II.3. Friedrich Nietzsche (1844—1900) 


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II.3. Friedrich Nietzsche (1844—1900)



Einer der geistigen Väter der deutschen Dekadenz. Wurde 1844 als Pfahrerssohn geboren. Der zukünftige Dichter und Denker studierte in Leipzig. Wirkte als Professor der klassischen Philologie an der Universität Basel. Aus gesundheitlichen Gründen musste er aber sein Amt 1879 aufgeben. Er fühlte sich heimatlos und verlassen. Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte der Dichter in geistiger Umnachtung und verstarb 1900 in Weimar.

Pessimistisch verkündete er als erster am Ende des neunzehnten Jahrhunderts das Ende eines großen Weltalters:“Gott ist tot... Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden? Hören wir nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben?“ F. Nietzsche sprach von der Situation, in welcher es galt, einen „Versuch der Umwertung aller Werte“ zu wagen. Nihilismus war nach seiner Vorstellung die einzige Möglichkeit, zu der Bejahung eines neuen Lebens zu durchzudringen. Er schrieb: „Und wisst ihr, was mir die Welt ist?... Ein Ungeheuer von Kraft ohne Anfang, ohne Ende, eine feste eherne Größe von Kraft... vom Nichts umschlossen als von seiner Grenze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts unendlich Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raum, der irgendwo leer wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel der Kräfte und Kraftwillen zugleich, Eines und Vieles, hier sich häufend und dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kraft, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner Gestaltungen aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus ins Glühendste, Wildeste, sich selber Widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum einfachen, aus dem Spiel des Widerspruchs zurück bis zur Lust des Einklangs sich selber bejahend noch in der Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muss, als ein Werden, das kein Sattwerden,keinen Überdruss, keine Müdigkeit kennt...“.

Im ersten Teil des vorliegenden Lehrbehelfs wurde über die „Lebensphilosophie“ Friedrich Nietzsches ziemlich viel mitgeteilt. Dass er auch Lyriker, nicht nur Denker war, wurde ebenfalls angedeutet. Man darf dabei nicht aus den Augen verlieren, dass seine Lyrik mit seinem philosophischen Denken aufs engste verbunden war, dies zeigen ganz eindeutig die unten angeführten lyrischen Texte.

 

 

Heiterkeit, güldene, komm!

Du des Todes

Heimlichster, süßester Vorgenuss!

- Lief ich zu rasch meines Wegs?

Jetzt erst, wo der Fuß müde ward,

Holt dein Blick mich noch ein,

Holt dein Glück mich noch ein.

 

Rings nur Welle und Spiel.

Was je schwer war,

Sank in blaue Vergessenheit –

Müßig steht nun mein Kahn.

Sturm und Fahrt – wie verlernt’ er das!

Wunsch und Hoffen ertrank,

Glatt liegt Seele und Meer.

 

Siebente Einsamkeit!

Nie empfand ich

Näher mir süße Sicherheit,

Wärmer der Sonne Blick.

- Glüht nicht das Eis meiner Gipfel noch?

Silbern, leicht, ein Fisch,

Schwimmt nun mein Nachen hinaus...

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

 

I.

1. Was wissen Sie von Leben und Schaffen des Philosophen und Dichters?

2. Was war Nietzsche für die Dichter, die sich gegen die Verflachung und Nivellierung in allem wandten und um den „neuen Gott“ rangen?

3. Was verleiht diesem Gedicht einen erhabenen hymnischen Ton?

4. Finden Sie die Pointe im Text.

5. Wovon zeugt die Sprachkunst des Autors dieses Gedichtes?

6. Welche Ideen und Motive enthält das vorliegende Gedicht?

7. Was kann man vom Verhältnis von Vers und Satz im Gedicht sagen?

8. Analysieren Sie die Form dieses lyrischen Werkes: die Komposition und die Versstruktur, die lyrische Sprechweise.

9. Welcherart Verse verwendet der Autor in seinem Gedicht?

II.

