А sket und Zweifler: Der Maler Gerhard Richter wird siebzig 


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А sket und Zweifler: Der Maler Gerhard Richter wird siebzig



Gerhard Richters Frühwerk kennen wir nicht. Der Maler, der im Februar in Köln siebzig Jahre alt wurde, lässt nur die Bilder gelten, die nach 1961, nach seiner Flucht aus der DDR, entstanden sind. Nach der Wende wurde im Dresdner Hygiene-Museum die Ecke eines riesigen Wandgemäldes mit Badeszenen und Freizeitwelten im Stil eines sozialistischen Optimismus aufgedeckt. Richter wollte das gediegen gemalte, keineswegs kompromittierende Monumentalbild auf keinen Fall freilegen lassen. Dabei bezeugt es früh Richters virtuose Begabung, seine Neigung zum Impressionistischen und zur Idyllik, die ihn nie wieder verließen und in seinen Landschaften, Stillleben und noch in seinen Mutterglück- und Vaterstolzbildern aus den neunziger Jahren wiederkehren. Das Dresdner Freizeitpanorama ist allerdings in einer lebensbejahenden Manier gemalt, die seine verhassten Ostkollegen damals auf ihrer Suche nach eigenwilligeren, konfliktreicheren Auswegen aus den Kunstverordnungen der DDR längst überwunden hatten.

In Düsseldorf studierte Richter bei K.O. Götz, dem Motoriker des deutschen Informel, und kreierte sodann mit seinen Freunden in Anlehnung an die amerikanische Pop-art einen trotzig behaupteten „kapitalistischen Realismus". Richter geriet vor allem in den Bann Andy Warhols, seiner grauen Fotogemälde und taktischen Reproduktionen. Mit dem Amerikaner teilt er die Zweifel an der Unmittelbarkeit und Darstellbarkeit der Realität. Auch er favorisiert die Ersatzwelt der Medien, vorzugsweise der Fotos.

Doch Richter berühren nicht die Botschaften der möglichst zufälligen Vorlagen, sondern nur ihre Anmutung. Anders als Warhol lassen ihn Idole, Mythen, Emotionen oder Desaster kalt. Er bevorzugt Beiläufigkeiten und Impressionen, hält sich an neutrale Bildqualitäten, die malerische Wirkung der Fotos, er „vermalt" und „zermalt", um seinen eigenen Ausdruck zu benutzen, die Motive. Richter ist der Malerei Rosenquists näher als der Warhols.

Die Mentalität verbindet ihn mit Roy Lichtenstein, der einmal auf einem Selbstporträt seinen Kopf durch einen leeren gerasterten Spiegel ersetzte. Der Künstler, so demonstrierte Lichtenstein mit diesem Bild, ist heute kein Erfinder und Schöpfer mehr; sein Kopf ist ein Medium, eine Reflexionsmaschine. Lichtensteins Kopfspiegel fängt keine Abbilder auf, sondern das pure Nichts. Das alles hätte Richter zwar so nicht gemalt, wohl aber von sich sagen können - ohne den tragischen Unterton: Lichtenstein ist sich des heiklen Wahrheitskerns seiner Kunst, ihres vollständigen Wirklichkeitsverlusts immer bewusst. Die endlosen VerSpiegelungen, die das wettmachen sollen, lassen die Kehrseite der Leere und des Nichts nicht vergessen.

Richter hat sich im nihilistischen Winkel, in den sich die Spätmoderne manövriert hat, so opulent wie kein anderer eingerichtet. Er teilt die Zweifel, Indifferenzen, Ratlosigkeiten und Unsicherheiten, die zur geistigen Ausstattung zeitgenössischer Künstler gehören. Er sieht seinen Fall als „personifizierte Krise". Litaneihaft zählt er in seinen scharfsinnigen Notizen und zahllosen Gesprächen immer wieder auf, wogegen er alles ist: Er lehnt Ideen und Ideologien ab, die Wahrheit, den Sinn, die Utopie, die Zukunft, die Behauptungen, Erfindungen, Anliegen und Programme, die Kompositionen und Farbbeziehungen, vor allem aber jeden Ausdruck und Stil. Stil, so heißt es, sei Gewalttat, „und ich bin nicht gewalttätig"; Stilisten seien Hitler, Stalin und ihresgleichen gewesen.

Es wäre boshaft, wollte man von diesen Negationen die Eigenschaften ableiten, die sein Werk konstituieren, und folgern, dass es unwahrhaftig, sinnlos, stillos, erfindungsarm, ausdrucksschwach und unästhetisch sei. Richters Krisenbewältigung ist erstaunlich produktiv und monumental. Das Werk ist verschlungen, sprunghaft und bizarr, aber auch klar und überlegen geplant und so qualitätvoll, schön und solide, dass es sich weltweit als superteures Spitzenprodukt durchgesetzt hat. Im Februar startete im New Yorker Museum of Modern Art eine triumphale amerikanische Richter-Tournee.

Der Künstler erkennt keinen Sinn und keine Substanz der Dinge, aber hält sich dafür um so emphatischer an ihren „Schein". „Der Schein ist mein Lebensthema", notiert er 1989. Und: Der Maler „sieht den Schein der Dinge und wiederholt ihn, das heißt, ohne die Dinge selbst herzustellen, stellt er nur ihren Schein her". So war Richter nichts fremder und ferner als Duchamps Kampagne zur Abschaffung der „Physiologie der Malerei".

Die Ungereimtheiten liegen auf der Hand: Richter verwirft die Wahrheit und verschreibt sich um so lustvoller dem Schein. Er verklärt die Fotografie als zweite Natur und einzig zuverlässige Wirklichkeit, ja hält sie für anregender als den besten Cezanne, ohne zu bedenken, dass die besonders gut zu manipulierende und zu tarnende Fotografie heute alle Zweifel verdient. Richter bestreitet den erfolgreichster Teil seines Werks mit Malerei nach Fotos - vor den amateurhaften Erinnerungsfotos der sechziger Jahre über die virtuosen Landschaften bis zum Zyklus des Untergangs der RAF. Er zelebriert die Unscharfe und will damit die Inhalte neutralisieren.

Der Künstler lehnt Stile und Erfindungen at und entschädigt sich dafür mit der Adaption anderer Stile und Ideen. Malend paraphrasierte und kommentierte er in den letzten vier Jahrzehnten die Pop-art, den Fotorealismus, eine neue Romantik, neue und alte Formen der Abstraktion, die Monochromie, die Konzeptkunst einen wiederaufflammenden Expressionismus, das Neoinformel, eine neue Farbfeldmalerei. In den achtziger Jahren brachte er es fertig, mil seinem bleiernen Stammheim- Zyklus Intellektuelle zu fesseln und aufzuwühlen und auf dei anderen Seite mit der pompösen, dekorativen Theatralik seiner monumentalen Abstraktioner die Genusssucht eines verwöhnten Kunstbetriebs zu befriedigen. Richters interpretierendes Malen erlaubte überdies Resümees von der Romantik bis zur Gegenwart - mit Erinnerungen an Tizian, C.D. Friedrich oder Monet.

Richters kalkulierter Slalom ist aber auch als Antwort und satirisches Nachspiel zu den finalistischen Abläufen und Systemen der modernen Avantgarden zu verstehen. Die geschmeidige Meisterschaft, die Vermeidung aller Festlegungen ließen den Künstler nicht all werden. In jeder Saison, bei jedem Szenenwechsel konnte er mithalten, jeden Zeitgeist-Geschmack bedienen. Nach den Konstanten seines Werks befragt, sagte er einmal, dass „eine Konstante eigentlich eine kontinuierliche Variable ist. Und die Summe dieser Variablen ergibt die Konstanz meiner Arbeit." Dieser Künstler flexibilisierte die Verfassung der Kunst. Er nimmt alles auf, er entschärft, verharmlost, banalisiert es, traktiert, häutet und genießt Oberflächen und münzt seine Prozeduren immer in brillanter Tafelmalerei aus.

Das Ergebnis ist virtuose Relativierung. Das Spiel mit den Modalitäten ist der artistische Sinn und Inhalt seiner Kunst. In seinem Atelier hat der Jongleur zeitweise gleichzeitig an verschiedenen Bildern in verschiedenen Idiomen gearbeitet. Die Inszenierung des Werks in großen Zyklen, das Nacheinander, Nebeneinander und Ineinander des Verschiedenen ist Richters Leistung. Das Sammlerpublikum folgte nicht allen Manövern. Es griff die gefälligsten Passagen heraus, die frühen Fotoverwischungen, die betörenden Landschaften oder die herzergreifenden Kerzenbilder, und vergötzte sie durch schwindelerregende Preise. Das Publikum sucht aber auch da nach dem Sinn der Virtuosenstücke, wo ausdrücklich keiner gesucht werden soll. Die Begeisterung für die Foto-Grisaillen entflammte erst richtig, als sich herausstellte, dass in den Schnappschuss-Vorlagen Sprengstoff steckt - etwa im Foto eines unauffällig-verunklärten Naziverbrechers oder eines Euthanasieopfers. Besonders hitzig ging es zu bei der Debatte um Sinn, Künstlerstandpunkt und Tendenz des RAF-Zyklus. Richter musste dabei einräumen, dass er die Motivwahl doch nicht ganz der zufälligen Impression überlässt, sondern Entscheidungen trifft und die Fotos nach Inhalt, Stimmungs- und Ausdruckswert aussucht. Auffallend ist zweifellos die Dichte der Todesmotive, die seine Graumalerei beschwört: Stuka- und Starfighter-Fotos, Bilder von Ermordeten und Entrückten, ausgebrannte und „zermalte" Stadtbilder, tote Terroristen.

