II.25. Ingeborg Bachmann (1926—1973) 


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II.25. Ingeborg Bachmann (1926—1973)



 

Die Schriftstellerin wurde am 25. 6. 1926 in Klagenfurt (Österreich) geboren. Sie studierte in Innsbruck, Graz und Wien Philosophie, Germanistik und Psychologie. Später promovierte sie über M. Heidegger, den großen deutschen Existenzphilosophen, dessen Gedankenwelt auf die Dichterin nicht ohne einfluss war. Sie gehörte zur „Gruppe 47“. Seit 1953 nach Aufenthalten in Paris und London lebte I. Bachmann in Italien und unternahm von dort aus Reisen in die USA, nach Afrika und Polen. Einige Zeit lebte sie in München und Berlin. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie wieder in Rom, wo sie am 17. Oktober 1973 sterben sollte. Eine enge und schwierige Liebesbeziehung verband sie mit Max Frisch, einem prominenten Schweizer Schriftsteller. In ihren Studentenjahren war sie in Paul Celan verliebt. Für ihre literarischen Leistungen wurde sie mehr als ein Mal ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Gruppe 47, mit dem Bremer Literaturpreis (1957), mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden (1958), mit dem Büchner-Preis (1964), mit dem Großem Österreichischem Staatspreis (1968), mit dem Anton-Wildgans-Preis (1971). Seit 1957 war sie außerordentliches Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung.1971 wurde sie Mitglied der Akademie der Künste Berlin. Ihr zu Ehren wird seit 1977 der Ingeborg-Bachmann-Preis jährlich auf dem Klagenfurter Literaturwettbewerb verliehen.

Die Lyrik der Dichterin kennzeichnet dichte Mettaphorik im Geiste des Symbolismus und existentielle Thematik. Man darf aber nicht vergessen, dass sie sich in nahezu allen literarischen Gattungen versuchte. Ihre Leistungen auf dem Gebiet des Hörspiels sind allgemein bekannt und anerkannt, besonders wichtig sind ihre „Die Zikaden“ (1955) und „Der gute Gott von Manhattan“ (1958).

Bekannt machte sich Ingeborg Bachmann auch als Verfasserin von Librettis „Der Prinz von Homburg“ (1960) und „Der junge Lord“ (1965). Das letztere Werk geht auf Wilhelm Hauffs Parabel vom „jungen Engländer“ zurück.

Ihre besten und bekanntesten Gedichtbücher sind „Die gestundete Zeit“ (1953) und „Anrufung des großen Bären“ (1956). Das erstere tendiert zum Abstrakten, es ist freirhythmische Gedankenlyrik, deren einheitstiftendes Motiv Gegensatz von Vergänglichkeit und Dauer ist. Einer der Hauptgedanken dieses Lyrikbandes ist, dass die menschliche Zeit „gestundet“ sei. Im anderen ist ebenfalls gebundene Versform verwendet. Beide Lyrikbände zeichnen sich durch originale Diktion, einen eigenen Ton aus. Trotz gelegentlicher Verschlüsselung und Hermetik bezwingen die meisten Texte die Leser durch ihre Sprachgewalt und musikalische Rhythmik. Manche Gedichte klingen schwermütig-elegisch, wenn es um die existentielle Situation der durch den Krieg bedrohten und betrogenen Jugend geht, der die Gottheit, die Geschichte ein Grab bestellt hätten, aus dem es keine Auferstehung gebe. In vielen Texten wird aber die klagende Melancholie überwunden, die Dichterin steht ihrer Zeit völlig illusionslos gegenüber, wenn sie verkündet: „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden“. Und in Aussicht stellt die Lyrikerin noch mehr Schwierigkeiten: „Es kommen härtere Tage“. Ihr hymnischer Text „An die Sonne“, den die Literaturkritiker und Historiker zum Bleibenden rechnen, enthält einen optimistischen, lebensfrohen Gedanken darüber, dass es „nichts Schöneres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein“ gebe. Als beste Gedichte der Lyrikerin gelten unter den Literaturwissenschaftlern und Lesern „Lieder von einer Insel“, „Das Spiel ist aus“, „Römisches Nachtbild, „Schwarzer Walzer“ und „Harlem“.