1. Bestimmen Sie die Satzlänge im Gedicht und deren Wirkung auf den Rhythmus.

2. Welchen Eindruck hat auf Sie die Wortwahl im Gedicht gemacht?

3. Worin besteht die faszinierende Bildkraft dieses Textes?

4. Finden Sie im Text die auffälligsten Stilmittel.

5. Nehmen Sie Stellung zu unerwarteten, sehr individuellen Epitheta.

 

Ecce homo

Ja, ich weiß, woher ich stamme!

Ungesättigt gleich der Flamme

Glühe und verzehr ich mich.

Licht wird alles, was ich fasse,

Kohle alles, was ich lasse:

Flamme bin ich sicherlich!

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

I.

1. Welche Weltanschauung liegt diesem programmatischen Gedicht zugrunde?

2. Welcherart Menschen- und Lebensideal wird darin gezeichnet?

3. Enthält dieses Gedicht einige Anklänge an das berühmte klassische Gedicht Goethes „Selige Sehnsucht“? Worin zeigt sich das?

4. Was können sie von der Struktur dieses Gedichtes sagen?

5. Welches Reimschema und Metrum verwendet der Autor in seinem Gedicht?

6. Welche lyrische Sprechweise setzt hier der Dichter ein?

7. Bestimmen Sie das Verhältnis von Vers und Satz im Text.

II.

1.Welche Stilmittel verwendet hier der Dichter, um seine „Lebensphilosophie“

zum Ausdruck zu bringen?

2. Welche Motive wirken im Gedicht am stärksten und eindringlichsten?

3. Bestimmen Sie die Funktion der Metaphorik im Gedicht.

Das trunkene Lied

O Mensch! Gib acht!

Was spricht die tiefe Mitternacht?

„Ich schlief, ich schlief--,

Aus tiefem Traum bin ich erwacht:--

Die Welt ist tief,

Und tiefer als der Tag gedacht,

Tief ist ihr Weh--,

Lust – tiefer noch als Herzeleid:

Weh spricht-- Vergeh!

Doch alle Lust will Ewigkeit--,

Will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

I.

1. Welches Lebensgefühl durchdringt dieses Gedicht Nietzsches?

2. Was wissen Sie vom apollinischen und dionysischen Lebensprinzip, das als eines der Grundsteine der Philosophie Friedrich Nietzsches bekannt ist?

3. Charakterisieren Sie die Struktur dieses Gedichtes, dessen Rhythmik und Metrik sowie das Reimschema, die Qualität der Reime sowie das Verhältnis von Vers und Satz.

II.

1. Was halten Sie von der Satzstruktur im Gedicht?

2. Was können sie von der Funktion der verwendeten Stilmittel sagen?

3. Welche Rolle spielt im Text die Wortwahl?

 

Sils-Maria

 

Hier saß ich, wartend, wartend,--doch auf nichts,

Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts

Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,

Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.

 

Da, plötzlich, Freundin! Wurde eins zu Zwei—

Und Zarathustra ging an mir vorbei…

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

I.

1. Welche Bedeutung hat der Titel im Gedicht?

2. Was bedeutet die Wortverbindung „jenseits von Gut und Böse“?

3. Kennen sie das berüchtigte Buch von Nietzsche „Jenseits von Gut und Böse“ und wissen Sie, wovon es handelt?

4. Worauf spielt das Motiv „Zarathustra“ an?

5- Welches Thema bestimmt den Inhalt des Gedichts?

6. Welches Reimschema verwendet im Gedicht der Autor?

7. Nennen Sie das Hauptthema und die wichtigsten Motive im Gedicht.

8. Wodurch charakterisiert sich das Verhältnis von Vers und Satz im Text?

9. Was können Sie von der Qualität der Reime im Gedicht sagen, von dessen Rhythmus und Metrik?

II.

