Der Bioelektrik ist es gelungen, Hirnprozesse zu filmen. 


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Der Bioelektrik ist es gelungen, Hirnprozesse zu filmen.



 

Wenn man sich in diesen Tagen die Versuche der biologischen Forschung ansieht, die Vorgänge im Gehirn zu enträtseln, wird man auf der maschinellen Ebene kaum etwas finden, das sich die Phantastiker unter uns nicht schon längst ausgemalt haben. Die schöpferische Kraft kennt da praktisch keine Grenzen. Mit der Einschränkung allerdings, dass man dem Gehirn des Menschen nur entweder post mortem auf dem Seziertisch nahe kommt oder eben - und mittlerweile viel ergiebiger - die bioelektrischen Vorgänge im Hirn mit bildgebenden Verfahren aufzuzeichnen versucht. Und dennoch bleiben gewaltige Erkenntnislücken, die wir als menschliche Versuchskaninchen nie und nimmer zu schließen bereit sein würden. Deshalb kommt solchen ideenreichen Experimenteuren wie Peter Fromherz vom Max-Planck-Institut für Biochemie oder Bruce Baker von der Stanford-Universität ein ganz besonderer Platz in dem globalen Unternehmen Hirndecodierung zu. Sie sind die findigen Ingenieure und gewandten Werkzeugmacher ihrer Zunft. Sie suchen sich die adäquaten Instrumente und Modelltiere aus, um den grundlegenden biologischen Prozessen auf den Grund zu gehen. Dass dann das, was bei solchen Experimenten herauskommt, oft ziemlich phantastisch klingt und nicht jedermann erkenntnistheoretisch zufriedenstellt, ist leicht zu erkennen, wenn man Fromherz' und Bakers jüngste Arbeiten zusammennimmt. Baker - er ist Experte für das Fliegenhirn - hat durch Ausschalten bestimmter Gene eine Region im winzigen planaren Gehirn von Taufliegenmännchen ausgemacht, die deren Balzverhalten kontrolliert. Mehr noch: Die ganze sechsstufige Choreographie der Fliegenbalz, angefangen von der Wahrnehmung des weiblichen Dufts bis zum Vibrieren der Flügel und dem typischen»Minnegesang«der Männchen bis zur Kopulation ist in der Aktivität von genau sechzig Nervenzellen festgelegt. Sechzig Zellen im Manneshirn, die in ihrem elektrischen und biochemischen Zusammenspiel über das Wohl und Wehe einer ganzen Spezies entscheiden. Kronzeugen sind jene Tiere, denen man diese kleine Zellpopulation gentechnisch ausgeschaltet hat.

Wichtig aber ist nicht nur das, was Baker und seine Kollegen an ihren neuronalen Krüppeln gesehen, sondern auch das, was sie nicht gesehen haben. Wie die sechzig Zellen nämlich dieses stereotype Kunststück der Balz im bioelektrischen Zusammenspiel vollbringen, bleibt auch ihnen als Neurogenetiker verborgen. An dieser Stelle nun kommt die Obsession des Münchner Neuro-physikers Fromherz ins Spiel. Er hat jetzt in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift»Applied Physics A«ein Werkzeug präsentiert, das die in solchen Nervennetzen zunächst generierte und dann im Verhalten ausgeprägte Choreographie szenisch darstellbar macht. Das codierte Konzert der Nervenausläufer wird gefilmt. Und zwar mit einer Technik, für die Fromherz und seine zwei Dutzend Mitarbeiter mittlerweile weltberühmt geworden sind: durch die Interaktion von Nerven und Siliziumchip.

