikatessen, Büchern, Opernkarten, sogar einer Couch.

Als im Jahr daFauf - September 1891 - in die Berggasse 19 umgezogen wird, zählt das gute Stück, von einer Madame Benvenisti spendiert und inzwischen noch mit einem Perserteppich und einer Kollektion Samtkissen ausstaffiert, zum Ubersiedlungsgut. Und da Freud - nach ersten positiven Erfahrungen mit der Heilsamkeit der»freien Assoziation«- im Begriff ist, sich von den bisher praktizierten Methoden der Elektrotherapie und Hypnose zu lösen, erhält das Liegemöbel nunmehr seinen Platz im Behandlungszimmer:

»Ich halte an dem Rate fest, den Kranken auf einem Ruhebett lagern zu lassen, während man hinter ihm, von ihm ungesehen, Platz nimmt. Es ist im ganzen gleichgültig, mit welchem Stoffe man die Behandlung beginnt, ob mit der Lebensgeschichte, der Krankengeschichte oder den Kindheitserinnerungen. Jedenfalls aber so, daß man den Patienten erzählen läßt und ihm die Wahl des Anfangspunktes freistellt.«

Es ist die Geburtsstunde der Psychoanalyse; 1894 nimmt Freud zum erstenmal die neue Wortschöpfung in den Mund. Daß er für seinen eigenen Arbeitsplatz, einen Samtfauteuil mit Schemel, nicht das Fuß-, sondern das Kopfende der Couch wählt, ist nicht, wie die Anekdote von der ihm liebestoll um den Hals fallenden Patientin weismachen will, eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber hemmungslosen Verführerinnen, sondern gehört zur Methode: Der volle Zugang zum Unbewußten kann nur gelingen, wenn jegliche äußere Ablenkung ausgeschaltet ist. Manche der Herren behalten den Hut auf und schlagen dessen Vorderkrempe herunter, die Damen ziehen den Schleier vors Gesicht. Kommt es während der Sitzung, die in der Regel eine knappe Stunde in Anspruch nimmt, zu heftiger Gemütserregung, kann der Patient sich an den bunt über die Couch verstreuten Polstern abreagieren. Die kleine Kopfrolle schieben sich die Damen unter den Dutt, das flache weißleinene Kopfkissen wird täglich frisch bezogen. Daß der Teppichüberwurf am Fußende schon bald deutliche Spuren der Benützung zeigen und am Ende total durchgewetzt sein wird, nimmt der Herr Doktor in Kauf: Sich ein Zeitungsblatt unterzulegen, mag er niemandem zumuten. Als in späteren Jahren eine neue Haushaltshilfe ihren Dienst antritt, ist ihre erste Reaktion beim Betreten der Ordination:»O Gott, hier werde ich aber viel Teppich klopfen müssen!«

Und noch etwas ist anders als in normalen Haushalten: In regelmäßigen Abständen ist für Frischluftzufuhr zu sorgen, Freud raucht bis zu 20 Zigarren am Tag. Ist eine Behandlung erfolgreich verlaufen, zündet er sich mit den Worten»Das muß gefeiert werden!«eine neue an. Aber auch bei geschlossenem Fenster müssen, wenn's Winter ist, Kachelofen und Kohlenkasten ihr Äußerstes geben: Die Fugen sind undicht, es zieht.

Übrigens sind Arzt und Patient im Behandlungszimmer keineswegs allein: Zu Freuds Füßen liegt der heißgeliebte Chow-Chow - sein Bellen signalisiert dem Personal das Ende der Sitzung. Und hinter der Geheimtür, die, durch einen Wandteppich verdeckt, die Verbindung zur Studierstube herstellt, lauscht an manchen Tagen Hausfrau Martha und wird mitunter mit einem verstohlen geflüsterten»Nockerl, ich weiß nicht weiter!«ins Geschehen einbezogen.

Heikle Patienten, die unerkannt bleiben wollen, werden am Wartezimmer vorbei in die Küche geschleust, und da kann es sogar vorkommen, daß ihnen die»Perle«einen geschwinden Imbiß kredenzt.»Daß in Ihren Honoraren Halbpension mit eingeschlossen ist, finde ich sehr zuvorkommend!«wird einer der solcherart Bevorzugten später amüsiert zu Protokoll geben.