1971 wartete Ingeborg Bachmann mit dem Roman „Malina“ auf, dem ersten Teil der Fragment gebliebenen Romantrilogie „Todesarten“. Historischer Hintergrund dieses Prosawerkes sollte Österreich zu Zeiten des Imperiums und der Republik sein. Der Einfluss Robert Musils auf das Werk ist unverkennbar. Die Autorin kannte sehr gut den Schrifsteller Musil und seinen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, über den sie 1954 einen Essay veröffentlichte.

 

 

Undine geht

 

Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer!

Ihr Ungeheuer mit Namen Hans! Mit diesem Namen, den ich nie vergessen kann.

 

Immer wenn ich durch die Lichtung kam und die Zweige sich öffneten, wenn die Ruten mir das Wasser von den Armen schlugen, die Blätter mir die Tropfen von den Haaren leckten, traf ich auf einen, der Hans hieß.

 

Ja, diese Logik habe ich gelernt, dass einer Hans heißén muss, dass ihr alle so heißt, einer wie der andere, aber doch nur einer. Immer einer nur ist es, der diesen Namen trägt, den ich nicht vergessen kann, und wenn ich euch auch alle vergesse, ganz und gar vergesse, wie ich euch ganz geliebt habe. Und wenn eure Küsse und euer Samen von den vielen großen Wassern – Regen, Flüssen, Meeren – längst abgewaschen und fortgeschwemmt sind, dann ist doch der Name noch da, der sich fortpflanzt unter Wasser, weil ich nicht aufhören kann, ihn zu rufen, Hans, Hans...

Ihr Monstren mit den festen und unruhigen Händen, mit den kurzen, blassen Nägeln, den zerschürften Nägeln mit schwarzen Rändern, den weißen Manschetten um die Handgelenke, den ausgefransten Pullovern, den uniformen grauen Anzügen, den groben Lederjacken und den losen Sommerhänden! Aber lasst mich genau sein, ihr Ungeheuer, und euch jetzt einmal verächtlich machen, denn ich werde nicht wiederkommen, euren Winken nicht mehr folgen, keiner Einladung zu einem Glas Wein, zu einer Reise, zu einem Theaterbesuch. Ich werde nie wiederkommen, nie wieder Ja sagen und Du und Ja. All diese Worte wird es nicht mehr geben, und ich sage auch vielleicht, warum. Denn ihr kennt doch die Fragen, und sie beginnen alle mit „Warum?“ Es gibt keine Fragen in meinem Leben. Ich liebe das Wasser, seine dichte Durchsichtigkeit, das Grün im Wasser und die sprachlosen Geschöpfe (und so sprachlos bin auch ich bald!), mein Haar unter ihnen, in ihm, dem gerechten Wasser, dem gleichgültigen Spiegel, der es mir verbietet, euch anders zu sehen. Die nasse Grenze zwischen mir und mir...

 

Ich habe keine Kinder von euch, weil ich keine Fragen gekannt habe, keine Forderung, keine Vorsicht, Absicht, keine Zukunft und nicht wusste, wie man Platz nimmt in einem anderen Leben. Ich habe keinen Unterhalt gebraucht, keine Beteuerung und Versicherung, nur Luft, Nachtluft, Küstenluft, Grenzluft, um immer wieder Atem holen zu können für neue Worte, neue Küsse, für ein unaufhörliches Geständnis: Ja, Ja. Wenn das Geständnis abgelegt war, war ich verurteilt zu lieben; wenn ich eines Tages freikam aus der Liebe, musste ich zurück ins Wasser gehen, in dieses Element, in dem niemand sich ein Nest baut, sich ein Dach aufzieht über Balken, sich bedeckt mit einer Plane. Nirgendwo sein, nirgendwo bleiben. Tauchen, ruhen, sich ohne Aufwand von Kraft bewegen – und eines Tages sich besinnen, wieder auftauchen, durch eine Lichtung gehen, ihn sehen und „Hans“ sagen. Mit dem Anfang beginnen.