Von Beginn an war klar, dass einzelne Nerven, die Fromherz auf dem Chip wachsen und mit demselben über elektrische Signale kommunizieren ließ, nur ein artifizielles Abbild der Hirnprozesse liefern. In der Netzwerkbildung - längst eine Binsenweisheit - liegt das tiefere Geheimnis jeder Kognition. Deshalb hat Fromherz gemeinsam mit Infineon-Fachleuten eine Chiparchitektur entwickelt, die es am Ende möglich machte, bioelektrische Landkarten ganzer Nervennetze in zusammenhängenden Filmsequen zen aufzunehmen. Voraussetzung dafür sind 16 384 Messstellen auf einem Chip, der bequem auf jede Kugelschreiberspitze passt.

Nun sind jene zwölf miteinander verdrahteten Schneckenneurone, die er in seinen ersten Experimenten mit solchen Transistoraggregaten verkoppelt hat, alles andere als eine kognitive Offenbarung. Zumal es sich um Nervenzellen von Schlammschnecken handelt, deren kognitives Potential auch im unversehrten Zustand kaum der Rede wert ist. Doch Fromherz hat, was er in seiner Veröffentlichung nur andeutet, die Richtung damit schon vorgezeichnet. Die ersten Landkarten von Hirnschichten der Laborratte lagen schon probeweise auf dem Chip. Mit demselben vielversprechenden Ergebnis: Das bio-elektrische Konzert des Nervenzellorchesters, das nach einer Reizung meist nur wenige Millisekunden dauert, lässt sich mit den Chips akribisch Ton für Ton protokollieren. Selbst Töne oder Artefakte, die weniger als ein Wimpernschlag - tausendstel Sekunden - andauern, bleiben den Wissenschaftlern nicht verborgen.»Irgendwann«, so Fromherz,»sollte es bei aller Vorsicht, die bei solchen Prognosen geboten ist, möglich sein, funktionale Nervennetze wie die im balzenden Männerfliegenhirn nicht nur in der Kulturschale, sondern am lebenden Tier aufzuzeichnen.«Irgendwann. Der Forscher verkneift sich jede Euphorie. Ein intaktes Gehirn, geschweige das eines Menschen, mit solchen Siliziumchips oder den dazugehörigen»Kabeln«zu malträtieren, liegt jenseits seiner eigenen Pläne. Aber was ist schon plan- und was vorstellbar?

Joachim Müller-Jung

 

 

Die Hirnforschung weiß nicht, ob sie gefunden hat, was sie sucht

 

Mit jeder neuen Entdeckung in der Hirnforschung geht weiter, was der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner die»Faszinationsgeschichte des homo cerebralis«nennt. Hagner, von dem im Herbst unter dem Titel»Geniale Gehirne«eine große Monographie über die Geschichte der Elitegehirnforschung erscheint, begreift die Neurowissenschaftler als die»ambitionierte anthropologische Speerspitze«der Naturwissenschaften. Er bemerkt die»epistemische Unruhe«, mit der hier eine Revolution des Menschenbildes vorbereitet wird, und warnt entschieden davor, es als medialen Sensationalismus abzutun, wenn»Monat für Monat Magazine und Zeitschriften über das Wunder Gehirn berichten und dabei zwischen Wahrnehmung und Gefühlen, Krankheit, Kreativität und Kriminalität, Gedächtnis und Neurochips kaum ein Thema ausgelassen wird«.

Die Schlagseite solcher Berichte liege in ihrer historischen Dekontextualisierung. Jede Entdeckung präsentiert sich hier gern als unerhörte Begebenheit, obwohl die Diskussion über die leitenden Prämissen bis weit ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht. Ohne damit sagen zu wollen»Alles schon einmal dagewesen!«, hält Hagner fest:»Was am Beginn des 21. Jahrhunderts passiert: Die neuerlichen Diskussionen um die Existenz des freien Willens, die Untersuchung von betenden Franziskanerinnen mittels der funktionellen Magnetresonanztomographie oder die Bemühungen um einen neuen Forschungsbereich namens Neuroökonomie, kann gelassener betrachtet und präziser eingeordnet werden, wenn man es vor dem historischen Hintergrund der kognitiven Hirnforschung beleuchtet.«