1. Was können Sie von der Satzstruktur und Wortwahl im Gedicht sagen?

2. Welche Stilmittel beeindrucken Sie am stärksten?

 

II.4. Adam Karrillon (1853—1938)

Wurde 1853 in Waldmichelbach im Odenwald geboren. 1938 starb er in Wiesbaden. Karrillon war der erste Schriftsteller, der 1923 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Er war Landarzt und praktizierte rund 35 Jahre lang in Weinheim, als er (bereits über 40) seine erste literarische Arbeit, eine Reisebeschreibung, vorlegte. Mit seinem Buch „Michael Hely, der Dorfteufel“ begann dann seine zweite Karriere als Heimatroman-Autor. Literaturkritiker seiner Zeit verglichen ihn u. a. mit Erzählern wie Peter Rosegger, Wilhelm Raabe und Gottfried Keller. Der Text „Der Bauernkalender“ ist dem Band „Bauerngeselchtes“ entnommen.

Der Bauernkalender

Doktor Ebenich trat in die geräumige Bauernstube und klopfte den weichen Lenzschnee von den Ärmeln seines Pelzmantels herunter. Er zog einen altväterlichen Lehnstuhl an den Tisch heran und ließ sich nieder, um das mitgebrachte Schreibzeug instand zu setzen. Während dies geschah, waren Nachbarsleute und ein ansehnlicher Bruchteil des Hofgesindes in den überheizten Raum hereingeflutet, alle von brennender Neugierde erfüllt, zu erfahren, was nun vor sich gehen solle. So war um Blasius Rübenspeck, den Hofbauernsohn herum, ohne dass er es gesucht hatte, ein niedlicher Volksauflauf entstanden, als er sich gemächlich auf der Ofenbank emporrichtete und den Doktor mit fragenden Blicken musterte.

„Ihr habt wohl keine Ahnung, Blasius, weshalb ich gekommen bin?“ unterbrach der Arzt das erwartungsvolle Staunen des Bauernsohnes.

„Es wird sonst im Dorf herum nit viel zu tun haben“, klang es in mürrischem Ton von der Ofenbank herüber. „Da denkt Er wohl: Dem Hofbauer Rübenspeck, dem macht man heute so zwischen Tag und Dunkel noch schnell einen Besuch, der kann zahlen, der hat das Geld darnach.“

„Nicht ganz das Richtige getroffen, Bläsi“, entgegnete Ebenich höflicher, als er angeredet worden war. „Erinnert Ihr Euch etwa daran, dass Ihr im vorigen Sommer an einem noch zu ermittelnden Datum das Bein verrenkt hattet?“

„Sell schon.“

„Und dass Ihr für den Euch aus diesem Unfall erwachsenen Schaden von der landwirtschaftlichen Unfallversicherung eine Entschädigung beanspruchen zu können glaubtet?“

„Bläsi!“ rief die vorlaute Mutter Rübenspeck aus dem Zuschauerhaufen heraus, „es handelt sich von wegen der Spedition, die der Ratsschreiber aus Finzensamt gemacht hat. Pass fein auf und gib gescheit Antwort, damit du auch was kriegst von dem Geld dem vielen, was da in Karlsruh’ nur so auf Haufen ‚rum liegt.“

„Was kriegst? Ha das wolle mer schon stark hoffe, wenn der Doktor so gut sein wolle und e bissel dazu helfe“, bemerkte jetzt der junge Rübenspeck in einem Tone, der im Gegensatz zu seiner anfänglichen Bärbeißigkeit bereits etwas Einschmeichelndes angenommen hatte.

Der Doktor schluckte die Zärtlichkeit des Bauern mit demselben gleichgültigen Gefühle herunter, wie er vorhin die bittere Pille der Grobheit eingenommen hatte, und fuhr in trockenem Geschäftsstile fort:

„Zunächst handelt es sich hier noch keineswegs um Geld, sondern um die Konstatierung einiger Tatsachen. Ich muss zum Beispiel wissen, wie alt – Ihr – Bläsi – zur Stunde seid.“ „Wie alt ich zur Stunde bin? Herr Doktor, das kann ich Ihnen auf die Minute net sagen. Ich weiß nur, dass ich zwanzig Jahr alt war, als ich zur Rekrutierung musste; und da das nun bereits drei Jahre her sind, so werd’ ich jetzt – ein paar Monat rauf – ein paar Monat runter – so an die dreiundzwanzig Jahre alt sein.“

„Gut, sagen wir dreiundzwanzig“, bemerkte der Doktor und fing an zu schreiben.