„Guten Abend.“

„Guten Abend.“

„Wie weit ist es zu dir?“

„Weis ist es, weit.“

„Und weit ist es zu mir.“

 

Einen Fehler immer wiederholen, den einen machen, mit dem man ausgezeichnet ist. Und was hilft`s dann, mit allen Wassern gewaschen zu sein, mit den Wassern der Donau und des Rheins, mit denen des Tiber und des Nils, den hellen Wassern der Eismeere, den tintigen Wassern der Hochsee und der zaubrischen Tümpel? Die heftigen Menschenfrauen lassen still ein paar Tränen laufen, die tun auch ihr Werk. Aber die Männer schweigen dazu. Fahren ihren Frauen, ihren Kindern treulich übers Haar, schlagen die Zeitung auf, sehen die Rechnungen durch oder drehen das Radio laut auf und hören doch darüber den Muschelton, die Windfanfare, und dann noch einmal, später, wenn es dunkel ist in den Häusern, erheben sie sich heimlich, öffnen die Tür, lauschen den Gang hinunter, in den Garten, die Alleen hinunter, und nun hören sie es ganz deutlich: Den Schmerzton, den Ruf von weit her, die geisterhafte Musik. Komm! Komm! Nur einmal komm!

 

Ihr Ungeheuer mit euren Frauen!

Hast du nicht gesagt: Es ist die Hölle, und warum ich bei ihr bleibe, das wird keiner verstehen. Hast du nicht gesagt: Meine Frau, ja, sie ist ein wunderbarer Mensch, ja, sie braucht mich, wüsste nicht, wie ohne mich leben -? Hast du`s nicht gesagt! Und hast du nicht gelacht und im Übermut gesagt: Niemals schwer nehmen, nie dergleichen schwer nehmen. Hast du nicht gesagt: So soll es immer sein, und das andere soll nicht sein, ist ohne Gültigkeit! Ihr Ungeheuer mit euren Redensarten, die ihr die Redensarten der Frauen sucht, damit euch nichts fehlt, damit die Welt rund ist. Die ihr die Frauen zu euren Geliebten und Frauen macht, Eintagsfrauen, Wochenendfrauen, Lebenslangfrauen und euch zu ihren Männern machen lässt. (Das ist vielleicht ein Erwachen wert!) Ihr mit eurer Eifersucht auf eure Frauen, mit eurer hochmütigen Nachsicht und eurer Tyrannei, eurem Schutzsuchen bei euren Frauen, ihr mit eurem Wirtschaftsgeld und euren gemeinsamen Gutenachtgesprächen, diesen Stärkungen, dem Rechtbehalten gegen draußen, ihr mit euren hilflos gekonnten, hilflos zerstreuten Umarmungen. Das hat mich zum Staunen gebracht, dass ihr euren Frauen Geld gebt zum Einkaufen und für die Kleider und für die Sommerreise, da ladet ihr sie ein (ladet sie ein, zahlt, es versteht sich). Ihr kauft und lässt euch kaufen. Über euch muss ich lachen und staunen, Hans, Hans, über euch kleine Studenten und brave Arbeiter, die ihr euch Frauen nehmt zum Mitarbeiten, da arbeitet ihr beide, jeder wird klüger an einer anderen Fakultät, jeder kommt voran in einer anderen Fabrik, da strengt ihr euch an, legt das Geld zusammen und spannt euch vor die Zukunft. Ja, dazu nehmt ihr euch die Frauen auch, damit ihr die Zukunft erhärtet, damit sie Kinder kriegen, da werdet ihr mild, wenn sie furchtsam und glücklich herumgehen mit den Kindern in ihrem Leib. Oder ihr verbietet euren Frauen, Kinder zu haben, wollt ungestört sein und hastet ins Alter mit eurer gesparten Jugend. O das wäre ein großes Erwachen wert! Ihr Betrüger und ihr Betrogenen! Versucht das nicht mit mir. Mit mir nicht!