Die strenge Catherine David akzeptierte für die letzte documenta nur Richters „Atlas", sein Fotoarchiv und Bildlaboratorium, das die Extreme vereinigt. Das war scharfe Kritik an der gemalten Affirmation der Bilder. Der Markt kennt keine Skrupel und honoriert üppig die Schönheitsdrogen der weich gemalten Naturpanoramen und tapisserieartigen Abstraktionen. Das Publikum nahm diese großen und kleinen Abstraktionen für bare Münze – als pathetische Bekenntnisse, sogar als Manifeste des Anbrachs einer zweiten Moderne. Richter besetzt heute viele, inzwischen leer gewordene Throne - die der Pop-artisten, aber auch die der Pioniere der Nachkriegsabstraktion zwischen Nay und den amerikanischen Farbfeldmalern. Richter malt noch perfekter als seine Vorbilder. Für diese Artistik in allen Klassen war freilich ein Preis zu zahlen. Der empfindsame Besucher seiner Ausstellungen ist von vielen Bildern fasziniert und gefesselt, aber wird auch den Eindruck der brillanten Banalität, der Leere und Sinnlosigkeit nicht los. Richter ist der Meister der Simulationen und Surrogate und damit zweifellos ein Inbegriff und Repräsentant Seiner Epoche.

Eduard Beaucamp

 

Friedricћ Dürrenmatt

 

«Іch habe keine Hemmung, Schweizer zu sein. Ich bin abeг auch nicht beleidigt, wenn man die Schweizer angreift. Ich begreife auch das Minderwertigkeitsgefühl mancher Schweizer nicht… Ob ich jetzt in einer Herde von 1000 Ochsen lebe oder in einer Herde von 1 Million - das ist doch kein Unterschied.»

Interviews gibt Friedrich Düгrenmatt nicht aus Lust - zum Beispiel in der “Deutschen Bühne”, aus der das obige Zitat stammt –, sie sind ihm eine Last. Autor Jürg Ramspeck fühlte sich denn auch eher unbehaglich, als er den selbstkritischen Schweizer zu Hause besuchte. Als wolle der Neuenburger Bürger sagen: Laßt mich doch in Ruhe – schreiben. Aus dem Besuch wurde eine Liebeserklärung an den erfolgreichsten Dramatiker der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur. Kein Tag, an dem nicht an irgendeinem Ort der Welt ein Dürrenmatt gespielt wird. Der Nobelpreis wäre wohl längst fällig. Aber den bekommt ohnehin der Max Frisch, sagt sich der Schriftsteller aus dem schweizerischen Konolfingen.

Sich vorzustellen, dass im Dorf Konolfingen in der Schweiz ein Standbild errichtet ist, dem größten Sohne Konolfingens zu Ehren: Friedrich Dürrenmatt, zu den Sternen aufblickend, von denen der Engel nach Babylon kam; oder Friedrich Dürrenmatt, herkulisch gemeißelt, besenbewehrt beim Ausmisten des Augiasstalles? oder Friedrich Dürrenmatt schlicht sitzend auf einem Meteor…

Sich vorzustellen, dass man im Deutschunterricht Dürrenmatt büffelt: "Schneider, nennen Sie fünf Bühnen – und drei Prosawerke von Friedrich Dürrenmatt!"; "Rüegg, in welchem Stück Dürrenmatts tritt Napoleon auf?"; “Huber, zur Strafe lernen Sie bis Freitag den Monolog des Gгafen Bodo von Übelohe-Zabernsee auswendig!"…

Sich vorzustellen, dass man in Neuenburg an der·Avenue Friedrich Dürrenmatt einkauft; dass das Kuratorium Friedrїch Dürrenmatt alle vier Jahre das bedeutendste Theaterstück deutscher Sprache mit dem Dürrenmatt-Preis auszeichnet und verdiente Mimen mit dem Dürrenmatt-Ring; dass Dürrenmatt im Kalender steht, als Gipsbuste zu haben ist, dass japanische Touristen vor seinem Geburtshaus zum Fototermin aus dem Bus krabbeln…

Ist es erlaubt, sich vorzustellen, dass Friedrich Dürrenmatt ein Klassiker ist? Oder genauer: der einst ein Klassiker sein wird?

Er selbst findet diese Vorstellung natürlich unerfreulich. Klassiker sein heißt weggesteckt sein. Vorbei. Und noch ist er ja da und schreibt. Für mich als einen hoffnungslosen Liebhaber seiner Werke ist Dürrenmatt als Klassiker längst etabliert. Das mag auch damit zusammenhängen, dass wir ihn am Gymnasium bereits gehabt haben. 1951, “Der Besuch deг alten Dame” war noch nicht geschrieben, nahmen wir "Romulus der Gro se” zwischen Grillpaгzer - "Der Tгaum ein Leben" - und Heine-Lyrik durch, 1954, im Jahr nach seiner Uraufführung, lasen wir "Ein Engel kommt nach Babylon” mit verteilten Rollen - weil ich damals eine Schmachtlocke tгug, war ich, an der Knabenschule, das Mädchen Kurrubi und beneidete den Nebukadnezar, der jetzt Chefarzt am Zürcher Kinderspital ist.

Ich erinnere mich nicht, dass unser Deutschlehrer sagte: “Wir behandeln jetzt Beispiele zeitgenössischen Theaterschaffens.” Vielmehr brachte er Dürrenmatt, der gerade 15 Jahre älter war als wie Schüler, als unerläßliches Bildungsgut in die Klasse; unter gestrengtem Erzieherblick wurde Satz um Satz analysiert. Und das war keine moderne Schule damals, wo man den Deutschlehrer duzte und in der Geschichtsstunde die Tageszeitung las, sondern ein Humanistisches Gymnasium mit Gгiechisch, Caesar, unverständlicher höherer Mathematik und recht tiefer Verachtung für die Gegenwart.

Nun ist es ja eine von der Gesellschaft mit gütiger Nachsicht sanktionierte Ausrede, die Klassiker nicht zu lesen, weil sie einem in der Schule verleidet worden sind. Im Falle Dürrenmatts hat mir die Schule aber nicht geschadet. Ich war ihr kaum entronnen, kam über meine Heimatstadt Zürich die Kaskade großer Dürrenmatt-Uraufführungen im Schauspielhaus: 1956 "Frank der Fünfte, Oper einer Privatbank", 1962 "Die Physiker”, 1963 "Herkules und der Stall des Augias", 1966 “Der Meteor", 1967 "Die Wiedertäufer”. Um im Bild zu bleiben: Als hätte iсh in der Schule "Die Räuber und "Die Verschwörung des Fiesko" als Pflichtstoff gepaukt und wäre dann bei "Kabale und Liebe", "Don Carlos", "Wallenstein", "Maria Stuart” etc. live dabeigewesen.

Ist man, nur weil man mit dem Werk eines Dichters aufgewachsen ist, ihn in empfänglichen Jugendjahren in Massen systematisch studiert und später grausam amüsiert konsumiert hat, verpflichtet, von ihm Abstand zu halten? Muß man es übernächsten Generationen von Germanisten, Dramatuгgen und Publikümern überlassen zu entscheiden, wer Dürrenmatt ist und wie viele Zeilen ihm im Brockhaus, Ausgabe 2050, zu reservieren sind?

Eigentlich wollte ich mit Friedrich Dürrenmatt selbst über seine schrecklichen Aussichten auf bleibenden Ruhm sprechen. Als ich ihm dann in seinem Haus oberhalb der Stadt Neuenburg gegenübersaß, brachte ich kein Wort in dieser Richtung heraus. Er würde es mir schlicht veгbieten, ihn als denkbaren Klassiker auch nur in Erwägung zu ziehen, und ich würde mich diesem Verbot aus übergroßem Respekt vor seinem Werk und seiner Person beugen. Ich bot ihm deshalb an, über gemeinsame Bekannte, hauptsächlich verstorbene, zu tratschen, und er ging auf dieses Angebot ein. Mir schien fast, dass er Interviews aus reiner Höflichkeit gibt und im übrigen froh wäre, man ließe ihn in Ruhe dichten.