Unter den Fragen, mit denen sich die Hirnforschung seit ihrer Gründung herumschlägt, gibt es eine, die paradoxerweise offener denn je bleibt: Ist das, was sie herausfindet, überhaupt das, wonach sie sucht? Mit je.dem neurowissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt wird diese Frage dringlicher. Überall dort, wo eine über das therapeutische Interesse hinausgehende anthropologische Ambition besteht, wird die Hirnforschung von ihrem erkenntnistheoretischen Klärungsbedarf eingeholt. Was sagen die dreidimensional beobachtbaren Aktivitätsmuster neuronaler Netze über das Bewusstsein aus? Lässt sich mit den verfeinerten bildgebenden Verfahren dem Menschen beim Denken zuschauen? Ist»Stimulus und Repräsentation«die geeignete experimentelle Prämisse, um etwas über die Bildung von Bedeutung zu erfahren? Kann man in einem System von Input und Output abbilden, was wir Erlebnis, Psychisches oder ganz altmodisch Geist nennen? Fragen, die auf massive Validisierungsprobleme der exakten Befunde herauslaufen.

Die suggestive Gleichsetzung von Bedeutung und neuronalem Substrat wird denn auch in der Hirnforschung selbst mit Skepsis betrachtet. Zwar seien semantische Gehalte auf all jene mentalen Repräsentationen (Begriffsbildung, Gedächtnisbilder) angewiesen, die die Hirnforschung sichtbar machen kann. Aber»Bedeutung ist nicht identisch mit mentaler Repräsentation«, schreibt der Neurowissenschaftler Gerald Edelman, Nobelpreisträger für Medizin, in seinem dieser Tage auch in deutscher Übersetzung erscheinenden Buch»Das Licht des Geistes. Wie Bewusstsein entsteht«. Eine solche Betrachtungsweise habe den Vorteil,»dass sie Bedeutung nicht so auffasst, als würde eine Punkt-für-Punkt-Entsprechung mit neuronalen Zuständen oder mit Umweltkonstellationen vorliegen«. Edelman dreht den Spieß sogar um und leitet aus den experimentellen Befunden die Unmöglichkeit einer derartigen Punkt-für-Punkt-Ent-sprechung ab:»Es gibt keine direkte Entsprechung zwischen einer bewussten Repräsentation und einem ganz bestimmten Aktivitätsmuster eines Schaltkreises oder einem ganz bestimmten Code. Ein Neuron, das in einem Augenblick an einer Repräsentation beteiligt ist, leistet im nächsten möglicherweise keinen Beitrag mehr dazu. Dasselbe gilt für kontextabhängige Interaktionen mit der Außenwelt.«

Da erinnert man sich gern an Noam Chomsky, der schon immer scharf unterschieden sehen wollte zwischen Fragen, die im Rahmen von In-put/Output-Systemen formuliert und nicht formuliert werden können. Repräsentationen fänden in solchen Systemen ihren Platz, nicht aber Bedeutungen.»Der Output kann eine mentale Repräsentation sein, für die wir indirekte Belege finden können«, meinte Chomsky Ende der neunziger Jahre in einem Interview über»Sprache und menschliche Natur«. Es gebe aber andere Fragen,»von denen wir nicht wissen, wie wir sie überhaupt ernsthaft angehen sollen, wie zum Beispiel Fragen, die mit der Willens- und Entscheidungsfreiheit zu tun haben«.

Chomsky stößt zu der zentralen epistemischen Schwierigkeit durch:»Tatsächlich scheinen wir nur insoweit, wie man Probleme in Begriffen von In- und Output formulieren kann, zu wissen, wie man sie auf eine Weise behandeln kann, die halbwegs einer wissenschaftlichen Methodik entspricht.«In diesem Sinne mögen sich Beispiele für erfolgreiche nichttriviale psychologische Theorien im Bereich des Sehens oder des Spracherwerbs finden, aber schon als Lerntheorie scheinen neurowissenschaftliche Induktionen die Topoi der Lernpsychologie bloß zu verdoppeln. Unklar bleibt: Wie vertragen sich Labor und Lebenswelt, Vivisektion und Organismus? Ist das Lebende wirklich, wie Nietzsche sagt, nur eine Art des Toten? Es sieht so aus, als stünde die Hirnforschung vor einer paradoxen Aufgabe: mit jedem weiteren Film aus dem Fliegenkopf sich ein wenig mehr von sich selbst zu distanzieren.