Ihr mit euren Musen und Tragtieren und euren gelehrten, verständigen Gefährtinnen, die ihr zum Reden zulasst... Mein Gelächter hat lang die Wasser bewegt, ein gurgelndes Gelächter, das ihr manchmal nachgeahmt habt mit Schrecken in der Nacht. Denn gewusst habt ihr immer, dass es zum Lachen ist und zum Erschrecken und dass ihr euch genug seid und nie einverstanden wart. Darum ist es besser, nicht aufzustehen in der Nacht, nicht den Gang hinunterzugehen, nicht zu lauschen im Hof, nicht im Garten, denn es wäre nichts als das Eingeständnis, dass man noch mehr als durch alles andere verführbar ist durch einen Schmerzton, den Klang, die Lockung und ihn ersehnt, den großen Verrat. Nie wart ihr mit euch einverstanden. Nie mit euren Häusern, all dem Festgelegten. Über jeden Ziegel, der fortflog, über jeden Zusammenbruch, der sich ankündigte, wart ihr froh insgeheim. Gern habt ihr gespielt mit dem Gedanken an Fiasko, an Flucht, an Schande, an die Einsamkeit, die euch erlöst hätten von allem Bestehenden. Zu gern habt ihr in Gedanken damit gespielt. Wenn ich kam, wenn ein Windhauch mich ankündigte, dann sprangt ihr auf und wusstet, dass die Stunde nah war, die Schande, die Ausstoßung, das Verderben, das Unverständliche. Ruf zum Ende. Ihr Ungeheuer, dafür habe ich euch geliebt, dass ihr wusstet, was der Ruf bedeutet, dass ihr euch rufen ließt, dass ihr nie einverstanden wart mit euch selber. Und ich, wann war ich je einverstanden? Wenn ihr allein wart, ganz allein, und wenn eure Gedanken nichts Nützliches dachten, nichts Brauchbares, wenn die Lampe das Zimmer versorgte, die Lichtung entstand, feucht und rauchig der Raum war, wenn ihr so dastandet, verloren, für immer verloren, aus Einsicht verloren, dann war es Zeit für mich. Ich konnte eintreten mit dem Blick, der auffordert: Denk! Sei! Sprich es aus! – Ich habe euch nie verstanden, während ihr euch von jedem Dritten verstanden wusstet. Ich habe gesagt: Ich verstehe dich nicht, verstehe nicht, kann nicht verstehen! Das währte eine herrliche und große Weile lang, dass ihr nicht verstanden wurdet und selbst nicht verstandet, nicht warum dies und das, warum Grenzen und Politik und Zeitungen und Banken und Börse und Handel und dies immerfort.

Denn ich habe die feine Politik verstanden, eure Ideen, eure Gesinnungen, Meinungen, die habe ich sehr wohl verstanden und noch etwas mehr. Eben darum verstand ich nicht. Ich habe die Konferenzen so vollkommen verstanden, eure Drohungen, Beweisführungen, Verschanzungen, dass sie nicht mehr zu verstehen waren. Und das war es ja, was euch bewegte, die Unverständlichkeit all dessen. Denn das war eure wirkliche große verborgene Idee von der Welt, und ich habe eure große Idee hervorgezaubert aus euch, eure unpraktische Idee, in der Zeit und Tod erschienen und flammten, alles niederbrannten, die Ordnung, von Verbrechen bemäntelt, die Nacht, zum Schlaf missbraucht. Eure Frauen, krank von eurer Gegenwart, eure Kinder, von euch zur Zukunft verdammt, die haben euch nicht den Tod gelehrt, sondern nur beigebracht kleinweise. Aber ich habe euch mit einem Blick gelehrt, wenn alles vollkommen, hell und rasend war – ich habe euch gesagt: Es ist Tod darin. Und: Es ist die Zeit daran. Und zugleich: Geh Tod! Und: Steh still, Zeit! Das habe ich euch gesagt. Und du hast geredet, mein Geliebter, mit einer verlangsamten Stimme, vollkommen wahr und gerettet, von allem dazwischen frei, hast deinen traurigen Geist hervorgekehrt, den traurigen, großen, der wie der Geist aller Männer ist und von der Art, die zu keinem Gebrauch bestimmt ist. Weil ich zu keinem Gebrauch bestimmt bin und ihr euch nicht zu einem Gebrauch bestimmt wusstet, war alles gut zwischen uns. Wir liebten einander. Wir waren vom gleichen Geist.