„Nun aber kommt eine weitere Frage, die Ihr prompt und ohne Wenn und Aber beantworten sollt. Merkt es wohl: An welchem Tage des Jahres 1909 war es, dass der Unfall sich ereignet hat, respektive, dass Ihr von dem Dungwagen heruntergefallen seid und das Fußgelenk verzerrt habt?“

„An welchem Tag das war?“ wiederholte der Angeredete und legte die Stirn in krause Falten. „An welchem Tag das war? An einem Samstag, Doktor, so gegen Abend, als die Enten aus dem Bach heim watschelten.“

„Ja, und der Wind ist damals gegangen, und die Läden haben geklappert, und aus dem Farrenstall (телятник) da hat ein Kalb geschrieen“, so ertönte es zur näheren Ergänzung der Zeitangabe im vielstimmigen Chor aus dem Zuschauerhaufen heraus.

Doktor Ebenich bekam einen roten Kopf, und die Ohren nahmen einen respektvollen Abstand von seiner breiten Glatze. Aber noch beherrschte er sich. Noch wollte er diesen Einfältigen im Geiste kein strenger Richter sein, sondern ein versöhnlicher, milder Berater und Lehrer. Mit eindringlicher, aber sanfter Stimme nahm er deshalb den Faden der Unterredung wieder auf, indem er also fortfuhr: „Seht, gute Freunde, der Ausdruck: „am Samstag“ bedeutet keine Zeitbestimmung. Wer sich die Mühe nimmt und im Kalender nachsieht, wird finden, dass ein jedes Jahr der Samstage mindestens zweiundfünfzig enthält. Die Leute, die in Karlsruh’ für Euch die Unfallentschädigung herauszurechnen haben, wollen genau wissen, welcher von den zweiundfünfzig Samstagen es war, der den Unfall brachte.“

„’s war der Samstag, wo dem Schullehrer der Schwartenmagen gestohlen wurde“, bemerkte Blasius.

„Nein, wo sich der Kirchendiener die Haar’ hat schneiden lassen“, so riefen zwei ungebetene Stimmen aus der Korona heraus, während eine dritte mit bestimmtem Akzent behauptete: „Es war am Samstag vor der Oberflockerbacher Kirmess.“

Doktor Ebenich atmete erleichtert auf. Nun hatte er in der Erscheinungen Flucht einen ruhenden Punkt gefunden. Wusste man erst, an welchem Tage die Oberflockerbacher Kirmess gefeiert wurde, dann konnte man sich an dem Ariadnefaden der Zeit sieben Tage zurücktasten und herausfinden, an welchem Datum das Unglück über Blasius Rübenspeck gekommen war.

„Und weiß nun niemand von Euch, an welchem Tage die Oberflockerbacher ihre Kirchweih halten, ihr pflegt doch dahin zu gehen?“ fragte der Arzt mit eindringlicher Betonung.

„Zwei Monate nach dem Rindenschälen oder drei“, war die verblüffende Auskunft.

Ebenich, der geduldige Ebenich, fuhr aus dem Lehnstuhl wie der Sodawasserstöpsel aus der Flasche. Der Zorn vergewaltigte seine Sanftmut. Er warf die Feder auf die Tischplatte hin und stampfte mit dem Absatz den Fussboden, dass das Haus zitterte und das Strohdach altklug zum Fenster herunternickte. „Holzengel und Erzengel!“ brüllte es aus ihm heraus, „und alle himmlischen Heerscharen zusammen! Ist denn in der ganzen lauretanischen Litanei kein einziger Heiliger, der mir hilft, diesen Schafsköpfen einen halbwegs vernünftigen Gedanken ins Gehirn zu hämmern? Wäre es nicht leichter, einer Tigerkatze ein Klistier zu geben, als solchen Menschen auch nur ein bisschen, auch nur ein bisschen Verstand --. Allmächtiger Himmel“, seufzte Herr Ebenich und hob die Augen langsam nach der verräucherten Decke empor.

