I. 5. Allgemeine Charakteristik des Modernismus 


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I. 5. Allgemeine Charakteristik des Modernismus



 

Im Westen nennt man den Modernismus die Moderne. Unter Modernismus versteht man gesamte krisenhafte Erscheinungen in der Weltkunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Zu Recht wird behauptet, dass er eine Antwort und Reaktion der Künstler auf zwei Weltkriege, revolutionäre Stürme und Katastrophen gewesen sei. Man stellt gleichzeitig die Verwandtschaft zwischen der Dekadenz und dem Modernismus fest, indem man den letzteren als Fortsetzung der ersteren betrachtet. Beide behandelten auf ähnliche Weise das Problem der Persönlichkeit, der Außenwelt, des Lebens und des Todes sowie des künstlerischen Schaffens und der Vernunft.

Für den Modernismus waren, wie behauptet wurde, die Versuche kennzeichnend, erneut eine geistig-ästhetische Grundlage zu finden, mit deren Hilfe man sich aus dem krisenhaften Bewusstsein befreien konnte. Daher suchte man am Anfang, in den zehner und zwanziger Jahren, einen Ausweg in dem sozialpolitischen Radikalismus zu finden und später übertrug man sein Rebellentum auf das Gebiet des „revolutionären Geistes“, indem man sich neuen philosophischen Systemen zuwandte, und zwar dem Intuitivismus Henri Bergsons, dem Nietzscheanertum, der Phänomenologie Edmund Husserls, der Psychoanalyse Siegmund Freuds und insbesondere Karl Jungs, dem Existentialismus S. Kierkegaards, Martin Heideggers und Karl Jaspers. Der Modernismus brachte eine Vielzahl verschiedener Richtungen, Schulen, literarischer Manifeste hervor, die ihre eigenen Schlüssel zur Lösung der vor der Kunst stehenden Probleme anboten. Es waren dies Imagismus, Futurismus, Konstruktivismus, Surrealismus, Unanimismus, der Roman des Bewusstseinsstroms, das absurde Theater, „neuer Roman“ und so weiter. Auch der Expressionismus und Dadaismus werden manchmal dazu gerechnet. Und diesen Behauptungen kann man unter Vorbehalten zustimmen. Obwohl es uns lieber ist, sie in der Übergangszeit von der Dekadenz zum Modernismus unterzubringen.

Eines der zentralen Probleme der Literatur des Modernismus war die Frage nach dem Standort der menschlichen Persönlichkeit und des individuellen Bewusstseins in der Zusammensetzung des Ganzen, im Leben des Kosmos. Bei der Lösung dieses Problems stützte man sich nicht auf rationalistische, wissenschaftliche Erkenntnismethoden, sondern auf den Mythos, dessen Möglichkeiten dem individuellen zersplitterten Denken und Bewusstsein gegenübergestellt werden.

Am nächsten stand dem mythologischen Denken die Lyrik, die Metaphern und andere Stilmittel nicht als bedingte Ausdrucksmittel verwendete, sondern als Formen der ganzheitlichen Erkenntnis des Wesens des Weltalls. Nicht zufällig war die Begeisterung vieler Lyriker für die klassische Mythologie, für die Märchenwelt, für alte esoterische Lehren, einschließlich Theosophie und Anthroposophie. Einige Dichter vergötterten die pythagoreische Harmonie der Zahlen. Diese Dichter neigten dazu, ihre Poesie als geheimes Wissen zu betrachten und sich selbst sahen sie als Vermittler zwischen Kosmos und Menschheit, die beschwörende Kraft und Magie des Wortes beherrschen. Sie verhielten sich negativ zum romantischen Subjektivismus. Sie waren bemüht, die Poesie zum Ausdruck nicht des persönlichen psychologischen Zustands, sondern des Universums zu machen. Sie fühlten sich vorzugsweise zu mythologischen epischen Formen hingezogen. Der Großteil der Modernisten erlebte aber die rekonstruierten mythologischen Vorstellungen nicht als natürlichen Boden des Schaffens, sondern als annehmbare ästhetische Konstruktion. Ihre mythologische Deutung der Wirklichkeit hatte vielfach skeptischen, sogar ironischen und parodistischen Charakter.