Als im Frühjahr 1938 auch die Familie Freud, vom Naziterror verjagt, Österreich verlassen muß, hält der Photograph Edmund Engelmann Wohnung und Ordination im Bild fest. So wird der Nachwelt die Erinnerung an die inzwischen weltberühmte Adresse erhalten und Haushälterin Paula Fichtl, die den Weg in die Emigration mit antritt, die Einrichtung der neuen Bleibe erleichtert: Auch im Cottage im Londoner Vorortbezirk Hampstead (Anschrift: 20 Maresfield Gardens) soll der Herr Professor alles am gewohnten Platz vorfinden - nicht zuletzt die Couch. Und damit das kostbare Stück, wenn es schon über Freuds Tod hinaus in London verbleibt (wo es heute einen der Hauptanziehungspunkte des dortigen Freud-Museums bildet), auch im 1971 eröffneten Wiener Gegenstück nicht gänzlich fehlt, wird in der Berggasse im Maßstab 1:1 ein Photo-Display an die betreffende Wand appliziert. (Der Aufstellung eines Möbelduplikats verweigern die Nachlaßverwalter ihre Zustimmung). Wer also von den jährlich rund 45 000 Besuchern des Wiener Freud-Museums (täglich 9 bis 15 Uhr) auf den Prototyp erpicht ist, muß sich nach London begeben (mittwochs bis samstags 12 bis 17 Uhr). Für Wien hat Tochter Anna Freud lediglich die Originaleinrichtung des Wartezimmers freigegeben.

 

Traumfabrik Wien

Herrenchiemsee hat viele Väter. Die zwei wichtigsten heißen beide Ludwig. Der eine ist König von Bayern, der andere der König der Glaskunst. Der eine hat sich mit seinem Neu-Versailles auf der größten der drei Chiemsee-Inseln einen seiner exzentrischsten Träume erfüllt, der andere hat ihn in Licht umgesetzt: Ludwig Lobmeyr aus Wien. Die Besucher aus sechs Kontinenten, die täglich zwischen 9 und 17 Uhr durchs Schloß geschleust werden, halten alle im gleichen Augenblick die Luft an: sobald sie ihren Fuß in die Spiegelgalerie setzen. 2300 Wachskerzen auf 33 Lustern und 44 Kandelabern - das gibt es in dieser Vollkommenheit kein zweites Mal auf der Welt.

Vor zwei Jahren hat er den Thron bestiegen, jetzt faßt der Zweiundzwanzigjährige, von seiner ersten Frankreichreise heimkehrend, den Entschluß, dem von ihm verehrten Sonnenkönig Ludwig XIV. auf bayerischem Boden ein bombastisches Denkmal zu setzen - koste es, was es wolle. In einem Brief vom 17. Dezember 1868 schärft er seinem Hofsekretariat ein,»daß die Spiegelgalerie und die beiden anstoßenden Gemächer ein genaues Abbild der in Versailles befindlichen werden sollen«. Und er fährt fort:»Deshalb dürfen diese Räume nicht kleinlich ausfallen. Eine bloß scheinbare Größe, erzielt durch perspektivische Mittel, reicht nicht aus, die Herrlichkeit jener wundervollen Epoche zu veranschaulichen.«

Es dauert noch fünf Jahre, bis Ludwig II. seinem Ziel nahekommt: Um sie vor der drohenden Abholzung durch württembergische Spekulanten zu bewahren, erwirbt er die 250 Hektar große Herreninsel. Und weitere fünf Jahre später wird der Grundstein für den»Ruhmestempel«gelegt. Immer wieder greift Seine Majestät persönlich in die Planung ein, auch die Auftragsvergabe behält er sich vor. Mit einem Handschreiben an den»k. k. Oesterreichischen Hof-Glaswaren-Fabrikanten L. Lobmeyr«hat er diesem schon anläßlich der Münchner Kunstgewerbeausstellung»die wärmsten Wünsche für die Fortentwickelung der deutsch-oesterreichischen Kunstindustrie«übermittelt. Da kommt für die Ausstattung des Hauptraumes von Herrenchiemsee nur einer in Betracht: der Lobmeyr in Wien.