Auf diesem Wege fielen seine Blicke auf einen hölzernen Herrgott, der von einem schräg gestellten Kreuze herunter, zwischen Rosmarinzweigen hindurch über die blank gescheuerte Tischplatte herüberblinzelte. „Ach da hängt einer, der auch viel ausgestanden hat, aber Kassenarzt war er halt doch nicht. Übrigens mit seinem Tode war er seine Qualen los, und auch du wirst einmal sterben, Ebenich“, dachte der Doktor, und er fand in diesem Gedanken Kraft und Sicherheit wieder zum Weiterleben und sogar die nötige Geduld, sein hochnotpeinliches Examen fortzusetzen.

„Ich will Euch Zeit zum Nachdenken lassen und einstweilen die nötige Untersuchung vornehmen.“ Mit diesen Worten wendete sich der Arzt ans Publikum. Dann nahm er seinen Stuhl und ging damit nach der Ofenbank, auf der sich Herr Rübenspeck nach wie vor mit behaglichem Grinsen noch immer bequem machte.

„Ihr müsst mir jetzt Euer krankes Bein zeigen, Bläsi.“

„Doktor, das tue ich nit gern. Ich han nämlich noch meine Winterfüß’.“

„’s ist erst die Mitte des März, Bläsi, und keiner kann von Euch verlangen, dass Ihr schon die Hufe gewaschen habt. Nur immer mit dem Strumpf herunter, über die Ferse, nur immer herunter damit.“

Bläsi tat schließlich, was von ihm verlangt wurde, und da er ein Schläule war, so schrie er auf, wenn der Arzt ihn drückte oder den Versuch machte, das Gelenk zu bewegen.

So war mit der Feststellung des objektiven Tatbestandes eine gute Viertelstunde unter Kneten und Jammern, Drücken und Zucken hingegangen, ohne dass sich jemand zu Wort gemeldet hatte, um die immerhin noch offene Frage des Unfalldatums zu lösen. Wollte Herr Ebenich nicht im Hause Rübenspeck über Nacht bleiben, so musste er das verfängliche Thema von neuem anzuschneiden versuchen. Er tat dies mit der Sanftmut eines Sonntagskatecheten, und indem er seinen Patienten gleichzeitig an der Ehre zu packen suchte, hub er mit Wachteltönen zu flöten an: „Seht, Rübenspeck, Ihr seid ein vernünftiger junger Mann, der während der Schulzeit in der oberen Bank gesessen und bei der Konfirmation die zehn Gebote aufgesagt hat. Solltet nun Ihr, der künftige Dorfschulze, nicht Verstand genug haben, um einzusehen, dass Ihr auf die Frage: Wann bist du geboren worden? Nicht etwa antworten könnt: Es geschah damals, als gerade Glatteis war, sondern: Es war –beispielsweise – versteht mich wohl – beispielsweise also—am zwölften November des Jahres 1886. So hat es mir meine Mutter gesagt.“

Kaum war das letzte Wort dieser eindringlichen Belehrung über Herrn Ebenichs Lippen gerollt, als sich Bläsis Gebärerin verwundert hören ließ: „Dös soll ich g’sagt haben, Herr Doktor? Da sind Sie letz belehrt. Mein Sohn, der Bläsi, wie er da sitzt, ist ja in der Rapsblüt’ auf die Welt gekommen.“

Der Arzt schnellte abermals hoch und streckte sich nach der Decke empor. Wie ein zweiter unheilverkündender Savonarola stand er da, so dass die Leute vor ihm erschreckten.