Kommst dazu, dass man Dürrenmatt gar nicht interviewen kann. Seine Antworten sind immer gescheiter als die Fragen, die man ihm stellt. Er hat im Gespräch mit jedermann den außerordentlichen Vorteil, absolut uneitel und am gedruckten Resultat des Gesprochenen relativ uninteressiert zu sein. Deг ihn fragt, will aber etwas ganz Bestimmtes aus ihm herausholen, etwas Gültiges aus Dürrenmatt heгausdestillieren, und das ist unmöglich, weil es unnötig ist. Er steht alles schon in seinem Werk, und dieses Werk entsteht unablässig, sogar dann, wenn er mit jemandem spricht. Deshalb gibt es, paradoxerweise, viele gute Interviews mit Dürrenmatt: Er 1äßt sich in seiner Arbeit einfach schwer unterbrechen, nicht einmal durch Leute, die ihm Fragen stellen. Mit dem Notizblock oder dem Tonbandappaгat vor ihm zu sitzen bedeutet einfach, ihn eines Stückes von seiner Arbeit zu beraubern.

Es ist aber auch sehr interessant, Dürrenmatt zuzuschauen, wie eг eine Flasche Weißwein entkorkt. Man kann sagen, das hat nichts damit zu tun, ob einer ein klassischer Dichter ist; es möge aber einmal einer eine Flasche Weißwein klassischer entkorken als Dürrenmatt. Er nimmt sie ungewöhnlich ruhig zuг Hand, würdigt das Werk der Winzer, indem er keine Eile zeigt, das im Zustand der Vollkommenheit Befindliche zerstörendem Verbrauch entgegenzuführen, arbeitet sich mit einem Zapfenzieher - ein ineffizientes, älteres Modell - bedachtsam an den Mittelpunkt des Verschlusses heran, seine Hände sehen dabei aus, als spiele Wilhelm Backhaus das B-Dur-Konzert von Brahms, dentodbringenden Einstich vollfühгt er mit beiläufiger Grazie, den Gewältprozeß des Hineinbohrens mit bedauernder Langsamkeit, es folgt der letzte, kräfteraubende, hinrichtende Akt: Er entwürgt den Korken dem Flaschenhals mit einem unhörbaren Seufzer der Resignation bis zum unabänderlichen "Blubb". Wenn man dann aus den konischen Gläschen, das der Kundige für den Fendant bereitstellt, den ersten, womöglich von Durst inspirierten Schluck tut, ist es schon fast wie eine Entweihung.

Ist man finster entschlossen, die Weltgeltung eines Schriftstellers nachzuweisen und dieselbe auch noch für die kommenden Jahrhunderte zu prophezeien sind natürlich eine Jugenderinnerung und eine Beobachtung beim Flaschenöffnen unzureichende Hinweise. Das Unternehmen wird zusätzlich noch durch den Umstand erschwert, dass Dürrenmatt im deutschsprachigen Theater schon lange aus der Mode ist. Er selbst hält sich eigentlich für "nicht mehr gespielt”; mit dem Tћeater, wie es heute an den führenden Bühnen der Bundesrepublik Österreichs und der Schweiz stattfindet, kann er nichts mehr anfangen - und dieses Theater nichts mehr mit ihm. Theater, wie es ihm im Blut liegt, ist Theater für Schauspieler, Theater füг das Publikum, Theater des Autors aus der Praxis. Das Theater der Regisseure und Dramaturgen, das zur Zeit im Schwange ist, ist ihm vollkommen fremd. Es ist nicht so, dass er es grundsätzlich verwirrt, er ist einfach für dieses Theater kein geeigneter Lieferant. Er führt sich von ihm nicht mißachtet, sondern gewissermaßen entlassen.

War Dürrenmatt eine Mode der fünfziger und sechziger Jahre? Wohl kaum. Germanozentrisch gesehen, ist Dürrenmatt zwar·aus dem Gespräch ("Eigentlich bin ich nur noch Tourneetheater-Autor”), aber das Deutsche ist ja nun einmal nicht alle Welt”: Und "alle Welt": Die spielt Dürrenmatt, mehr denn je.

Zut Zeit stehen Dürrenmatt-Stücke in 46 Ländern auf Spielplänen. In Belgien, Dänemark, den Niederländen, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Jugoslawien, Rumänien, Norwegen, Polen, Portugal, Schweclen, Rußland, Spanien, der Tschechoslowakei, Ungarn - also eigentlich in ganz Europa. Darüber hinaus: in den USA, in Argentinien, Brasilien, Israel, China, in der Türkei, in Mexiko, Venezuela, Japan, Neuseeland, ja sogar in Paraguay. Mit anderen Worten: Es vergeht im Schnitt kein Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt ein Dürrenmatt stattfindet. Kein deutsch schreibender Dramatiker, der seine Tantiemen noch im Diesseits bezieht, hat auch nur annäheгnd diese dürrenmattsche Bilanz. Der Welterfolg ist Dürrenmatt in dem Maße zugewachsen, in dem seine Geltung im deutschsprachigen Raum abnahm.

Und das ist wohl kein Wunder. Gibt es ein aktuelleres Stück als "Die Physiker”? Dabei geschrieben vor einem Vierteljahrhundert, und da lag Tschernobyl noch weit weg. Gibt es eine zwingendere Metapher für die Gefährdung der Wissenschaft als die, die Dürrenmatt im aberwitzigen Spiel, das die Irrenärztin Mathilde von Zahnd mit den drei Physikern Newton, Einstein und Möbius treibt, gefunden hat?

Klassisch an diesen "Physikern" ist gewiß nicht nur die "klassische" Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung, die das Stück charakterisiert - man kann das auch bloß als raffinierte Verwendung einer klassischen Form zum Zwecke des Erzeugens von Spannung abqualifizieren. Klassisch an den "Physikern", das heißt: zeitlos, ist die vollkommene Auflösung der These in der Aktion, des Politischen im Menschlichen. In keinem Augenblick eгscheinen seine Figuren als Ideenträger, sondern umgekehrt, sie erscheinen als die Opfer ihrer Idee. Sie müssen nicht sagen, was sie sind. Sie sind es.

Nicht, dass die "Physiker" ein einsamer Wurf sind - obwohl zuг Zeit das am meisten gespielte Stück Dürrenmatts. Alle seine Bühnenwerke sind Gleichnisse, gewonnen aus der Beobachtung der Zeit, aber dieser Zeit entrückt.

Dürrenmatt ist nicht blind zu bewundern. Als Schriftsteller hatte er auch Glück: das Glück, im Jahre 1921 in der Schweiz geboren zu sein. Er war 24 Jahre alt, als die deutsche Literatur durch die Niederlage des Deutschen Reiches paralysiert war. Nicht nur Deutschland, auch die deutsche Sprache war ein Trümmerfeld. Deutsche Schriftsteller waren entweder als Nazis, allenfalls als ehrlose Mitmacher kompromittiert, oder sie hatten sich aus der Emigration auf ein Phänomen eingeschossen, das plötzlich vom Eгdboden verschluckt war. Wer nicht rechtzeitig Kommuinist geworden war, hatte eigentlich zunächst einmal überhaupt nichts zu sagen; und Kommunist sein war auch wieder ein einschränkendes Programm.

Das war für einen jungen, ungeheuer begabten Schweizer zweifellos eine Chance, gewissermaßen eine literarische Marktlücke. Die Schweiz, mehr oder weniger ehrenvoll dem Faschismus entronnen, konnte einigermaßen ungerührt in deutscher Literatur weitermachen, wo die nördlichen und östlichen Brüder gezwungen waren, zerknirscht ihre Toten und ihre Versäumtnisse zu zahlen.

Es wäre allerdings lächerlich, Dürrenmatt einen literarischen Kriegsgewinnрler zu nennen - aber es ist sicher kein Zufall, dass Friedrich Dürrenmatt und sein eidgenössischer Antipode Max Frisch ihre Plätze in der Ruhmeshalle der deutschsprachigen Literatur zu einer Zeit eingenommen haben, in der das Deutsche stumm gemacht worden war. Oder anders: die Schweiz in deг historischen Lage war, als Kleinstaat eine große Kultursprache literarisch allein zu repräsentieren.

Dass Dürrenmatt Schweizer ist, hat ihn merkwürdigerweise vor jeglicher Provinzialität bewahrt. Das mag aucћ daran liegen, dass der Schweizer Dürrenmatt vor allem eimal Berner ist. Das Bernische ist ein besonderer Aggregatzustand des Schweizerischen. Die Schweiz war nie ein Großmacћt, aber eine Großmacht war Bern innerhalb der Schweiz. Der Berner wird mit deг beruhigenden Gewißheit geboren, dass er eine gesicherte Welt bewohnt, deren Konturen gezogen und verläßlich sind. Der Berner schielt nicht nach fremden Metropolen; das für sein leibliches und geistiges Auskommen Notwendige findet er in zureichendem Maße in Bern vor. Als Berner hat er sich intellektuell nicht mit der Frage abzumühen, welcher Identität er denn sei — er ist eben Bernischer. Berner Witze sind Witze, die von einer schon fast penetranten Ausgeruhtheit zeugen. Wenn man in der Eisenbahn einem Berner einen Witz erzählt, sagen wir: in Solothurn, lacht er in Baden. Das nicht, weil er eine halbe Stunde braucht, um eine Pointe zu begreifen, sondern weil er sich alle Zeit nimmt, sie zu genießen. Er hält es nicht für nötig, jemanden beweisen zu müssen, wie vif er ist.