Der ästhetische Sieg über das Weltchaos war eines der populärsten Postulate des Modernismus. Dieser Gedanke durchdringt die Werke derjenigen Modernisten, denen mythologisches Denken negativen, nihilistischen Charakters eigen war. Diese Schriftsteller gehen von der These aus, dass die Weltordnung absurd und das menschliche Schicksal tragisch seien. Albert Camus behauptet zum Beispiel, dass das Absurde ein metaphysischer Zustand des Menschen sei. Andere Standpunkte werden als naiv-optimistische gedeutet. Diese Idee fand ihre totale Ausgestaltung in der Philosophie und dem künstlerischen Schaffen des Existentialismus. Aber auch viele frühe Modernisten dachten und fühlten ähnlich. Derartige Gedankengänge finden sich bei Marcel Proust, bei James Joyce, Virginia Woolf; Robert Musil und Franz Kafka. Das Feindliche dem Menschen gegenüber tritt in ihren Werken in Gestalt des Schicksals, des Staates oder der Behörden hervor. Die Modernisten hatten somit das antike mythologische Denken wiederhergestellt.

Der absurden Weltordnung könne man aber erfolgreich begegnen, und zwar mittels der Kunst, behauptet Friedrich Nietzsche. Eben die Kunst könne der formlosen absurden Wirklichkeit Sinn und Form verleihen. Diesen Gedanken findet man nicht nur bei Friedrich Nietzsche, sondern auch bei Paul Valery, Andre Malraux und Albert Camus. Nach den Existentialisten habe die Welt keinen Sinn. Der Mensch habe ihn aber, weil er ihn suche. Der „absurde Mensch“ besiege das Schicksal, indem er es verachte. Er füge sich in die sinnlose Unvermeidlichkeit und bleibe dabei damit nicht ausgesöhnt und zufriedengestellt. Albert Camus äußerte sich darüber in seinem „Der Mythos von Sisyphus“ wie folgt: „In vollem Bewusstsein der Ziellosigkeit des Lebens zu leben—das ist ein unheimliches Schicksal des Menschen und gleichzeitig das Unterpfand seiner Größe“. In diesem stoischen Pessimismus besteht der Akt des Nichteinverständnisses des Menschen mit der Weltordnung, die durch den Tod bestimmt wird, und die Ehre, die der Mensch seiner Würde erweise.

Im Unterschied zur antiken tragischen Weltsicht gehen die französischen Existentialisten von der Unschuld des Menschen aus (denn der absurde Kosmos ist nicht sein Richter), aber sie behalten ihm Freiheit und Verantwortung als wichtigste Voraussetzungen seiner wahren Existenz vor. Von außen her sei der Mensch frei von jeglichen Moralnormen. Er schaffe sie und sich selbst, indem er in dieser oder jener Situation den Akt freier Wahl vollziehe und auf solche Weise seine schöpferischen Möglichkeiten verwirkliche und für die Folgen seiner Wahl Verantwortung trage. Indem sie die Krise der menschlichen Persönlichkeit feststellen, suchen die Existentialisten die Quellen ihrer Wiedergeburt innerhalb ihrer selbst. Die wahre Wahl vollziehe sich in der „Grenzsituation“, im Angesicht des Todes. Der wahre Mensch werde durch seine Bereitschaft zu sterben geprüft. Und so fordern die Heldinnen der Tragödien von Jean Anouilh ihr Recht auf den Tod, da nur so sie sich als Persönlichkeiten bewahren können. Der Lebensweg einer existentialistischen Person besteht somit aus einer Reihe von „Situationen“, und ihr Benehmen wird durch Akte der Wahl bestimmt. Heute schafft sie sich als Feigling und morgen als Held. Und so entsteht eine thesenhafte Literatur, in der jede Figur einen bestimmten „Akt“ oder „Geste“ verkörpert.