„Nun müssen wir zu Ende kommen“, stieß er hervor, „ könnt Ihr Tölpel mir das Unfalldatum nicht erbringen, so schließe ich die Akten und geh’ meiner Wege.“

Das war der Wendepunkt der ganzen schwierigen Verhandlungen. Alle die Anwesenden fühlten das, am meisten aber Frau Rübenspeck. Sie drängte vorwärts dem Arzte entgegen. Mit den Ellenbogen schaffte sie sich Luft durchs Gedränge. Sie stand vor dem bebrillten Manne, der mit einem Male für sie etwas Furchtbares angenommen hatte, und fing an, zu stammeln: “Herr Doktor, nichts für ungut, damals war’s, als Sie mit ihrer Chais’ - - „

Weiter kam sie nicht. Ihr Mann, der alte Rübenspeck, mit seinem glattrasierten Bauerngesicht, hatte sich vorgeschafft, seine Frau am Arm gepackt und fing an zu reden:

„Herr Doktor, ich versteh’ Ihnen. Aber geben Sie sich mit diesem Kamel da weiter keine Müh’, von wegen dem, was ein Datum ist. Die ist so beschränkt, dass sie, wie alte Hinkel tun, vor Dummheit gackert, auch wenn sie kein Ei zu legen hat. Lassen Sie sich von mir erzählen, was ich mit ihr erlebt habe, und sie werden einsehen, dass all ihr Reden Sie nicht weiterbringt, und Mitleid haben mit ihr und mir, der ich leider Gottes ihr Mann bin.“ Und er fuhr fort: „Als sie eines Tages die Kuh zum Bullen geführt hatte, da sagte ich: «Schreib Dir das Datum auf, damit wir ungefähr wissen, wann wir das Kalb erwarten können.»

Sie ist meinem Wunsche nachgekommen, aber hört nur, wie –

Als ich nach neun bis zehn Monaten nachsah, da hatte sie mit Kreide an die Kammertür geschrieben: „Heute war die Kuh beim Bullen.“»

Nach diesen Worten zog Herr Rübenspeck senior seine Alte am Rock hinterrücks zur Tür hinaus. Doktor Ebenich aber lachte, lachte über dieses „Heute“, dass ihm die Brille von der Nase fiel, und als er schon in sein Chaischen stieg, lachte er immer noch, und er dachte bei sich still vergnügt: „Zuweilen ist es doch auch pläsierlich, ein Kassenarzt zu sein.“

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

 

I.

1. Was wissen Sie über die „Heimatkunst“ als literarische Stilrichtung?

2. Wodurch entsteht in der vorliegenden Geschichte soziales (vielleicht auch örtliches) Kolorit?

3. Welcherart Grundstimmung durchdringt den Text „Der Bauernkalender“?

4. Welche Wörter drücken dieses Pathos aus? (z.B. niedlicher Volksauflauf, die Schafsköpfe, die Sanftmut eines Sonntagskatecheten, Bläsis Gebärerin, pläsierlich).

5. Wie wird der Text äußerlich und innerlich gegliedert? Welche Motive sind hier einbegriffen?

6. Wie ist der Titel mit der Hauptidee des Werkes verbunden?

7. Charakterisieren Sie das Figurensystem im vorliegenden Text. 8. Sprechen sie über die Typologisierung, Individualisierung und geschichtliche Konkretisierung bei der Schaffung der Figuren, über deren Porträt, Charakteristik und Sprachporträt.

9. Was wissen Sie von der Psychologisierung als kompositorisches Verfahren und ihrer Rolle im Figurensystem.

10. Erklären Sie die Funktionen der Dialoge und anderer Darstellungsarten im Text.

11. Nennen Sie die Besonderheiten des Sujetaufbaus: Komprimierung, Retardierung, Beschleunigung.

II.

1. Was können sie von der satzlänge und der Wortwahl im Text sagen?

Analysieren Sie den Satzbau und den Rhythmus im Text.

Äußern Sie sich zu Besonderheiten der Wortwahl, zu Tropen.