Christian Geyer

 

 

Elfriede Jelinek bekommt den Nobelpreis für Literatur

 

Der Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek ist ein Schock, von dem sich noch niemand ganz erholt hat. Die stotternden Gratulanten nicht, denen die abgenutzten Kampfparolen - unbequem, mutig, unerschrocken, obsessiv, sprachmächtig - nur zögernd von den Lippen perlten. Der Buchhandel nicht, der tagelang noch nicht einmal die wichtigsten Titel bereitstellen konnte. Die österreichische Schmutzpresse nicht, die sich in den eiligst zurückbeorderten Schlingen ihrer Schmähsucht verhedderte. Und zuletzt die Geehrte selbst nicht, die sich verzweifelt zeigte und den Eindruck erweckte, den Preis am liebsten an Peter Handke weiterreichen zu wollen.

Was also hat sich die Schwedische Akademie dabei gedacht, als sie, an den großen Autoren der Weltliteratur - an Roth, Mayröcker, Les Murray, Pynchon, Don DeLillo, Updike, Gates, Bitow - vorbei, den bedeutendsten Literaturpreis der Welt an eine mutige, unerschrockene Heldin des innerösterreichischen Widerstandes verliehen hat? Die Entscheidung hat den Chic des Unkonventionellen. Krönt man hier doch nicht eines der großen Festspielhäuser der Literatur mit ihren Haupt- und Nebenbühnen, ihrem reichen Repertoire, ihrer reifen und breiten literarischen Erfahrung. Vielmehr ehrt man eine kleine, schlecht ausgestattete Avantgardebühne, die vor den immergleichen Kulissen in standardisierter Kostümierung unter wechselnden Titeln vor einer eingeschworenen Gemeinde das immergleiche Stück aufführt. Elfriede Jelinek ist eine Heilige der menschlichen Schlachthöfe und hat für ihre inbrünstigen Ekstasen des Negativen Lob und Ehre verdient. Dennoch sieht es in diesem Fall ganz so aus, als habe man einem Hamster im Laufrad den weltweit bedeutendsten Preis für Langstreckenlauf verliehen.

Dies ist ein merkwürdiges Missverständnis, an dem Elfriede Jelinek ganz unschuldig ist und das ihr Werk schon lange umgibt: Man hält es allgemein für reich, sprachgewaltig, vielschichtig, beschenkt mit überbordender Redundanz.»Elfriede Jelinek schreibt nicht Bücher, sie schreibt Bücher voll«, schrieb eine Autorin einmal, nicht ohne fröstelnde Bewunderung. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ihre Bücher sind leer. Und wollen es sein. Leer an Erfahrung, leer an Gefühlen, leer an Poesie. Es gibt in ihnen keinen Himmel, keine Liebe, keine Gedanken, keine Farbenxkeine Töne, keinen Geruch, kein Licht, keine irdische und keine überirdische Welt. Es gibt nur eine einzige Materie und von dieser wie zum Ersatz unerschöpflich viel: Müll. Menschenmüll, Naturmüll, Beziehungsmüll, Liebesmüll, Familienmüll, Medienmüll, Sprachmüll.

