Ein kurzer auszug aus der Pfeifer 


Мы поможем в написании ваших работ!



ЗНАЕТЕ ЛИ ВЫ?

Ein kurzer auszug aus der Pfeifer



Sie lag da, furchtsam, in einer Lache aus Blut. Eine seltsame Melodie sang in ihrem Ohr. Sie erinnerte sich an das

Messer, rein und raus, und an ein Lächeln. Wie immer hatte der Pfeifer gelächelt, als er davongerannt war, in eine dunkle und mörderische Nacht...

Liesel war sich nicht sicher, ob die Worte oder das offene Fenster der Grund dafür waren, dass sie schauderte. Jedes Mal, wenn sie Wäsche im Haus des Bürgermeisters abholte oder sie hinbrachte, las sie zitternd drei Seiten, länger ertrug sie es nicht.

Max Vandenburg ging es ähnlich. Auch er konnte den Keller nicht mehr viel länger ertragen. Er beklagte sich nicht - dazu hatte er nicht das Recht -, aber er fühlte, wie er langsam in der Kälte verrottete. Wie sich herausstellte, sollte er seine Rettung dem Lesen und Schreiben verdanken und einem Buch mit dem Titel Das Schulterzucken.

»Liesel«, sagte Hans eines Abends,»komm mit.«

Max' Ankunft hatte die Leseübungen von Liesel und ihrem Papa unterbrochen. Hans Hubermann war der Meinung, dass es Zeit sei, damit fortzufahren.»Na komm«, sagte er zu ihr.»Ich will nicht, dass du alles wieder vergisst. Geh, hol eines deiner Bücher. Wie wär's mit dem Schulterzuckeh? «

Als sie mit dem Buch in der Hand zurückkehrte, bedeutete Papa ihr zu ihrer Entgeisterung, ihm in ihr altes Arbeitszimmer zu folgen. In den Keller.

»Aber Papa«, versuchte sie einzuwenden.»Wir können doch nicht...«

»Warum nicht? Hockt da unten ein Ungeheuer?«

Es war früh im Dezember, und der Tag war eiskalt gewesen. Der Keller wurde mit jedem Schritt auf den Zementstufen unfreundlicher.

»Es ist zu kalt, Papa.«

»Das hat dich früher doch auch nicht gestört.«»Aber so kalt war es früher nicht...«

Als sie unten angekommen waren, fragte Papa Max leise:»Können wir uns bitte die Lampe ausborgen?«

Mit klammen Händen wurden die Tücher und Farbeimer zur Seite gerückt und das Licht hinausgereicht. Hans schaute in die Kerosinflamme und schüttelte den Kopf. Dann ließ er Worte folgen:»Es ist ja Wahnsinn, nicht wahr?«Ehe die Hände von innen die Lumpen wieder zurechtrücken konnten, ergriff Hans eine davon.»Bitte, kommen Sie auch, Max. Bitte.«

Da wurden die Lumpen langsam beiseitegedrückt, und Max Vandenburg erschien, Körper und Gesicht bleich und ausgemergelt. In dem feuchten Licht stand er mit widerstrebendem Unbehagen da. Er zitterte.

Hans nahm seinen Arm, um ihn näher zu ziehen.

»Jesus, Maria und Josef. Sie können nicht hier unten bleiben. Sie erfrieren uns ja.«Er drehte sich um.»Liesel, mach die Badewanne voll. Nicht zu heiß! Nur handwarm.«

Liesel rannte hinauf.

»Jesus, Maria und Josef.«

Noch als sie im Flur ankam.

Liesel lauschte an der Tür zum Badezimmer. Max hockte in der winzigen Wanne, und Liesel stellte sich vor, wie das lauwarme Wasser sich in Dampf verwandelte, während es den Eisberg schmolz, zu dem sein Körper geworden war. Mama und Papa befanden sich im Wohnzimmer, auf dem Höhepunkt einer Debatte. Ihre leisen Stimmen verfingen sich in der Wand zum Flur.

»Er stirbt da unten, ich schwör's dir.«

»Aber was ist, wenn ihn jemand sieht?«

»Nein, nein, er kommt nur nachts nach oben. Tagsüber lassen wir alles auf - wir haben nichts zu verbergen. Und wir halten uns hier in diesem Zimmer auf, nicht mehr so oft in der Küche. Es ist besser, von der Tür wegzubleiben.«

Stille.

Dann Mama:»Also schön... Ja, du hast recht.«

»Wenn wir es schon mit einem Juden riskieren«, sagte Papa kurz darauf,»soll es wenigstens ein lebendiger sein.«Von diesem Moment an war eine neue Routine geboren.

Jeden Abend wurde in Mamas und Papas Zimmer das Feuer angezündet, und Max kam still und leise aus dem Keller herauf. Er saß in der Ecke, verkrampft und verunsichert durch die Freundlichkeit der Menschen, die Qual des Überlebens und vor allem durch die Großartigkeit der Wärme.

Die Vorhänge waren stets sorgfältig zugezogen. Er schlief auf dem Boden. Unter seinem Kopf lag ein Kissen. Das Feuer sank nieder und wandelte sich zu Asche.

Am Morgen kehrte er in den Keller zurück.

Ein stimmenloser Mensch.

Die jüdische Ratte kroch wieder in ihr Loch.

Weihnachten kam und ging, begleitet von dem Geruch von gesteigerter Gefahr. Wie erwartet, kam Hans junior nicht nach Hause (sowohl ein Segen als auch eine beunruhigende Enttäuschung), aber Trudi besuchte sie, wie immer. Glücklicherweise ging alles glatt.

Max blieb im Keller.

Trudi kam und ging wieder, ohne irgendetwas bemerkt zu haben.

