Ihre ausgezehrte Mutter. Ihren verschwundenen Vater. Kommunisten. Ihren toten Bruder. 


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Ihre ausgezehrte Mutter. Ihren verschwundenen Vater. Kommunisten. Ihren toten Bruder.



»Und jetzt sagen wir Lebewohl zu diesem Unrat, diesem Gift.«

Kurz bevor sich Liesel mit Übelkeit im Magen umdrehte, um der Menge zu entfliehen, trat die Kreatur in der glänzend braunen Uniform vom Podium. Er nahm aus der Hand eines Komplizen eine Fackel entgegen und zündete den Haufen an, der ihn mit seiner gesamten Schuldlast zwergenhaft erscheinen ließ.»Heil Hitler!«

Das Publikum:»Heil Hitler!«

Eine Ansammlung von Männern schritt von einer Plattform und umringte den Haufen, entzündete ihn an unterschiedlichen Stellen, sehr zum Wohlwollen der Menge. Stimmen kletterten über Schultern, dann der Geruch nach reinem deutschen Schweiß, zunächst zögerlich, dann in Strömen. Er umfloss eine Ecke nach der anderen, bis alle darin schwammen. Die Worte. Der Schweiß. Und das Lächeln. Das Lächeln dürfen wir nicht vergessen.

Viele scherzhafte Bemerkungen folgten, und eine weitere»Heil Hitler!«-Welle überkam sie. Wisst ihr, ich frage mich wirklich, ob nicht irgendwann irgendwo beim Hitlergruß jemand einmal ein Auge verloren oder sich die Hand oder den Arm gebrochen hat. Man musste doch bloß zur falschen Zeit in die falsche Richtung schauen oder zu nah vor jemandem stehen. Vielleicht wurden tatsächlich Leute verletzt. Aber ich kann euch aus erster Hand versichern, dass niemand daran starb, jedenfalls nicht körperlich. Da waren natürlich noch die vierzig Millionen Menschen, die ich insgesamt aufgesammelt habe, bis alles vorbei war. Aber zu erklären, wie diese beiden Dinge zusammenhängen, würde hier zu weit führen... Erlaubt mir nun, mich wieder dem Feuer zuzuwenden.

Die orangefarbenen Flammen winkten der Menge zu, als sich Papier und Druckerschwärze in ihrem Innern auflösten. Brennende Worte wurden ihren Sätzen entrissen.

Auf der anderen Seite, jenseits der flackernden Hitze, konnte man die Braunhemden und Hakenkreuze sehen, die sich an den Händen gefasst hatten. Die Menschen sah man nicht. Nur Uniformen und Abzeichen.

Darüber zogen Vögel ihre Runden.

Sie kreisten, wahrscheinlich angezogen von dem Leuchten - bis sie der Hitze zu nahe kamen. Oder den Menschen? Im Vergleich mit ihnen war die Hitze des Feuers nicht der Rede wert.

In ihrem Bemühen zu entkommen wurde sie von einer Stimme eingefangen.»Liesel!«

Sie bahnte sich ihren Weg zu ihr, und Liesel erkannte sie. Es war nicht Rudi, aber sie kannte die Stimme.

Sie befreite sich mit einem Ruck und fand das Gesicht, das zu der Stimme gehörte. O nein. Ludwig Schmeikl. Aber er spottete oder scherzte nicht, wie sie es erwartet hatte; er sprach überhaupt nicht mit ihr. Er zog sie nur zu sich und deutete auf seinen Fußknöchel. Er war in all der Erregung eingequetscht worden und blutete dunkel und drohend durch die Socke. Auf seinem Gesicht unter dem zerzausten blonden Haar lag ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Ein Tier. Kein Reh, das im Scheinwerferlicht gefangen war. Nichts so Typisches oder deutlich Erkennbares. Er war nur irgendein Tier, das inmitten eines Aufruhrs von seiner eigenen Herde verletzt worden war und in Kürze niedergetrampelt werden würde.

Sie half ihm hoch und schleppte ihn an den Rand. Frische Luft.

Sie taumelten zu den Treppenstufen der Kirche. Dort war es nicht ganz so beengt, und sie ruhten sich aus, beide erleichtert.

Atem brach aus Schmeikls Mund hervor. Die Luft rutschte nach unten, seine Kehle hinab. Er brachte Worte zustande.

Er saß da, hielt sich den Fußknöchel und schaute Liesel Meminger ins Gesicht.»Danke«, sagte er, mehr zu ihrem Mund als zu ihren Augen. Noch ein paar Atemklumpen.»Und...«Sie beide sahen die Bilder einer Schulhofhänselei vor sich, gefolgt von einer Schulhofabreibung.»Es tut mir leid - du weißt schon...«

Liesel hörte es wieder.

Kommunisten.

Aber sie entschloss sich, ihre Aufmerksamkeit Ludwig Schmeikl zu widmen.»Mir auch.«

Danach konzentrierten sich beide aufs Atmen, denn es gab nichts mehr zu sagen oder zu tun. Sie hatten alles erledigt.