Betritt man den Kosmos der Jelinekschen Bücher, verwandelt sich die ganze Welt mit einem Wimpernschlag in eine Kloake, werden aus Männern gewaltgeile Schweine, aus Frauen lüsterne unterwerfungsbereite Säue, aus der Steiermark ein Leichenfeld. Wie das in Österreich eben so ist, die Wirklichkeit ein wenig zugespitzt,»zur Kenntlichkeit entstellt«, so hieß das in den guten alten Zeiten, in denen die Avantgarde der amtierenden Literaturkritik die frühen Romane wir sind lockvögel baby! und Lust mit masochistischer Inbrunst -»intellektuelle Leseherausforderung«,»aufregende aggressive Geschmacklosigkeit«- begrüßte.

Elfriede Jelineks unerbittlichem Kampf gegen Hirschhornknöpfe, gegen Österreich, gegen die Sport-, die Freizeit- und die Medienindustrie, gegen Spieß- und Kulturbürgertum, gegen Pornografie und Patriarchat kann man nur aus tiefstem Herzen zustimmen. Ihre Methode hingegen, die schrille, in jedem Fall totale Identifikation mit dem ins Groteske verzerrten Aggressor, fügt dem bekannten Gruselkabinett außer Rechthaberei nichts Neues hinzu. Die züchtige Gouvernante, die Frank Castorf in seiner Hamburger Inszenierung von Raststätte oder sie tun es alle in Gestalt einer bezopften übergroßen blinkenden Jelinek-Puppe auf die Buhne rollen ließ, war noch ein liebevoller Kommentar zur Engstirnigkeit des geheimnisvollen Originals.»Im Grunde weiß ich nicht viel über das Leben«, hat Elfriede Jelinek einmal gesagt,»aber ich muss es auch gar nicht kennen, weil ich weiß, wie es läuft.«

Mit anderen Worten: Das Schwedische Nobelpreiskomitee zeichnet ein Werk aus, das wie wenig andere noch immer mit beiden Beinen in der Nachkriegszeit und ihren hysterischen Schuldzuweisungen steckt. Wenn Elfriede Jelinek ihren Figuren jede wirkliche Erfahrung, jede Berührung mit einer noch nicht zurechtgestutzten, noch nicht zur Farce verkleinerten Wirklichkeit verweigert und sie stattdessen auf einem durchideologisierten Schrottplatz der Gemeinplätze und Gewaltanwendungen wortreich verkümmern lässt, dann schreit dieses demagogische Verfahren nach Anklage und Rache. Moralisch ein Volltreffer, ästhetisch eine Kapitulation, literarisch letzten Endes provinziell.

Dies ist die größte Merkwürdigkeit dieser stau­nenswerten Entscheidung: Auch eine Anti-Heimat-Literatur ist Heimatliteratur, und noch die schonungsloseste Demaskierung des österreichischen katholischen Kleinbürgertums trägt Züge desselben. Großer Hass und große Liebe gehören zusammen, und schon ein paar hundert Kilometer weiter sind beide kaum noch zu verstehen. Will sagen: Österreich ist ein sehr kleines Land und Elfriede Jelinek eine große regionale Schriftstellerin. Ob es wohl in Bukarest, in Baltimore eine junge Leserin gibt, die noch versteht, was es mit den ungezählten zerhackten Geschlechtsteilen, den Sperma-Hostien, den vergewaltigenden Skifahrern und überhaupt mit dem ganzen surrenden und klingenden Jelinekschen Motivteppich aus Zerstörung, Lodenjoppen, Fäulnis, Lederhosen, Fernsehbildern und Apokalypse im Einzelnen auf sich hat?