Sie hatten beschlossen, dass Trudi, trotz ihrer Sanftmut, nicht ins Vertrauen gezogen werden durfte.

»Wir dürfen nur die einweihen, die unbedingt nötig sind«, sagte Papa.»Und das sind wir drei und sonst niemand.«

Max bekam eine Extraportion Essen und eine Entschuldigung, da Weihnachten ja nicht zu seiner Religion gehörte, ein Weihnachtsessen aber immerhin Tradition im Hause Hubermann war.

Max beklagte sich nicht.

Welchen Grund hätte er auch haben können?

Er erklärte, dass er zwar jüdischen Blutes sei und als Jude aufgewachsen, dass das Judentum aber heutzutage mehr als je zuvor ein Etikett war - ein verhängnisvolles Schild, an dem Pech klebte.

Bei dieser Gelegenheit teilte er den Hubermanns auch sein Bedauern mit, dass ihr Sohn nicht nach Hause gekommen war. Als Antwort meinte Papa, dass sich diese Dinge ihrer Kontrolle entzögen.»Das müssen Sie doch am besten wissen«, sagte er zu Max.»Sie sind doch ein junger Mann, und ein junger Mann ist immer noch ein Kind, und ein Kind hat das Recht, ab und zu dickköpfig zu sein.«

Sie beließen es dabei.

In den ersten Wochen vor dem Kamin blieb Max wortlos. Jetzt da er einmal in der Woche ein Bad nahm, bemerkte Liesel, dass seine Haare gar kein Geäst waren, sondern mehr ein Nest aus Federn, die um seinen Kopf flogen. Sie fühlte dem Fremden gegenüber immer noch eine gewisse Scheu und flüsterte Papa zu:»Seine Haare sind wie Federn.«

»Was?«Das Knistern des Feuers hatte ihre Worte geschluckt.

»Ich sagte«, flüsterte sie noch einmal und beugte sich näher,»dass seine Haare wie Federn sind...«

Hans Hubermann schaute auf und nickte. Ich bin sicher, er wünschte sich, die Augen des Mädchens zu haben. Sie waren sich nicht bewusst, dass Max alles gehört hatte.

Gelegentlich brachte er seine Ausgabe von Mein Kampf'mit und las im Schein der Flammen. Er kochte angesichts des Inhalts. Das dritte Mal, als er es dabeihatte, fand Liesel den Mut, ihre Frage zu stellen.

»Ist es... gut?«

Er schaute von den Seiten auf, ballte seine Hand zur Faust und öffnete sie dann wieder. Er fegte den Zorn beiseite und lächelte sie an. Dann hob er die fedrigen Haarfransen und strich sie dann in Richtung seiner Augen glatt.»Es ist das beste Buch überhaupt.«Er blickte erst Papa an und dann Liesel.»Es hat mir das Leben gerettet.«

Das Mädchen rückte ein wenig näher und schlug die Beine zum Schneidersitz übereinander. Leise fragte sie:

»Wie?«

Und so fing das Geschichtenerzählen im Wohnzimmer an. Jeden Abend fand es statt, gerade so laut, dass die Anwesenden die Worte verstehen konnten. Vor ihnen allen wurden die Teile des Puzzles zusammengesetzt. Das Bild ergab das Leben eines jüdischen Straßenboxers.

Manchmal lag Humor in Max Vandenburgs Stimme, obwohl ihr Klangkörper beinahe nur aus Reibung bestand, wie ein Stein, der langsam über einen Felsbrocken geschoben wird. Manchmal war sie tief, und manchmal kratzte sie; manchmal brach sie entzwei. In Momenten der Reue klang sie unterirdisch und am Ende eines Scherzes oder in Augenblicken von Selbstverachtung zersplittert.

»Herr Jesus«war der häufigste Kommentar zu Max Vandenburgs Erzählung, meist gefolgt von einer Frage.

FRAGEN WIE DIESE

Wie lange waren Sie in der Vorratskammer? Wo ist Walter Kugler jetzt? Wissen Sie, was mit Ihrer Familie passiert ist? Wohin ist die schnarchende Frau gefahren? Sie haben tatsächlich nur drei von dreizehn Kämpfen gegen Walter gewonnen? Warum haben Sie immer wieder gegen ihn geboxt?

Als Liesel später auf ihr Leben zurückblickte, erschienen ihr diese Nächte im Wohnzimmer am deutlichsten im Gedächtnis. Sie sah noch das brennende Licht auf Max' Eierschalengesicht vor sich und konnte sogar den menschlichen Geschmack seiner Worte auf der Zunge spüren. Die Chronologie seines Überlebens wurde Stück für Stück berichtet, als würde er jeden Teil davon aus sich herausschneiden und ihr auf einem Teller überreichen.

»Ich bin so selbstsüchtig.«

Als er das sagte, bedeckte er mit dem Unterarm sein Gesicht.»Ich lasse meine Lieben zurück Ich komme hierher. Ich bringe alle in Gefahr...«Er ließ alles aus sich herausfallen und fing an zu flehen. Trauer und Verzweiflung waren ihm ins Gesicht genagelt.»Es tut mir leid. Bitte glauben Sie mir. Es tut mir so leid, so leid. Es tut mir...«

Sein Arm berührte das Feuer, und er zuckte zurück.



Поделиться:


Последнее изменение этой страницы: 2016-08-10; просмотров: 140; Нарушение авторского права страницы; Мы поможем в написании вашей работы!

infopedia.su Все материалы представленные на сайте исключительно с целью ознакомления читателями и не преследуют коммерческих целей или нарушение авторских прав. Обратная связь - 3.145.105.105 (0.013 с.)