Der Blutfleck auf Ludwig Schmeikls Knöchel wurde größer.

Ein einziges Wort drängte sich gegen das Mädchen.

Links von ihr jubelte man den Flammen und den brennenden Büchern zu wie Helden.

DIE TÜR ZUM DIEBSTAHL

Sie blieb auf den Treppenstufen und wartete auf Papa, schaute der fliehenden Asche zu und betrachtete die Bücherleichen. Alles war traurig. Orangefarbene und rote Glut sah aus wie verschmähte Bonbons, und die meisten Menschen waren gegangen. Sie hatte Frau Lindner gehen sehen (sehr zufrieden) und Pfiffikus (mit weißen Haaren, einer Nazi-Uniform, den üblichen vergammelten Schuhen und einem triumphierenden Pfeifen). Jetzt wurde nur noch aufgeräumt, und schon bald würde sich niemand mehr vorstellen können, dass dies alles überhaupt passiert war.

Aber man konnte es riechen.

»Hier bist du.«Hans Hubermann kam zum Fuß der Treppe.»Hallo, Papa.«

»Wir wollten uns doch vor dem Rathaus treffen.«

»Entschuldige, Papa.«

Er setzte sich neben sie und halbierte seine Größe auf dem Stein. Dann nahm er eine Strähne von Liesels Haar und schob sie ihr sanft hinters Ohr.»Liesel, was ist los?«

Eine Zeit lang sagte sie gar nichts. Sie stellte Überlegungen an, obwohl sie alles bereits wusste. Ein elfjähriges Mädchen ist vieles, aber nicht dumm.

EINE ADDITION

das Wort»Kommunist«+ ein großes Freudenfeuer + eine Sammlung von toten Briefen + das Leid ihrer Mutter + der Tod ihres Bruders = der Führer

Der Führer.

Er war also das»sie«, über das Hans und Rosa Hubermann an jenem Abend sprachen, als sie das erste Mal an ihre Mutter geschrieben hatte. Sie wusste die Antwort bereits, aber sie musste die Frage dennoch stellen.

»Ist meine Mutter ein Kommunist?«Augen geradeaus.»Sie haben sie immer Sachen gefragt, bevor ich hierherkam.«

Hans rückte ein bisschen nach vorn und erbaute das Fundament einer Lüge.»Ich weiß nicht, ich habe deine Mutter nicht kennengelernt.«

»Hat der Führer sie geholt?«

Die Frage überraschte sie beide, und sie zwang Papa auf die Füße. Er schaute auf die Männer mit den braunen Hemden, die den Ascheberg mit Schaufeln bearbeiteten. Er hörte, wie sie in ihn hineinhackten. Eine weitere Lüge erwuchs in seinem Mund, aber es war ihm nicht möglich, sie hinauszulassen. Er sagte:»Das kann schon sein, ja.«

»Ich wusste es.«Die Worte wurden auf die Stufen geschleudert, und Liesel spürte, wie ein Brei aus Wut heiß in ihrem Bauch brodelte.»Ich hasse den Führer«, sagte sie.»Ich hasse ihn.«

Und Hans Hubermann?

Was sagte er?

Was tat er?

Beugte er sich hinunter und umarmte seine Pflegetochter, wie er es gerne getan hätte? Erklärte er ihr, dass es ihm leid tat, was passiert war?

Nicht im Mindesten.

Er kniff die Augen zusammen. Dann öffnete er sie. Und schlug Liesel Meminger mitten ins Gesicht.

»Sag das nie wieder!«Seine Stimme war leise, aber scharf.

Das zitternde Mädchen sackte auf den Stufen zusammen, und er setzte sich neben sie und verbarg sein Gesicht in den Händen. Es wäre leicht zu behaupten, dass er nur ein großer Mann war, der ungelenk und erschüttert auf den Stufen unterhalb einer Kirche saß, aber so war es nicht. Damals hatte Liesel keine Ahnung, dass ihr Pflegevater Hans Hubermann sich dem gefährlichsten Dilemma gegenübersah, das einem deutschen Bürger begegnen konnte. Nicht nur das - er trug dieses Dilemma schon seit fast einem Jahr mit sich herum.

»Papa?«

Die Überraschung in ihrer Stimme wollte sie vorantreiben, aber gleichzeitig wurde sie davon gelähmt. Sie wollte rennen, aber sie konnte nicht. Sie ertrug es, wenn sie von Nonnen und von Rosa geohrfeigt wurde, aber eine Watschen von Papa tat ungleich mehr weh. Seine Hände hatten sein Gesicht losgelassen, und er fand die Entschlossenheit, erneut zu sprechen.

»Das kannst du bei uns daheim sagen«, flüsterte er und schaute mit ernstem Blick auf Liesels Wange.»Aber sag es niemals auf der Straße, in der Schule oder beim JM. Niemals!«Er stellte sich vor sie hin, presste ihr mit seinen Händen die Oberarme an den Körper und hob sie hoch. Er schüttelte sie.»Hast du mich verstanden?«



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