Wenn Dürrenmatt Hochdeutsch spгicht, was sich bei ihm berufshalber nicht immer vermeiden läßt, erhebt er das Bernische automatisch zum Weltidiom. Ein Berner, der fließend Italienisch spricht, bestellt in Mailand seine Spaghetti auf berndeutsch. Und bekommt sie. Dürrenmatt denkt und schreibt Berndeutsch. Seine Gestalten sind aus bernischer Erde, von bernischer Konsistenz.

Als Kind, erzählt Dürrenmatt, war er ein wilder Spießgeselle. Im elterlichen Pfarrgarten bekämpfte er imaginare Feinde mit dem Holzschwert, den Leib behutzte er mit einem Pfannendeckel. Und er malte Schlachten. Er nahm die Schweizer Geschichte als ein Panoptikum heroischer Ereignisse in sich auf: durchbohrte Ritteг, vom Morgenstern zeгschmetterte Schädel, abgehackte Arme, Morgarten, Sempach, St.Jakob, Murten, Marignano. Seine früheste Anschauung der Welt waгen die Mythen des patriotischen Lesebuches. Seine Phantasie nährte sich aus Geschichtsbildern. In seinen Gedanken lebten die großen Täter, gewissermaßen die Archetypen des Menschheitsdramas. Seine Welt war angefüllt mit Gestalten von Geschlossenheit und unnachsichtiger, bedrohlicher Reinheit.

Als erwachsender Mensch gehört Dürrenmatt zu der seltenen Spezies derer, die ihre Kindheit nicht verloren haben. Gewiß: An die Stelle der martialischen Mythen eines geschichtsbewußten Kleinstaates in Mitteleuropa setzte der humanistische Bildungsweg die älteren und tiefsinnigeren Mythen der Babylonier und der Griechen, der Hebraer und der Römer. Und als Dramatiker des zwanzigsten Jahrhunderts schuf er sie nach. Seine Stücke erzählen Geschichten von der Bildkraft unmittelbaren Welterfahrens. In die deutschsprachige Theaterliteratur unserer Zeit ragen sie hinein wie erratische Blöcke.

Ein Dürrenmatt, der sich mit seiner eigenen Heimat auseinandersetzt, konstruiert nicht ein beziehungsreiches Zeitdrama, sondern er findet einen Augiasstall und mistet ihn aus. Die Verwirklichkeit des Menschen ist ihm nicht Anlaß zur literarischen Bejammeгung, er stellt sie beißend und rabenschwarz dar an der Geschichte eineг Privatbank. Die Korrumpierbarkeit des Menschen durch das Geld versucht er nicht zu ergründen und zu erklären, er geißelt sie eгbarmungslos im Bildnis der alten Milliardärin, die sich zum Zwecke der physischen Vernichtung eines untreuen Geliebten ein Dorf kauft. Sein Stoff ist nicht die Zeit, in der er lebt; die Zeit, in der er lebt, gießt er in seinen Stoff. Seine Metaphern: unmodisch, zeitlos, klassisch. Dürrenmatt versteht man überall und immer.

Kürzlich sah er in Epidauros, Peloponnes, einen neugriechischen "Ödipus" - "eigentlich kein besonders gutes Stück", sagt Dürrenmatt, "aber was für ein Gestalt!" So ist er. Ein Kollege von Sophokles. Vollkommen furchtlos. Ein vollkommen freier, nur sich selber gehörender Denker. Ein Welten– Erfinder.

Nehmen wir an, er bekäme den Nobelpreis - die Gefahr ist nicht groß; dazu ist er einerseits zu bekannt und andererseits zu zeituntypisch: Er wäre nicht eitel genug, ihn abzulehnen. Aber ein bißchen wäre er darüber wohl auch gekränkt: Da hat man alles getan, der Welt zu zeigen, wie sie ist - und jetzt dankt sie es einem auch noch.

Jürg Ramspeck

 

Kultur

»Deutsch ist in!«,»Deutsch ist cool!«,»Deutsch ist top!«: Nachdem bereits in 2005 die Community von Mühlhausen, Thüringen (Germany), für den»Verein Deutsche Sprache«gevotet hat, fighten unter diesen Slogans immer mehr sprachbewusste Krauts voller Power gegen den Import des übermächtigen Englisch. Bei mehreren Events in den Citys, um diese ultimative Sache zu promoten, zeigen sich sogar die Kids von der geilen Message angetörnt und geben Statements ab:»Wow!«,»Voll der Hit!«,»Back to the roots – groovy, echt groovy!«Eine Image-Kampagne soll nun die Corporate Identity der deutschen Native Speaker stärken: Hippe People talken Deutsch!«

Peter Köhlee (Eulenspiegel – 1/2006)

 

An Weihnachten war es bei mir zu Hause sehr gemütlich, anmal ich ganz anfällig Wessi-Verwandtschaft an Besuch bekommen hatte. Anerst war es nicht einfach ihnen ananhören, da ich anmeist nichts verstand, bis ich an dem Schluß kam, mich ihnen ananpassen.

An Anfang fiel mir die Umstellung angegebenermaßen noch schwer, aber annehmend immer leichter und anletzt ging es wie geschmiert. Schließlich muß ansammenwachsen, was ansammen gehört. So können wir anfrieden sein und brauchen uns vor der Ankunft nicht an sorgen.

Deshalb haben wir uns, an Tränen gerührt, vielleicht an oft und an tief ins Glas gesehen und uns angeprostet. Jedenfalls fielen meinen Gästen an vorgerückter Stunde die Äugen an. Jetzt will ich mit meinem Brief aber an Ende kommen, damit ich ihn noch schnell an der Post bringen kann und ich auch nicht an spät an Hause anrück bin.

Alles Gute ruft Euch an

Manfred Wilde, Leipzig. Dito (Eulenspiegel – 2/2006)

 


HEINZ G. KONSALIK

IM GESPRACH

 

DS-Reihe: Wo ist das Glück?

»Ich träume nicht, ich schreibe«

Täglich acht Stunden Arbeit, und das mit 77 Jahren!

So etwas wie Glück stellt sich beim Bestseller-König erst ein, wenn das Manuskript fertig ist

VON MONIKA GOETSCH

Sie hatten im vergangenen Jahr eine schwere Magen-Darm-Operation.

Konsalik: Die Zeitungen haben spekuliert, dass es Krebs sei. Krebs war es nicht.

Lebensbedrohlich schon.

Konsalik: Ja. Aber die Kunst des Chirurgen hat mir das Leben gerettet, wir haben es geschafft.

Und wie?

Konsalik: Durch eiserne Disziplin, und durch die Pflege von Ke Gao, meiner Lebensgefährtin, die genau darauf geachtet hat, was ich esse und trinke. Sie hat mir unheimlichen Lebensmut gegeben, ich weiß nicht, ob ich die Operation ohne ihre Unterstützung geschafft hätte.

Wie war das für sie? Sie mussten sich ganz hingeben, voll Vertrauen...

Konsalik: Natürlich. Ich habe fest daran geglaubt, es zu schaffen.

Haben sie gebetet?

Konsalik: Nein. Ich bin ein gläubiger Mensch, aber ich glaube nicht an die Kirche. Nach der Operation habe ich mir gesagt: Gott wollte dich noch nicht haben. Du hast den Auftrag, weiterzuschreiben. Den Glauben hatte ich. Das hat mir die Kraft gegeben.

Aber nach der Operation konnten sie nicht schreiben.

Konsalik: Ein Dreivierteljahr lang nicht. Mein Gott noch mal, dachte ich, du kannst nicht mehr schreiben. Die Energie ist weg. Ohne zu schreiben, wäre mein Leben sinnlos. Dann habe ich mit kleinen Übungen begonnen, und es ging doch, ich konnte den Roman "Dschungelgold", der zur Buchmesse rauskommt, zu Ende schreiben, und wie mir das Lektorat sagt, merkt man nicht einen einzigen Bruch. Die zwei Teile der Geschichte gehen nahtlos ineinander über. Später lese ich mein Buch und denke: Heinz, was hast du da geschrieben!

Hat sich ihr Leben jetzt grundlegend geändert?

Konsalik: Nein. Ich weiß nur, dass es von heute auf morgen zu Ende sein kann. Ich bin jetzt 77 Jahre alt. Das Leben ist für mich praktisch vorüber, man muss der Biologie gehorchen.