Vielleicht ist es aber alles auch ganz anders. Vielleicht hat die Schwedische Akademie ganz Unrecht, wenn sie in ihrer Preisbegründung schreibt, Elfriede Jelinek habe Österreich mit»leidenschaftlicher Wut«gegeißelt, und ihre Romane Die Liebhaberinnen, Die Ausgesperrten und Die Klavierspielerin stellten»eine Welt ohne Gnade«dar. Vielleicht ist es ja so, dass Elfriede Jelinek überhaupt keine Welt darstellt, dass sie auch gar nicht wütend ist, sondern vielmehr tief verzweifelt und für jede Art von Welt verloren. Im Gespräch mit Andre Müller hat Elfriede Jelinek einmal gesagt, dass sie es als ihre größte Schuld betrachte, am Leben nicht teilzunehmen, nur aus zweiter Hand zu leben. Und wirklich scheint es, als sei es gar nicht die flüchtige, vielsagende Welt vor ihrer Tür, sondern einzig die drastische Comicwelt des Fernsehens, gegen die sie ihr beeindruckendes sprachliches Kriegsgerät mobilisiert.»Die Wirklichkeit«, heißt es in ihrem Opus magnum Die Kinder der Toten,»kommt gut ausgebacken, allerdings fix und fertig, aus der Bildröhre, in welcher sie schön langsam knusprig braun geworden ist.«Gefragt, wo sie denn am liebsten leben wolle, lautete ihre prompte Antwort:»Vor dem Fernseher.«Ach, wer ihr den nur einmal ausstellen könnte.

In ihrem wahrscheinlich besten Roman Die Klavierspielerin hat Elfriede Jelinek den Weg einer jungen Frau in den Autismus einer nur noch schematischen Welterfahrung mit trockener Verzweiflung beschrieben. Die Heldin, eine ewige Tochter, ein Mündel der Mutter und des faschistoiden Kulturbürgertums, zappelt wie eine festgeklebte Fliege am Klebeband des stupiden Nachkriegskapitalismus: Drill, Freudlosigkeit, Entsexualisierung waren damals, lange vor der Fit-for-Fun-Gesellschaft, die Zauberwörter für ein erfolgreiches Leben. Die Tochter bezahlt die kapitalistische Dressur mit einem hohen Preis.»Unter einer gläsernen Käseglocke«seien Mutter und Tochter miteinander eingeschlossen, heißt es in dem Roman.»Die Glocke lässt sich mir heben, wenn jemand von außen den Glasknopf oben ergreift und ihn in die Höhe zieht.«Dieser Glasknopfheber ist nie gekommen. Die Tochter sitzt fest, zerschnitzelt sich und ihre Glasglockenwelt mit feinen Rasierklingen. Ein, wie sie versichert, absolut schmerzfreier Vorgang.

Immer wieder ist der Autorin die allzu große Übersichtlichkeit ihres holzgeschnitzten Weltbildes vorgehalten, ist der ideologische Automatismus ihrer Sprachcollagen, ist das Kunsthandwerkliche ihrer im vorgestanzten Sprachmüll wühlenden Kalauer vermerkt - und immer wieder ist ihr wegen ihrer»Radikalität«, ihrer geglückten Provokationen, ihrer»glühenden Wut«verziehen worden. Sie hat verdiente Unterstützung erfahren gegen amoklaufende debile FPÖ-Politiker ihrer Heimat (»Lieben Sie Jelinek und Peymann... oder Kunst und Kultur?«). Sie ist auf dem deutschen Kreisch-und-Trümmer-Theater um ihrer rosenkranzartigen Exerzitien der uneigentlichen Rede und ihrer austauschbaren Wegwerffiguren willen sehr beliebt. Einem größeren Publikum ist sie bekannt, seit sie mit dem Roman Lust als Schwanz-und-Titten-Skandalnudel missverstanden wurde.

Ihre größte Begabung ist neben ihrer irrlichternden Sprachmusikalität sicherlich ihre unerschütterliche Menschenfeindschaft.»Seitdem ich mit meiner Familie fertig war«, hat sie einmal gesagt,»wollte ich nie wieder etwas mit Menschen zu tun haben.«In Österreich ist das eine sehr solide Berufsvoraussetzung. Und weil die beiden großen österreichischen Menschenhasser Karl Kraus und Thomas Bernhard den Literaturnobelpreis leider nicht bekommen haben, geht die Sache so gesehen doch noch in Ordnung.

Iris Radisch

 

 

Weltbürger wider Willen



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