 

II.5. Stefan George (1868—1933)

 

Wurde in Bündesheim bei Bingen am Rhein 1868 als Sohn eines Weingutbesitzers geboren. Er studierte in Berlin und München, reiste durch England, die Schweiz, Italien, Spanien, Frankreich, wo er die Symbolisten Verlaine und Mallarme kennenlernte. In Wien befreundete er sich mit für eine Zeit mit Hugo von Hofmannsthal. Im Jahre 1892 wurde S. George zum Begründer der „Blätter für die Kunst“. Der Dichter wurde zum Mittelpunkt des sogenannten Georgekreises, zu welchem solche Literaten und Gelehrten wie Wolfskehl, Wolters, Gundolf, Bertram, Kommerell gehörten. Er hatte keinen festen Wohnsitz, 1933 verließ er Deutschland und starb in demselben Jahr in Minussino im Tessin. Wir empfehlen das jeweilige Kapitel über Leben und Werk des Dichters im 2. Band der „Geschichte der deutschen Literatur“ von Bukajeff A.I. nachzulesen.

Der herr der insel

 

Die fischer überliefern dass im süden

Auf jeder insel reich an zimmt und öl

Und edlen steinen die im sande glitzern

Ein vogel war der wenn am boden fußend

Mit seinem schnabel hoher stämme krone

Zerpflücken konnte wenn er seine flügel

Gefärbt wie mit dem saft der Tyrer-schnecke

Zu schwerem niedrem flug erhoben: habe

Er einer dunklen wolke gleichgesehn.

Des tages sei er im gehölz verschwunden.

Des abends aber an den strand gekommen.

Im kühlen windeshauch von salz und tang

Die süße stimme hebend dass delfine

Die freunde des gesanges näher schwammen

Im meer voll goldner federn goldner funken.

So habe er seit seit urbeginn gelebt.

Gescheiterte nur hätten ihn erblickt.

Denn als zum erstenmal die weißen segel

Der menschen sich mit günstigem geleit

Dem eiland zugedreht sei er zum hügel

Die ganze teure stätte zu beschaun gestiegen.

Verbreitet habe er die großen schwingen

Verscheidend in gedämpften schmerzeslauten

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

I.

1. Zu welcher dekadenten Stilrichtung gehört das vorliegende Gedicht?

2. Worin macht sich hier der Einfluss Nietzsches bemerkbar?

3. Bestimmen Sie das Menschen- und Lebensideal des Dichters anhand dieses

Gedichts.

4. Welche Themen und Motive prägen den Inhalt des Gedichts.

5. Was kann man von der Struktur dieses Gedichts sagen?

6. Welches Metrum verwendet im Gedicht der Verfasser?

7. Wie ist das Verhältnis von Vers und Satz im Gedicht?

8. Ist das Gedicht ein Ausdruck des dichterischen Ästhetizismus?

II.

1. Was können sie von der Wortwahl im Gedicht sagen?

2. Wirkt sich das Verhältnis von Vers und Satz auf den Rhythmus des Gedichts aus?

3. Was kann man von der Orthographie und Interpunktion im Gedicht sagen? 4. Erschwert dies das Verständnis des Gedichts?

5. Zeugt das nicht vom elitären Charakter derartiger Lyrik?

6. Was können sie von der Satzstruktur und -Länge im Gedicht sagen?

7. Auf welchen Stilmitteln basiert die Bildkraft des Gedichts?

 

Die Spange

 

Ich wollte sie aus kühlem eisen

Und wie ein glatter fester streif.

Doch war im schacht auf allen gleisen

So kein metall zum gusse reif.

 

Nun aber soll sie also sein:

Wie eine große fremde dolde

Geformt aus feuerrotem golde

Und reichem blitzendem gestein.

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

I.

1. Welche Gegenströmungen zum Naturalismus gab es schon in den 90-er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts?

2. Wie verstand S. George die Kunst? (als Alltagswirklichkeit oder als ein Reich des Geistes?) 3. Was wollte der Dichter durch die (strenge oder freie?) Form und durch die (erlesene oder alltägliche?) Sprache überwinden?