 

Ich habe einen Mann gekannt, der hieß Hans, und er war anders als alle anderen. Noch einen kannte ich, der war auch anders als alle anderen. Dann einen, der war ganz anders als alle anderen und er hieß Hans, ich liebte ihn. In der Lichtung traf ich ihn, und wir gingen so fort, ohne Richtung, im Donauland war es, er fuhr mit mir Riesenrad, im Schwarzwald war es, unter Platanen auf den großen Boulevards, er trank mit mir Pernod. Ich liebte ihn. Wir standen auf einem Nordbahnhof, und der Zug ging vor Mitternacht. Ich winkte nicht: Ich machte mit der Hand ein Zeichen für Ende. Für das Ende, das kein Ende findet. Es war nie zu Ende. Man soll ruhig das Zeichen machen. Es ist kein trauriges Zeichen, es umflort die Bahnhöfe und Fernstraßen nicht, weniger als das täuschende Winken, mit dem so viel zu Ende geht. Geh, Tod, und steh still, Zeit. Keinen Zauber nutzen, keine Tränen, kein Handverschlingen, keine Schwüre, Bitten. Nichts von allem. Das Gebot ist: Sich verlassen, dass Augen den Augen genügen, dass ein Grün genügt, dass das Leichteste genügt. So dem Gesetz gehorchen und keinem Gefühl. So der Einsamkeit gehorchen. Einsamkeit, in die mir keiner folgt.

 

Verstehst du es wohl? Deine Einsamkeit werde ich nie teilen, weil da die meine ist, von länger her, noch lange hin. Ich bin nicht gemacht, um eure Sorgen zu teilen. Diese Sorgen nicht! Wie könnte ich sie je anerkennen, ohne mein Gesetz zu verraten? Wie könnte ich je an die Wichtigkeit eurer Verstrickungen glauben? Wie euch glauben, solange ich euch wirklich glaube, ganz und gar glaube, dass ihr mehr seid als eure schwachen eitlen Äußerungen, eure schäbigen Handlungen, eure törichten Verdächtigungen. Ich habe immer geglaubt, dass ihr mehr seid, Ritter, Abgott, von einer Seele nicht weit, der allerköniglichen Namen würdig. Wenn dir nichts mehr einfiel zu deinem Leben, dann hast du ganz wahr geredet, aber auch nur dann. Dann sind alle Wasser über die Ufer getreten, die Flüsse haben sich erhoben, die Seerosen sind gleich hundertweis erblüht und ertrunken, und das Meer war ein machtvoller Seufzer, es schlug, schlug und rannte und rollte gegen die Erde an, dass seine Lefzen (губы животных) trieften von weißem Schaum.