Sie haben gesagt, ohne Schreiben wäre das Leben sinnlos.

Konsalik: Wenn ich geistig und körperlich nicht mehr die Kraft hätte zu schreiben, wüsste ich nicht, was ich tun würde.

Was ist denn Schreiben für sie?

Konsalik: Schreiben ist mein Leben.

Es gibt ja auch ein Leben jenseits des Schreibens.

Konsalik: Das geschriebene Leben ist eine Abrundung des wirklichen Lebens. Wenn ich im wirklichen Leben so exzessiv sein müsste wie in meinen Romanen, würde ich sicher nicht mehr leben.

Hatten Sie nie das Bedürfnis, Ihre Phantasien in die Tat umzusetzen?

Konsalik: Viele Romane von mir beruhen ja auf tatsächlichen Erlebnissen. Wenn ich über die Südsee oder Australien geschrieben habe, bin ich ja dort gewesen.

Die Figuren sind erfunden.

Konsalik: Und haben sich selbständig gemacht. Die Handlung entsteht erst während des Schreibens. Die Romane haben keinen festen Rahmen, sondern spiegeln das Leben wider, wie es sein könnte.

Aber das Leben des Lesers ist kleiner.

Konsalik: Das ja. Deshalb liest er diese Bücher doch und staunt dann, was man alles erleben kann in fremden Ländern, in Schicksalssituationen!

Wonach hat der Leser Sehnsüchte? Welche Lücke füllen sie?

Konsalik: Fast alle Menschen sehnen sich nach einem Leben, das anders ist als ihr eigenes. Nach einem Leben, das sich in der Phantasie abspielt.

Nach einem glücklicheren Leben?

Konsalik: Vielleicht, ich schreibe Märchen für Erwachsene, ich schildere Menschen so, wie Menschen gerne sein möchten.

Eine Traumwelt.

Konsalik: Ja, aber mit vollkommen realem Hintergrund. Alles könnte stattfinden.

Die Frauen sind nur schöner und erotischer, die Männer stärker.

Konsalik: In meinen medizinischen Romanen nicht. Da gibt es auch Kranke.

Möchten Sie über ihre Krankheitschreiben?

Konsalik: Ich habe nie daran gedacht, Memoiren zu verfassen.

Warum nicht?

Konsalik: Das wäre eine viel zu umfangreiche Arbeit. Die Inflation, die Hitlerzeit, der Krieg, die Nachkriegszeit: unsere Generation hat ja so viel erlebt wie keine andere Generation vor uns.

Sie sind im Krieg stark am linken Arm verwundet worden.

Konsalik: Der war vollkommen zerschossen, ich wusste lange nicht, ob jemand zur Hilfe kommt oder nicht. Es war eine verteufelte Situation.

Fühlten Sie sich bei der Operation letztes Jahr ähnlich?

Konsalik: Nein. Hier hatte ich die Hoffnung, durch die Chirurgenkunst zu überleben. Damals konnte ich niemandem vertrauen.

Waren sie glücklich, als Sie schließlich im Lazarett ankamen?

Konsalik: Erst ein paar Tage später. Zunächst fragte ich mich, wie es weitergehen würde. Auch der Hauptverbandsplatz lag ja innerhalb der Hauptkampflinie. Das war eine ganz andere Situation.

Vergleichbar wäre, dass Sie sich ihrem Körper fügen mussten.

Konsalik: Stimmt. Notwendig war in beiden Fällen ein starker Wille. Nach der Operation passierte übrigens etwas ungeheures, ich wachte aus der Narkose auf, hing an Schlauchen, der Arzt versuchte, mich zu wecken. "Sagen sie irgendetwas!" Und was mache ich: Ich hole tief Atem und singe den Siegmund aus Wagners "Walküre". Das hatten die Ärzte noch nie erlebt. Mit Tränen in den Augen standen sie da.

Wieso gerade der Siegmund?

Konsalik: Ich bin Wagnerfan, dieses Stück geht mir besonders nah.

Sie haben einmal gesagt, das Schreiben sei für Sie Therapie. Therapie wovon?

Konsalik: Von den Phantasien und Gedanken.

Keine Therapie von schrecklichen Erfahrungen?

Konsalik: Nein. Der innere Druck muss raus. Wenn ein Dampfkessel seinen Druck nicht ablässt, platzt er. Alle Menschen träumen. Ich träume nicht, weil ich das, was ich träumen könnte, bereits tagsüber geschrieben habe, wenn ich aus dem Schreiben zurückkehre, bin ich leer.

Ist das ein Glückszustand?

Konsalik: Währenddessen ist es eine ungeheure Anspannung, ich versenke mich in meine Personen und die Handlungen, es gibt keine Uhrzeit, kein Essen, nur Ruhe. Nach acht oder zehn Stunden an der Schreibmaschine bin ich vollkommen ausgelaugt. Dann brauche ich zwanzig Minuten, um aus der anderen Welt, in der ich war, in unsere Welt zurückzukehren.

Ist der Übergang schmerzhaft?

Konsalik: Ich bin nur leer und erschöpft, und trinke ein Glas Milch.

Und wann setzt das Glück ein?

Konsalik: Wenn das Manuskript fertig ist. Dann atme ich auf und trinke eine Flasche Champagner mit Ke Gao. Später lese ich mein Buch und kann mich nicht erinnern, das je geschrieben zu haben. Gar nicht übel, denke ich dann, oder: Mein Gott, Heinz, was hast du da geschrieben!

Schämen Sie sich manchmal?

Konsalik: Das nicht. Es ist ein ganz natürlicher Vorgang: Es gibt eine Altersweisheit, in der man die Dinge anders bewertet. Würde ich heute den "Arzt von Stalingrad" schreiben, wäre es ein ganz anderes Buch. Aber wahrscheinlich nicht besser. Damals habe ich es aus dem unmittelbaren Erleben geschrieben, heute würden Reflexionen und Erfahrungen einfließen, die ich erst im Lauf von fünf Jahrzehnten dazugewonnen habe. Ich hatte mehr Distanz.»Das Geheimnis ist, dass ich so schreibe, wie mein Leser denkt. Darum hält man mich für trivial«

Hat sich auch ihre Vorstellung von Glück verändert?

Konsalik: wenn ich mein ganzes 77-jähriges Leben überblicke, bedaure ich nichts. Den Krieg hätte ich mir gerne erspart, aber auch das ist eine Lebenserfahrung, die mir keiner mehr nimmt, ich bin glücklich, dass ich mit Ke Gao zusammenlebe und zwei wohl gelungene erwachsene Töchter habe. Und ich bin glücklich, dass ich in meinem Beruf so viel erreicht habe, immerhin habe ich eine Weltauflage von 83 Millionen.

Ist das überhaupt vorstellbar?

Konsalik: Nein, wenn ich vor dreißig Jahren gesagt hätte, ich würde einmal in 43 Sprachen übersetzt, hätte man mich für verrückt erklärt.

Was ist das Geheimnis dieses Erfolges?

Konsalik: Dass ich so schreibe, wie mein Leser denkt und spricht. Darum hält mich die Literaturkritik für trivial, ich würde nie einen Nobelpreis kriegen.

Sie sind schlauer als die Leser.

Konsalik: Ich möchte ihnen aber nah sein, wenn eine Frau eines meiner Bücher liest und dabei vergisst, ihrem Mann das Abendessen zu machen, dann freue ich mich. Man hat mich gefragt, warum ich nicht etwas aus der Arbeitswelt schreibe. Das wäre dann so: Einer ist Arbeiter in der Fabrik und stanzt Federn. Er kauft sich ein Buch, das von einem Mann handelt, der Arbeiter in der Fabrik ist und Federn stanzt. Das Buch wirft er doch sofort in die Ecke! Er will in eine andere Welt, nicht in seine eigene.

Und was wollen Sie?

Konsalik: Wenn ich die Menschen ihren Wünschen näher bringe, wenn sie sagen, das ist schön, so möchte ich auch leben, habe ich meine Aufgabe erfüllt.

Sollen Ihre Bücher eine Nachwirkung haben? Wünschen Sie, dass eine Frau ihrem Mann die Arme um den Hals schlingt, wie ihre Heldinnen das tun?

Konsalik: Ob das klappt? (lacht) ich habe die Frauen nicht danach gefragt.

Haben Sie sich selbst in ihren Büchern fortentwickelt?

Konsalik: Die ersten Bücher waren journalistischer. Es ging um Action. Meine heutigen Bücher sind epischer. Beschreibungen bekommen einen großen Raum.

Sie lieben die Beobachterposition.

Konsalik: Ich beobachte sehr gern.

Warum sind Sie Schriftsteller geworden?

Konsalik: Ich habe als Kind mit Begeisterung "Tecumseh" gelesen. Das hat mich so begeistert, dass ich als Zehnjähriger einen Indianerroman geschrieben habe.

Können Sie sich erinnern, warum sie damals schon einen Indianerroman schreiben wollten?