4. Wie verhielt sich S. George zu den Begriffen „Vererbung“, „Milieu“?

5. Welche Aufgabe stellte er vor jeden Dichter? (Seher, Priester oder Beobachter?)

6. Sollte nach seiner Vorstellung die Kunst der Unterhaltung oder Belehrung dienen?

7. Wem verdankte S. George seine neue Wertung der Sprache und Schönheit? (Naturalisten, Symbolisten, dem Jugendstil?).

8. Hatte der Dichter etwas Gemeinsames mit Friedrich Nietzsche? (Aristokratische Verachtung des „Pöbels“, Willen zur Erziehung und Formung eines neuen Menschen)

9. Interpretieren Sie das vorliegende Gedicht. Bestimmen Sie dessen Thematik und Motive sowie Pathos.

10. Analysieren Sie die Form des Gedichtes: Vers und Metrum; Strophe, Reim und Rhythmus;

II.

1. Charakterisieren Sie den Satzbau und die Wortwahl im Gedicht.

2. Welche Mittel der Bildlichkeit und Bildhaftigkeit setzt der Verfasser in seinem Text ein?

 

Urlandschaft

 

Aus dunklen fichten flog uns blau der aar

Und drunten aus der lichtung trat ein paar

Von wölfen, schlürften an der flachen flut

Bewachten starr und trieben ihre brut.

 

Drauf huschte aus der glatten nadeln streu

Die schar der hinde trank und kehrte scheu

Zur waldnacht, eines blieb nur das im ried

Sein end erwartend still den runden mied.

 

Hier litt das fette gras noch nie die schur

Doch lagen stämme, starker arme spur

Denn drunten dehnte der gefurchte bruch

Wo in der scholle zeugendem geruch

 

Und in der weißen sonnen scharfem glühn

Des ackers froh des segens neuer mühn

Erzvater grub erzmutter molk

Das schicksal nährend für ein ganzes Volk.

(aus dem Gedichtband „Der Teppich des Lebens“, 1900).

 

 

Fragen und Aufgaben zum Text:

 

I.

1. Was exponiert der Titel des Gedichtes?

2. Gewinnen in diesem Gedicht mythische Urmächte und Urformen des Lebens Gestalt?

3. Interpretieren Sie das Gedicht.

4. Ist dieses Gedicht ein Bekenntnis oder eine Verkündigung?

5. Welche Züge und Motive dieses Gedichts lassen uns es als typisch symbolistisch und impressionistisch einstufen?

6. Erschließt George in seinem Gedicht neue Bereiche des sprachlichen Ausdrucks? Wie tut er das?

7. Charakterisieren Sie den Strophenbau, den Versrhythmus, das Metrum, das Reimschema in diesem Text.

II.

1. Analysieren Sie das Gedicht aus stilistischer Sicht.

2. Was kann man von der Satzlänge und Wortwahl in diesem Gedicht sagen?

3. Welche Stilmittel dieses Gedichts beeindrucken Sie am stärksten?

 

III.

Nehmen Sie Stellung zu folgendem Auszug aus Stefan George:

 

Das junge Geschlecht

 

Wir sind bereit manche heilsamen einflüsse des „naturalismus“ anzuerkennen vergessen aber einen unberechenbaren schaden nicht: dass er uns daran gewöhnt hat, gewisse begleitende bewegungen einer handlung zur vollständigkeit zu fordern die aber wenn sie vom dichter berücksichtigt werden jedes werk großen zuges unmöglich machen.

Der „naturalismus“ hat nur verhässlicht wo man früher verschönte aber strenggenommen nur die wirklichkeit wiedergegeben.

Mit ernst und heiligkeit der kunst nahen: das war dem ganzen uns vorausgehenden dichtergeschlecht unbekannt.

Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel: dass unsre jugend das leben nicht mehr niedrig sondern glühend anzusehen beginnt: dass sie im leiblichen und geistigen nach schönen maßen sucht: dass sie von der schwärmerei für seichte allgemeine bildung und beglückung sich ebenso gelöst hat als von verjährter barbarei: dass sie die steife gradheit sowie das geduckte lasten tragende der umlebenden als hässlich vermeidet und freien hauptes schön durch das leben schreiten will: dass sie schließlich auch ihr volkstum groß und nicht im beschränkten sinne eines stammes auffasst: darin finde man den umschwung des deutschen wesens bei der jahrhundertwende.

 



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