 

Verräter! Wenn euch nichts mehr half, dann half die Schmähung. Dann wusstet ihr plötzlich, was euch an mir verdächtig war, Wasser und Schleier und was sich nicht festlegen lässt. Dann war ich plötzlich eine Gefahr, die ihr noch rechtzeitig erkanntet, und verwünscht war ich und bereut war alles im Handumdrehen. Bereut habt ihr auf den Kirchenbänken, vor euren Frauen, euren Kindern, eurer Öffentlichkeit. Vor euren großen, großen Instanzen wart ihr so tapfer, mich zu bereuen und all das zu befestigen, was in euch unsicher geworden war. Ihr wart in Sicherheit. Ihr habt die Altäre rasch aufgerichtet und mich zum Opfer gebracht. Hat mein Blut geschmeckt? Hat es ein wenig nach dem Blut der Hindin (поэтич. олениха) geschmeckt und nach dem Blut des weißen Wales? Nach deren Sprachlosigkeit?

Wohl euch! Ihr werdet viel geliebt, und es wird euch viel verziehen. Doch vergesst nicht, dass ihr mich gerufen habt in die Welt, dass euch geträumt hat von mir, der anderen, dem anderen, von eurem Geist und nicht von eurer Gestalt, der Unbekannten, die auf euren Hochzeiten den Klageruf anstimmt, auf nassen Füßen kommt und von deren Kuss ihr zu sterben fürchtet, so wie ihr zu sterben wünscht und nie mehr sterbt: ordnungslos, hingerissen und von höchster Vernunft.

Warum sollt ich`s nicht aussprechen, euch verächtlich machen, ehe ich gehe.

Ich gehe ja schon.

Denn ich habe euch noch einmal wiedergesehen, in einer Sprache reden gehört, die ihr mit mir nicht reden sollt. Mein Gedächtnis ist unmenschlich. An alles habe ich denken müssen, an jeden Verrat und jede Niedrigkeit. An denselben Orten habe ich euch wiedergesehen; da schienen mir Schandorte zu sein, wo einmal helle Orte waren. Was habt ihr getan! Still war ich, kein Wort habe ich gesagt. Ihr sollt es euch selber sagen. Eine Handvoll Wasser habe ich über die Orte gesprengt, damit sie grünen mögen wie Gräber. Damit sie zuletzt hell bleiben mögen.

Aber so kann ich nicht gehen. Darum lasst mich euch noch einmal Gutes nachsagen, damit nicht so geschieden wird. Damit nichts geschieden wird.

Gut war trotzdem euer Reden, euer Umherirren, euer Eifer und euer Verzicht auf die ganze Wahrheit, damit die halbe gesagt wird, damit Licht auf die eine Hälfte der Welt fällt, die ihr gerade noch wahrnehmen könnt in eurem Eifer. So mutig wart ihr und mutig gegen die anderen – und fertig natürlich auch und oft mutig, damit ihr nicht feige erscheint. Wenn ihr das Unheil von dem Streit kommen saht, strittet ihr dennoch weiter und beharrtet auf einem Wort, obwohl euch kein Gewinn davon wurde. Gegen ein Eigentum und für ein Eigentum habt ihr gestritten, für die Gewaltlosigkeit und für die Waffen, für das Neue und für das Alte, für die Flüsse und für die Flussregulierung, für den Schwur und gegen das Schwören. Und wisst doch, dass ihr gegen euer Schweigen eifert und eifert trotzdem weiter. Das ist vielleicht zu loben.

In euren schwerfälligen Körpern ist eure Zartheit zu loben. Etwas so besonders Zartes erscheint, wenn ihr einen Gefallen erweist, etwas Mildes tut. Viel zarter als alles Zarte von euren Frauen ist eure Zartheit, wenn ihr euer Wort gebt oder jemand anhört und versteht. Eure schweren Körper sitzen da, aber ihr seid ganz schwerelos, und eine Traurigkeit, ein Lächeln von euch können so sein, dass selbst der bodenlose Verdacht eurer Freunde einen Augenblick lang ohne Nahrung ist.

Zu loben sind eure Hände, wenn ihr zerbrechliche Dinge in die Hand nehmt, sie schont und zu erhalten wisst, und wenn ihr die Lasten tragt und das Schwere aus dem Weg räumt. Und gut ist es, wenn ihr die Körper der Menschen und der Tiere behandelt und ganz vorsichtig einen Schmerz aus der Welt schafft. So Begrenztes kommt von euren Händen, aber manches Gute, das für euch entstehen wird.