Konsalik: Der Drang war da, ich weiß es nicht, vielleicht steckt die Veranlagung zum Schriftsteller in meinen Genen, ich kann das nicht erklären. Genauso wenig wie mein Faible für China. Schon als Junge wollte ich Marco Polo am Hof des chinesischen Kaisers sein.

Mit ihrer chinesischen Partnerin sind Sie dort jetzt angekommen.

Konsalik: Ja. Und sie glaubt, ich sei in einem früheren Leben Chinese gewesen.

Hatten sie selbst je eine Krise?

Konsalik: Nein. Stimmungswechsel schon, aber es wäre ja furchtbar, wenn das Leben eines Menschen gleichförmig verliefe.

Sie haben einmal von einem pathologischen Freiheitsdrang gesprochen, wieso pathologisch?

Konsalik: Ich könnte einen Chef nie ertragen. Niemand, der sagt, ich müsse etwas tun. Ich muss sterben, das ist alles. Zuletzt habe ich beim Militär Befehle entgegengenommen, seither nicht mehr. Ich bin Antimilitarist.

Wie passt der Freiheitsdrang zur Liebe?

Konsalik: Liebe hat ja mit Freiheitsbeschränkung nichts zu tun. Im Gegenteil: Liebe ist Befreiung, eine Freiheit. Es ist kein Zwang, zusammenzubleiben, der Zwang wäre das Ende, ich fühle mich einsam, wenn Ke zwei Tage nicht da ist. Und glücklich, wenn sie wieder bei mir ist.

Und die Monogamie?

Konsalik: Ha! Ich war nie ein Kind von Traurigkeit, in meiner ersten Ehe habe ich mir einige Eskapaden geleistet.

Und wie hat Ihre Frau reagiert?

Konsalik: Das können Sie sich vorstellen! Es gab einige Spannungen. Jetzt ist das anders, ich bin mit Ke im achten Jahr zusammen und kann keine andere Frau begehren.

Ihre Bücher sind prall voll mit Erotik.

Konsalik: Weil Erotik das tägliche Leben ist.

Könnten Sie auf Erotik in den Büchern verzichten? oder würden Sie damit den Leser enttäuschen?

Konsalik: Ich könnte, aber ich tue es nicht. Die Figuren haben ja ihr eigenes Leben, ich muss auch manchmal erotische Dinge schreiben, die ich nicht mag. Aber zu den Personen passt es.

Sie haben gesagt: Nichts ist so hart, dass man es nicht durchstehen kann. Selbstmord komme nicht in Frage. Aber wenn Sie an die Apparatemedizin angeschlossen würden, solle abgeschaltet werden.

Konsalik: Das habe ich sogar schriftlich niedergelegt, wenn mein Zustand aussichtslos ist, soll man mich würdig sterben lassen und die Geräte abstellen. Das bin ja nicht mehr ich, der da liegt!

Haben sie Angst vor dem Tod?

Konsalik: Angst vorm Sterben, ja. Ich möchte nicht qualvoll sterben. Das bloß nicht. Herrlich wäre, als berühmter Dirigent die Oper "Tristan und Isolde" zu dirigieren und dabei zu sterben. Das mag für die Angehörigen furchtbar sein. Aber es ist ein herrlicher Tod! Bei dieser großartigen Musik einen Herzschlag bekommen, einen Sekundentod, etwas Herrlicheres gibt es nicht!

 

 

Ich dachte lange, ich kenne keinen Hass. Inzwischen weiß ich es besser«

Das Gipfeltreffen der großen Damen des deutschen Kriminalromans:

Ingrid Noll und Doris Gercke sprechen über Konkurrenz, Freundschaft und ihre neuen Romane»Ehrenwort«und»Tod in Marseille«

 

DIE ZEIT: Wie soll ich Sie ansprechen? Als Grand Old Ladies der deutschen Kriminalliteratur?

DORIS GERCKE: Können Sie bitte das»Old«weglassen?

INGRID NOLL: Klingt nach Whisky. Finden wir was Besseres. ZEIT: Die Queens, die Cream of Crime?

NOLL: CCC - Creme de la Creme of Crime. (lacht)

GERCKE: Darunter geht's nicht!

ZEIT: Sie haben vieles gemeinsam: Sie sind 75 und 73, also beinahe gleich alt, haben etwa zur gleichen Zeit angefangen zu schreiben...

NOLL: Doris war früher da - 1988. Ich habe 1990 angefangen, Der Hahn ist tot kam 1991 raus.

ZEIT: Sie, Doris Gercke, haben früher angefangen und wohl deshalb mehr geschrieben: 21 Romane. Ingrid Noll nur sieben Romane.

NOLL: Doris ist halt fleißiger.

GERCKE: Dafür hat Ingrid die größere Familie.

ZEIT: Frau Nolls Bücher sind dafür dicker.

NOLL: Nö, meine sind nur größer gesetzt, damit ich besser vorlesen kann.

ZEIT: Wann und wie haben Sie sich kennengelernt?

NOLL: In Weiden in der Oberpfalz, bei den Literaturtagen, und die waren dem Krimi gewidmet. Das muss 1993 gewesen sein, ich hab aus Die Häupter meiner Lieben gelesen. Da hab ich als Greenhorn eine Menge Kollegen kennengelernt. Hans-Jörg Martin, der schon lange tot ist...

GERCKE: Ich hab Frank Göhre kennengelernt, und den Kleinen mit dem türkischen Kommissar...

NOLL:... Arjouni.

GERCKE: Regula Venske, Sabine Deitmer.

NOLL: ©er Veranstalter war ziemlich erstaunt. Bei früheren Veranstaltungen hatte er die Autoren - Lyriker, Romanciers - als sehr anspruchsvoll und eitel erlebt. Hingegen die Krimiautoren, die waren sozial. Friedlich spazierten sie Hand in Hand.

GERCKE: Manche erklären sich das so: Hierzulande gibt es ja immer noch die unselige Trennung in E und U. Krimi ist ganz U, ganz unter dem Tisch – und die da unten tun sich halt zusammen.

ZEIT: Ist das weiter so harmonisch geblieben?

NOLL: Ich empfinde nirgendwo Neid oder Missgunst. Im Gegenteil, man hilft sich, wo man kann.

GERCKE: Es gibt auch keinen Anlass dafür. Wer wirklich mit hohem Anspruch schreibt, hat keinen Grund, sich zu spreizen, und keine Zeit für Eitelkeitsspielchen. Jeder schreibt, so gut er kann. Konkurrenz im Kunstbetrieb ist idiotisch...

NOLL:... und kontraproduktiv. Da kommt immer die Frage nach den Vorbildern. Das ist doch bekloppt, zu sagen: Ich strebe Goethe oder Schiller nach. Allerdings ist es gut, viel gelesen zu haben.

GERCKE: Lesen ist unverzichtbar. Ich gebe oft Kurse. Da kommen Leute zum Schreibenlernen. Deren Texten merkt man an, dass sie kaum etwas gelesen haben.

NOLL: Lesen und schreiben gehören zusammen. Kaum konnte ich lesen, wollte ich schreiben.

GERCKE: Ich auch.

NOLL: Ich empfand Schreiben als Hexerei. Weil ich in China aufgewachsen bin, hieß ich Arne – Ingrid war unmöglich auszuspre­chen. Das hat mich fasziniert — ich schreibe Arne, gebe den Zettel jemand anderem, und der weiß: Das bin ich. Ich hab gelesen, was ich in die Finger bekam. Allerdings kaum was für Kinder und meist altmodisches Zeug. In Nanking konnte man keine neuen Bücher kaufen.

ZEIT: Kann man Freundin und Kollegin zugleich sein?

NOLL: Klar, wir hocken ja nicht Schreibtisch an Schreibtisch...

GERCKE:... und gehen uns nicht auf die Nerven. Wir begegnen uns mit unseren Extrakten. Das ist sehr angenehm.

ZEIT: Haben Sie Ihre neuen Bücher schon gelesen?

NOLL: Ja, wir haben sie uns mit freundlichen Worten zugeschickt.

ZEIT: Wie hat Ihnen Ehrenwort gefallen, Frau Gercke?

GERCKE: Über Bücher von Kolleginnen – und Freundinnen – redet man eigentlich nicht. Aber dies hat mir besonders gut gefallen. Es hat so etwas Kompaktes, Klares. Ich dachte: Ingrid schreibt über etwas, das sie genau versteht und erklärt. Das hat mir zugesagt.

NOLL: Danke!

ZEIT: Es geht um die Turbulenzen, die die Pflege des despotischen und wohlhabenden alten Opas in seiner Familie verursacht. In gewisser Weise beschreibt Ingrid Noll damit unser aller Zukunft. Wäre das ein Thema für Sie, Doris Gercke?

GERCKE: Nein.