Der Neunundvierzigjährige, vor kurzem als erster bürgerlicher Industrieller ins Österreichische Herrenhaus berufen, macht sich mit seinem Mitarbeiterstab an die Arbeit. Es ist einer der größten Aufträge, die das Atelier in der Weihburggasse je erhält, nimmt für die Dauer von drei Jahren sämtliche Kräfte in Anspruch. Einen Meter breit und vier Meter lang sind die im Maßstab 1:1 angefertigten Entwürfe für die aus vergoldeter und ziselierter Bronze bestehenden und mit schwer geschliffenem Kristall behängten Luster; die Kandelaber sind vergoldete Holzschnitzarbeiten. Bezüglich der Details der Ausführung gilt die Vereinbarung:»Nach eigenen Zeichnungen unter Benutzung alter Muster.«

Das überdimensionale Zeichenpapier ist mit feinem Bleistift in Raster eingeteilt; rote Tusche markiert die Bronze-, blaue die Kristallarbeiten. Die besten Zulieferfinnen Österreich-Ungarns werden für die handwerkliche Fertigung herangezogen: Gießer und Gürtler, Metallpolierer und Ziselierer, Glashütten und Drechsler, Lampenmacher und Vergolder. Spedition und Montage bilden den Abschluß des Unternehmens. Neben den 2300 Wachskerzen für die Erstausstattung weisen Lieferbuch und»Konsignations-Faktura«auch Reserven in beträchtlicher Stückzahl aus. Sogar für Elektrifizierung wäre Lobmeyr bereits gerüstet, doch Seine Majestät besteht auf dem subtileren, wärmeren Kerzenlicht mit seinen flackernd-funkelnden Effekten. Als die Spiegelgalerie zum erstenmal in ihrem Lichterglanz erstrahlt, duldet der König keinen Menschen an seiner Seite: Ganz allein durchschreitet er den 98 Meter langen, von einem mächtigen Tonnengewölbe überdachten Prunksaal.

Da die Wiener die Lieferfristen streng einhalten, werden alle Rechnungen (so ein Kronleuchter käme nach heutiger Kalkulation auf einen Stückpreis von rund öS 500000.-!) anstandslos beglichen, erst später geht dem bayerischen Hof das Geld aus, und so manches an Herrenchiemsee wird Fragment bleiben. Doch da ist Ludwig II. nicht mehr unter den Lebenden: Als er am 13. Juni 1886 knapp einundvierzigjährig, entmündigt und für geisteskrank erklärt, im Starnbergersee den Tod findet, hat er die ganze Pracht gerade zehn Tage genossen, und geschlafen hat er in seinem Luxusbett überhaupt nur ein einziges Mal. Herrenchiemsee gehört fortan den Touristen - und das bis zum heutigen Tag. Das frühabendliche 30-Minuten-Schauspiel der Illuminierung der Spiegelgalerie zählt zum Grandiosesten, das der Freistaat Bayern seinen Gästen zu bieten hat: An die 30 Bedienstete schwärmen aus, die fahrbare Bühne zu besteigen, kurbeln die Luster herunter und setzen mit langen Zündstäben dift 2300 Kerzen in Betrieb (nur bei den berühmten Schloßkonzerten beschränkt man sich - der passenderen Stimmung wegen - auf jede dritte).

1982 hat's mit dem Spektakel ein Ende: Der durch die Besuchermassen bedingte Sauerstoffmangel führt selbst bei rußfreiem Wachs zu Rußentwicklung, Stukkatur und Vergoldung geraten in Gefahr, man entscheidet sich für elektrische Ersatzbeleuchtung - sparsam, indirekt und kaschiert. Die Spiegelgalerie mutiert endgültig zum Museum: Die Kerzenanzünder werden von Reinigungsbrigaden, die Zündstäbe von Staubwedeln abgelöst. Aber auch so bleibt für die Gäste genug zum Staunen. Und die aus Österreich erwartet noch ein zusätzlicher, ein patriotischer Effekt: wenn der Schloßführer bei seinen Erläuterungen auf die Herkunft der sagenhaften Pracht zu sprechen kommt, auf Wien


Учебное издание

 

 

Гуляева Валентина Семеновна

Швецова Марина Геннадьевна

 

 

Хрестоматия

 

Подписано в печать

Формат 60х84/16

Бумага офсетная

Усл. печ. л.

Тираж 100 экз.

Заказ №

 

 

Издательство Вятского государственного гуманитарного университетаБ

610002, г.Киров, ул. Красноармейская, 26, тел. 673-674



Поделиться:


Последнее изменение этой страницы: 2020-11-11; просмотров: 83; Нарушение авторского права страницы; Мы поможем в написании вашей работы!

infopedia.su Все материалы представленные на сайте исключительно с целью ознакомления читателями и не преследуют коммерческих целей или нарушение авторских прав. Обратная связь - 3.144.161.116 (0.051 с.)