Zu bewundern ist auch, wenn ihr euch über Motoren und Maschinen beugt, sie macht und versteht und erklärt, bis vor lauter Erklärungen wieder ein Geheimes daraus geworden ist. Hast du nicht gesagt, es sei dieses Prinzip und jene Kraft? War das nicht gut und schön gesagt? Nie wird jemand wieder so sprechen können von den Strömen und Kräften, den Magneten und Mechaniken und von den Kernen aller Dinge.

Nie wird jemand wieder so sprechen von den Elementen, vom Universum und allen Gestirnen.

Nie hat jemand so von der Erde gesprochen, von ihrer Gestalt, ihren Zeitaltern. In deinen Reden war alles so deutlich: die Kristalle, die Vulkane und Aschen, das Eis und die Innenglut.

So hat niemand von den Menschen gesprochen, von den Bedingungen, unter denen sie leben, von ihren Hörigkeiten, Gütern, Ideen, von den Menschen auf dieser Erde, auf einer früheren und einer künftigen Erde. Es war recht, so zu sprechen und so viel zu bedenken.

Nie war so viel Zauber über den Gegenständen, wie wenn du geredet hast, und nie waren Worte so überlegen. Auch aufbegehren konnte die Sprache durch dich, irre werden oder mächtig werden. Alles hast du mit den Worten und Sätzen gemacht, hast dich verständigt mit ihnen oder hast sie gewandelt, hast etwas neu benannt; und die Gegenstände, die weder die geraden noch die ungeraden Worte verstehen, bewegten sich beinahe davon.

Ach, so gut spielen konnte niemand, ihr Ungeheuer! Alle Spiele habt ihr erfunden, Zahlenspiele und Wortspiele, Traumspiele und Liebesspiele.

 

Nie hat jemand so von sich selber gesprochen. Beinahe wahr. Beinahe mörderisch wahr. Übers Wasser gebeugt, beinah aufgegeben. Die Welt ist schon finster, und ich kann die Muschelkette nicht anlegen. Keine Lichtung wird sein. Du anders als die anderen. Ich bin unter Wasser. Bin unter Wasser.

 

Und nun geht einer oben und hasst Wasser und hasst Grün und versteht nicht, wird nie verstehen. Wie ich nie verstanden habe.

Beinahe verstummt,

beinahe noch

den Ruf

hörend.

 

Komm. Nur einmal.

Komm.

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

I.

1. Was wissen Sie von der feministischen Literatur? Was prägt sie? Aggressivität?

2. Wo entdecken Sie hier das Gender-Thema?

3. Gibt es in diesem Text existentialistische Ideen? Wo zeigen sie sich?

4. Macht sich im Text der Einfluss Martin Heideggers bemerkbar?

5. Wer ist Undine in der deutschsprachigen Folklore?

6. Was wissen Sie von der „Undine“ Hofmanns und de la Motte-Fouques?

7. Deuten Sie den Titel „Undine geht“:

8. Bestimmen Sie gattungs- und genremäßige Merkmale des Textes.

9. Ist dieser Text eine Erzählung, Novelle, Parabel oder ein Märchen?

10. Formulieren Sie das Thema und bestimmen Sie die Problematik des Gelesenen. 11. Welcherart Konflikte stehen hier im Mittelpunkt? Werden hier ethische Probleme gestellt? (Moral, Unmoral, Ehrlichkeit, Treue, Güte, Bosheit, Nützlichkeit?).