NOLL: Ich schreibe über stinknormale Leute mit kleiner Macke, die ich mir gut vorstellen kann. Doris hat doch eher die extremen Charaktere und schreibt über das wirklich Böse, das es auf der Welt gibt. Bei mir geht es um das Normalböse, das jeder in sich trägt. ZEIT: Aber geballt und konzentriert: Der Sohn will den gebrechlichen Opa umbringen, der Enkel beklaut ihn.

NOLL: Wenn man einen sehr alten Menschen pflegt, entstehen sehr ambivalente Gefühle, auch wenn man ihn mag und liebt.

ZEIT: Sie haben – selbst schon nicht mehr jung - Ihre Mutter 16 Jahre lang gepflegt.

NOLL: Sie ist mit 90 zu uns gekommen. Da war sie ganz munter. Mit 100 hat sie noch die erste Rede ihres Lebens gehalten. Erst mit 102 wurde sie ein Pflegefall. Zum Glück war sie freundlich. Die Pflegerin hat mir von anderen Verläufen erzählt: Viele Alte werden aggressiv, unanständig, entblößen sich zum Beispiel. Das passiert den feinsten Menschen, da kommt irgendwas raus, was vorher verborgen war.

ZEIT: Nun ist Ehrenwort aber ein sehr komisches Buch. Die Familienmitglieder, die den alten Willy Knobel zu sich nehmen, trachten ihm nach dem Leben oder wollen zumindest sein Geld. Wie hat die Übersetzung aus dem Leben in die Literatur funktioniert? Wie ist aus 16 Jahren Pflege ein im Grundton so heiteres Buch entstanden? NOLL: Komödien enthalten immer etwas Tragisches. Ich hab vermieden, dass eine Parallele zum Charakter meiner Mutter entsteht. Das rein Praktische aber konnte ich verwenden, ein Erfahrungsschatz, den ich ausgebeutet habe.

ZEIT: Eine typische Erfahrung war das»Durchgangssyndrom«.

NOLL: Ja, nach Narkosen haben alte Leute Halluzinationen. Typisch ist, dass man was Unangenehmes, Böses halluziniert, nichts Schönes. Das hat oft was Komisches. Meine Mutter sitzt warm eingepackt im Bett, guckt kreuzunglücklich und klagt:»Ach, hätte ich doch nur ein Dach über dem Kopf!«

ZEIT: Gibt es eigentlich diese Typen noch, die wie Ihr Willy Knobel alle naselang lateinische Sentenzen von sich geben, um ihre Umgebung einzuschüchtern?

NOLL: Ich habe bewusst nur solche Zitate ausgewählt, die jeder kennt wie»nolens volens«. Entscheidend ist ja, dass Willy seine Familie mit der Zitiererei demütigt.

GERCKE: Er gibt die Demütigung weiter, die er ertragen muss.

NOLL: Na, es ist ja auch ganz schön demütigend, wenn man plötzlich Windeln tragen muss.

ZEIT: Ein Lieblingszitat von Opa Willy Knobel ist bellum omnium contra omnes. Das scheint mir über das aktuelle Buch hinaus einen Aspekt Ihres ganzen Werks zu treffen. Geht es nicht darum, diesen unter bürgerlicher Schicklichkeit verborgenen Krieg aller gegen alle ans Tageslicht zu bringen?

NOLL: Ja, schon, aber nicht nur. In Ehrenwort gibt es auch Zuneigung – zwischen Großvater und Enkel zum Beispiel. Aber es gibt keine heile Welt, und ich will auch keine beschreiben. In jeder Familie gibt es Zoff, jeder hat Dreck am Stecken, aber trotzdem raufen sie sich meist zusammen. Ich beschreibe keine intakte Familie, aber eine Familie ist es schon.

ZEIT:Doris Gercke mag an Ingrid Noll die Exaktheit der sozialen Schilderung. Was mag Ingrid Noll an deren neuem Bella-Block-Roman Tod in Marseille?

NOLL: Ich liebe bei Doris die Reisebeschreibungen, etwa das Anfangskapitel auf Gomera. Da werde ich richtig – na, neidisch nicht, das ist nicht mein Wesen, aber ich denke: Da muss ich auch hin. Das ist eine Stärke von ihr: dichte Atmosphären.

ZEIT: Gehören Ort und Mord für Sie zusammen? Ist es wichtig, dass die Tat zum Milieu des Tatorts passt?

NOLL: (zögerlich) Das gehört zusammen, irgendwie schon.

GERCKE: Was ich schreibe, gilt ja als Kriminalroman. Und du kannst keinen Krimihandlung. Also muss ein Mord drin sein, aber das ist nicht das Wichtigste.

NOLL: Geht mir auch so... Übrigens: Die schönste Stelle für mich ist die Szene mit dem Avocadoöl.

ZEIT: Es gibt da eine alte Französin, die mit einer jungen Frau nach Marseille aufbrechen will. Die junge hofft, im Milieu ihr Glück zu machen, die alte...

NOLL:... reibt vor der Abreise erst ihre alte Ledertasche und dann sich selbst mit demselben Avocadoöl ein. Da hab ich mich krankgelacht.

ZEIT: Worin unterscheidet sich Ihr Humor?

GERCKE: Ich hab keinen...

NOLL: Doch, doch. Mit Doris kann man wunderbar lachend

ZEIT: Humor als Autor?

GERCKE: Kommt bei mir sehr selten vor.

NOLL: Aber die Szene mit dem Öl ist doch wahnsinnig witzig. Für mich jedenfalls. Du wolltest es gar nicht witzig machen?

GERCKE: Ich wollte es nur so schreiben, wie es war. Aber das ist deine Stärke, dass du das Komische einer Situation erkennen kannst.

ZEIT: Ironie und Sarkasmus sind aber schon Ihre Mittel, besonders wenn es um die Charakterisierung politischer Verhältnisse geht.

GERCKE: Das kommt vor.

NOLL: Das muss auch sein, bei diesen Härtefällen.

ZEIT: Das sind oft Passagen, die mit der Bemerkung beginnen:»Bella denkt nach«. Darin enthalten sind kleine Vorträge über das Hamburger Gängeviertel, über soziale Schichten oder den Aufbau der Gesellschaft. Gefällt Ihnen das, Frau Noll?

NOLL: Es sind nicht meine Lieblingsstellen. Mir gefällt das ganze Buch.

GERCKE: Ich achte darauf, dass das Nachdenken nicht öde und langweilig wird. Ich weiß nicht, ob das so ist.

NOLL: Nö. Dafür ist es zu kurz. Zwanzig Seiten»Bella Block denkt«— das wäre zu viel.

ZEIT: Sie haben ja beide relativ spät – um die fünfzig – zu schreiben angefangen. War dieser späte Start im Nachhinein von Vorteil?

NOLL: In Workshops kann man viel über das Schreiben lernen, aber eins nicht: Lebenserfahrung. Mit zwanzig kann man vielleicht gut Lyrik schreiben, aber Menschenkenntnis ist für den Krimi nicht verkehrt.

GERCKE: Mir leuchtet das nicht ein. Thomas Mann war 23, als er die Buddenbrooks schrieb. Bei mir bin ich mir sicher: Es war genau der richtige und der einzig mögliche Zeitpunkt, zu dem ich anfangen konnte. Ich hatte schon als Kind zwei Träume: Ich wollte schreiben, und ich wollte Strafverteidigerin werden. Als ich dann alle Pflichten erfüllt hatte, die die Gesellschaft erwartete – Mutter geworden, Kinder großgezogen –, war Strafverteidigung dran. Also hab ich mit Anfang vierzig Abitur gemacht und Jura studiert. In einem der letzten Semester hab ich Tolstojs Geschichte Der Tod des Iwan Iljitsch gelesen. Darin geht es um einen Mann, der nur sehr schwer sterben kann, weil er alles in seinem Leben falsch gemacht hat. Das ist mir so nahegegangen, das war die Zündung. In den Semesterferien hab ich mir Bleistift und Papier genommen, mich hingesetzt und mir gesagt: Jetzt fängst du an, und ich wusste nicht, was ich schreiben sollte.

NOLL: Wie beim Aufsatz.

GERCKE: Da kam mir der Zufall zu Hilfe, dass ich ein paar Tage vorher von einem jungen Polizisten die Geschichte gehört hatte, die dann die Kernszene zu Weinschröter, du musst hängen wurde. Er hatte in dem Museum, das die Polizei zu Ausbildungszwecken unterhält, das Eberbesamungsgerät gesehen, mit dem eine Frau vergewaltigt worden war. Er brauchte jemanden, dem er davon erzählen konnte.

ZEIT: Eine wahre Geschichte...

GERCKE:... die nicht allzu lange davor passiert war. Und da saß ich – geschockt – vor meinem leeren Papier und dachte: Wenn so etwas geschieht, dann muss es eine Form geben, in der es dargestellt werden kann. Und hab es aufgeschrieben.

NOLL: Hast du später noch was daran geändert?

GERCKE: Nicht ein Wort.

NOLL: Da hast du alles rausgelassen. Weinschröter haut einen um.

GERCKE: Im Grunde habe ich wiedergegeben, wie es mich umgehauen hat. Ich habe es aufgeschrieben, um es loszuwerden. Das geht mir übrigens mit allen meinen Büchern so. Wenn ich es aufschreibe, bin ich es los.

ZEIT: Hat das Schreiben auch bei Ihnen eine befreiende Wirkung, Frau Noll?

NOLL: Ja, schon, aber auf andere Art. Ich habe nie so etwas Schockierendes verarbeitet oder auch nur davon gehört. Dass man verarbeitet, ist klar. Dinge, die einem erzählt, die einem anvertraut wurden - von wildfremden Frauen in der Bahn -, Dinge, alle möglichen Emotionen: Erniedrigung und andere, die einen beschäftigen und die man dann unterbringen kann.

ZEIT: Frau Noll, Ihre erniedrigten und gedemütigten Frauen finden im Zweifelsfall immer das passende Messer oder Mordmittel. Gehört Gewalt zur Befreiung?

NOLL: Ja. Morde und Mordpläne sind oft etwas surreal. Aber sie sind das, was in den Köpfen herumspukt und meist nicht in die Tat umgesetzt wird. Das ist eben der Vorzug des Krimis, dass es gemacht wird.

ZEIT: Kennen Sie das Gefühl, wenn man einfach zuschlagen möchte? Zum Beispiel bei Filmen, in denen Frauen vom Bösewicht durch das Haus gejagt werden, ihr gelingt es, ihn niederzuschlagen, aber sie betäubt ihn nur, da denkt man:...

NOLL:... Schlag doch zu! Ich dachte lange, ich kenne keinen Hass. Inzwischen weiß ich es besser. Neulich hatte ich einen Traum, in dem ein Unhold meine kleine Enkelin bedrohte. Den hab ich zertreten und zerstampft wie ein ekelhaftes Insekt. Mit einer Wut ohnegleichen hab ich den hingemacht. Später habe ich gedacht: Das bist du auch. Das kann man nicht leugnen.

ZEIT: Kann es sein, dass Sie diese Fähigkeit zur Imagination von Gewalt erst durch Ihr Schreiben erworben haben?

NOLL: Ja, ich hab gelernt, das zuzulassen. Ich wurde zu einer friedfertigen Frau erzogen. Ich hab drei Kinder großgezogen ohne eine einzige Ohrfeige. Das ist schon eine Kunst, denn manchmal...

GERCKE:... haben sie es schon verdient...

NOLL:... hat es gezuckt, (beide lachen) Ich hab da viel verdrängt. Den Drang, zuzuschlagen, wenn es zu weit geht, haben alle Menschen, glaube ich.

ZEIT: Verspüren Sie Lust, diese Gefühle auszuleben?

NOLL: Im Roman ja.

ZEIT: War Patricia Highsmiths Held Thomas Ripley da ein Vorbild?

NOLL:... der nie erwischt wurde. Bewundernswert, diese... Eleganz...

ZEIT:... mit der er seinen Lebensstil durch Mord verteidigt...

NOLL: Oh ja. Ripley war ein Meilenstein.

ZEIT: Zur Notwehr ist Gewalt gerechtfertigt, da sind Sie beide d'accord. Aber Sie, Doris Gercke, haben doch zumindest früher einen wesentlich erweiterten Begriff von berechtigter Gewalt vertreten.

GERCKE: Aber nicht in meinen Büchern. Meine Heldin ist weder Kommunistin noch Revolutionärin. Zu Ripley: Vielleicht erklärt das den Unterschied zwischen unseren Büchern. Dich hat Ripley fasziniert, mich hat Highsmith nie begeistert. Für mich waren eher die Schweden Sjöwall und Wahlöö entscheidend. Ich wollte gesellschaftliche Verhältnisse schildern, das hatte mit meinem politischen Engagement zu tun, und bei denen sah ich: Das geht. Und Chandler war wichtig für mich, obwohl der mit meinen Büchern kaum was zu tun hat. Der hat eine Art zu reden...

NOLL:... cool...

GERCKE:... das erreicht kaum jemand heute. Der hat eine Sprache!

ZEIT: Aber inhaltlich? Chandler ist homophob. Er hat Angst vor Frauen. Und diese Pose als englischer Gentleman in Los Angeles...

GERCKE: Vielleicht ist es die Rolle des Außenseiters. Marlowes»Mir kann keiner«, das fesselt und schafft Atmosphäre.

ZEIT: Und Bella Block? Wo kommt die her?

GERCKE: Ich wollte eine Frau, natürlich, die nichts mit mir zu tun hat. Die nicht so aussieht wie ich, die eine andere Geschichte hat, die nicht so denkt und fühlt wie ich. Die habe ich so konstruiert, dass sie ganz weit von mir weg war, habe ich mir damals vorgestellt...

NOLL:... ja, jaa!

GERCKE: Na ja, auch wenn in dem ersten Roman kaum was von mir drin ist, ging das nicht so weiter. Man kann so eine Figur, die man immer wieder trifft, nicht lebendig schildern, ohne ihr Eigenschaften zu geben, die man besonders gut kennt, und das sind die eigenen. Die innere Verwandtschaft wird stärker und stärker, und dann muss man die Rettungsleine ziehen. Deshalb habe ich unter Pseudonym geschrieben, als Jo Morell.

NOLL: Und Bella hast du im Flugzeug abstürzen lassen. In Bella Ciao.

ZEIT: Warum wurde Bella dann doch wiederbelebt?

GERCKE: Weil sie gebraucht wird. Es gibt immer wieder Situationen, in denen ich denke: Na, das müsste man durch Bellas Augen sehen, das könnte ganz interessant sein.

ZEIT: Wobei es ja auch noch die Fernsehfigur gibt.

GERCKE: Ja, aber die hat mit der Bella Block meiner Krimis kaum mehr etwas gemeinsam. Die Bella Block im Fernsehen, das ist Hannelore Hoger, und das sind die Rollen, die die Drehbuchautoren für die jeweiligen Folgen schreiben.

NOLL: Von jungen Mädchen, deren Lieblingsfiguren meine Heldinnen Cora und Maja sind, werde ich oft gefragt, warum ich nicht weiter über sie geschrieben habe. Mir würde langweilig, könnte ich nicht immer wieder ein ganzes Ensemble von Figuren – die»Bibel«nennen es die Drehbuchautoren – erfinden. Ich bewundere, wie du das schaffst, dass Bella immer noch lebendig bleibt.

GERCKE: Indem ich niemals an diese Bella Block denke, niemals in meinem Leben außerhalb des Schreibens. Auch beim Schreiben: Wenn ich den Griffel hingelegt habe, denke ich nicht mehr an Bella. Erst am nächsten Morgen am Schreibtisch ist sie wieder da. Sie interessiert mich nur im Zusammenhang mit der Geschichte, die ich erzählen will. Da die Geschichten immer andere sind, gibt es neue Situationen, neue Reaktionen. So funktioniert es möglicherweise.

ZEIT: Was können Sie mit dem Stichwort»Frauenkrimi«anfangen?

GERCKE: Das musste ja kommen!

NOLL: Mädchenpferdebuch.

ZEIT: Wie bitte? Ist das das Gleiche?

NOLL: Na, ja. Frauenkrimi, das ist abwertend und abfällig gemeint. Von Frauen geschrieben, von Frauen gelesen und mit Frauen als Hauptfiguren. Eben nicht tough und hard-boiled.

ZEIT: Als Sie anfingen zu schreiben, sind Sie doch als zwei Flügel der literarischen Frauenbewegung wahrgenommen worden, oder?

GERCKE/NOLL: Nein!

GERCKE: Im Gegenteil. Die Frauenbewegung war am Ende. Die Frauen glaubten nur, dass ihnen darin eine Fortsetzung der Frauenbewegung vorgegaukelt wurde. Das war meiner Meinung nach ein Grund für den Erfolg dieser Bücher... Als die»Frauenkrimis«en vogue waren, dachte ich: Das ist doch arg überfrachtet. Als wenn jetzt die Frauen mit ihren Krimis die Welt verändern sollten.

NOLL: Das ist doch Käse.

GERCKE: Das gehörte zur Vermarktung, das hatte mit unserer Arbeit wenig zu tun.

ZEIT: Auch nicht in dem Sinne, dass die starke, autonome, auch mal kräftig hinlangende Bella Block Teil des Selbstverständigungsdiskurses der Frauen war?

GERCKE: Ich habe Bella Block ja nicht so geschrieben. Mag sein, dass die Rezeption so funktioniert hat.

NOLL: Ich habe immer was gehabt gegen Frauen, die ewig nur rumjammern. Die immer nur meckern, ohne je eine Konsequenz daraus zu ziehen. Im Roman kann man diese Jammerlappen handeln lassen. Geht es nicht im Guten, geht e



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