12. Von welchem Pathos kann hier die Rede sein? (dramatisch, romantisch, sentimental, ironisch?)

13. Bestimmen Sie die Funktion und die Position (point of view) des Erzählers sowie die Erzählperspektive des Textes.

14. Welcherart Erzählhaltung überwiegt in diesem Text?

15. Bestimmen Sie die Komposition des Sujets und dessen Komponenten.

16. Verfolgen Sie die Dynamik des Sujets und dessen Peripetien.

17. Bestimmen Sie den Chronotop (die Zeit- und Raumverhältnisse) im Text.

18. Was können Sie vom Komprimieren und Retardieren des Handlungsverlaufs in diesem Text sagen?

19. Wie sieht hier die äußere und innere Gliederung des Textes aus? 20. Bestimmen Sie die Funktion der Motive der Liebe und der Einsamkeit, des Todes und des Spiels sowie der Wahrheit, Natur und Sprache.

21. Wie sind im Text die Figuren systematisiert? Was kann man von deren Konstellation sagen?

22. Gliedern Sie das Sujet in thematische Kompositionseinheiten.

23. Welche Darstellungsarten entsprechen diesen Gliederungselementen?

24. Welche Arten der Rededarstellung setzt die Autorin im Text ein?

25. Welche Besonderheiten weist die Interpunktion im Text auf?

II.

1. Was können Sie von den Stilmitteln in diesem Text sagen?

2. Welcherart Satzstrukturen überwiegen im Text?

3. Wie wirkt der Satzbau auf den Rhythmus des Textes ein? 4. Welche Funktionen üben im Text verschiedenartige Wiederholungen und Aufzählungen sowie Wortstellungen aus?

5. Welche Tropen setzt die Autorin im Text ein, um die Bild- und Aussagekraft des Textes zu steigern?

 

Anrufung des großen Bären

 

Großer Bär, komm herab, zottige Nacht,

Wolkenpelztier mit den alten Augen,

Sternenaugen,

durch das Dickicht brechen schimmernd

deine Pfoten mit Krallen,

Sternenkrallen,

wachsam halten wir die Herden,

doch gebannt von dir, und misstrauen

deinen müden Flanken und den scharfen

halbentblößten Zähnen,

alter Bär.

 

Ein Zapfen: eure Welt.

Ihr: die Schuppen dran.

Ich treib sie, roll sie

von den Tannen im Anfang

zu den Tannen am Ende,

schnaub sie an, prüf sie im Maul

und pack zu mit den Tatzen.

 

Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht!

Zahlt in den Klingelbeutel und gebt

Dem blinden Mann ein gutes Wort,

dass er den Bären an der Leine hält.

Und würzt die Lämmer gut.

 

‘s könnt sein, dass dieser Bär

sich losreißt, nicht mehr droht

und alle Zapfen jagt, die von den Tannen

gefallen sind, den großen, geflügelten,

die aus dem Paradiese stürzen.

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

 

I.

1. Zu welchem Genre würden Sie das Gedicht zählen?

2. Ist das Gedicht in Blankversen oder in freien Rhythmen geschrieben?

3.Formulieren Sie die Hautidee des Gedichtes.

4. Welche Motive werden in dem Gedicht gestaltet?

5. Zu welcher Literaturrichtung gehört das Gedicht?

6. Welche weltanschaulichen Tendenzen treten im Gedicht deutlich hervor?

II.

1. Analysieren Sie das Gedicht aus stilistischer Sicht. 2. Welche Mittel der Bildkraft werden hier verwendet?

3. Welche syntaktischen Strukturen werden im Gedicht bevorzugt?

4. Wie ist es im Gedicht um die Metaphorik bestellt?

 

 

Interpretieren Sie folgende Aussagen:

 

Nie war so viel Zauber über den Gegenständen, wie wenn du geredet hast, und nie waren Worte so überlegen. Auch aufbegehren konnte die Sprache durch dich, irre werden oder mächtig werden. Alles hast du mit Worten und Sätzen gemacht, hast dich verständigt mit ihnen oder hast sie gewandelt, hast etwas neu benannt; und die Gegenstände, die weder die geraden noch die ungeraden Worte verstehen, bewegen sich beinahe davon.

 

Beim gegenwärtigen Literaturzustand ist durch Konversation mehr zu erreichen als durch Publikation.

Hugo von Hofmannsthal

 



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