Die existentialistische Literatur rief als ihren Erben und Nachfolger das „absurde Theater“ ins Leben, das durch Samuel Beckett und E. Ionesco vertreten wurde. Statt der rationalistischen Philosophie praktizieren diese Dramatiker alogische Clownerie, die auf einer unheimlichen herausfordernden Ironie beruhte und die ihrer Meinung nach die einzige mögliche Reaktion auf die Sinnlosigkeit der Weltordnung war. Das Absurde wird zum wichtigsten Motor der dramatischen Handlung. Die reale Hässlichkeit der Welt korrespondierte darin mit dem künstlerisch-formellen Chaos, besonders bei Beckett.

Gegen das Schaffen der Existentialisten polemisierte auch die Schule des „neuen Romans“, die von Natalie Sarrote, Allain Robbe-Grillet u.a. vertreten wurde. Wenn in den Werken der Existentialisten die Einheit der Persönlichkeit noch erhalten bleibt, so beschreiben die Vertreter des „neuen Romans“ entweder formlose „subpsychologische“ Prozesse, in denen die Grenzen des individuellen Bewusstseins verwischt sind, oder stoffliche Hülle der Welt und des versachlichten Menschen, der aller Merkmale des inneren Lebens bar ist.

Die Modernisten revidierten und werteten alle Strukturelemente der klassischen Kunstwerke um. Dies betrifft in erster Linie die Charakterisierungskunst der handelnden Personen (der literarischen Helden). Der modernistischen Kunst ist prinzipieller Antipsychlogismus eigen. Sie verwerfen sowohl die soziale Charakteristik der Figuren, als auch deren psychologische Analyse.

Die Methode des “Bewusstseinsstroms“ kann man auch nicht als Spielart des psychologischen Realismus oder Naturalismus betrachten. James Joyce hielt selbst dafür, dass der „Bewusstseinsstrom“ gar keine Fixierung spontan entstehender Fragmente von Gedanken und Stimmungen der Figuren sei, sondern poetische Stilisierung der Arbeit des Bewusstseins.

Antipsychologisch ist auch die modernistische Lyrik., sowohl die symbolistische als auch die avantgardistische. Die letztere charakterisierte sich durch die primitiv-kindische Rezeption der Welt und eigenwertigen sprachlichen Konstruktionen.

Lieblingsheld der Modernisten ist „der kleine Mann“ oder der Durchschnittsangestellte. Er ist immer eine leidende Person, die von den Massenmedien, gesellschaftlichen Organisationen oder durch die bestehende Moral unterdrückt wird. Er ist immer ein Opfer der Entfremdung oder Selbstentfremdung. Er fühlt sich gewöhnlich als Außenseiter oder Verschollener, als „Mann ohne Eigenschaften“ (Robert Musil). Das ist das Modell des „Anti-Helden“, das Modell des Menschen schlechthin. Familie, Staat, Gesellschaft sind für ihn äußerliche, unerkennbar-feindliche Phänomene. Andre Gide sah zum Beispiel seine Helden als Waisen, einzige Söhne, Junggesellen, als Kinderlose.

Die Schriftsteller des Modernismus erleben, häufig aufrichtig, die Einsamkeit des „Mannes ohne Eigenschaften“ als ihre persönliche Tragödie mit. Seine potentiellen Möglichkeiten identifizieren sie mit eigenen Möglichkeiten, sein Bewusstsein mit dem eigenen, manchmal mittels symbolischer Parallelen.

Das Erzählen erfolgt in den modernistischen Werken gewöhnlich vom Standpunkt eines solchen Helden aus, die gottähnliche Allwissenheit des klassischen Erzählers geht zu Ende. Auch das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit hat sich gründlich gewandelt. Man verzichtet häufig auf chronikalisch erzählte Sujets und bevorzugt komplizierte konzentrische Zeitverhältnisse. Man zergliedert das äußere und das innere Erzähltempo und vertieft den Bruch zwischen Erzählzeit und realer historischer erzählter Zeit. Bis zum Antagonismus.. Reale Zeit ist in Wirklichkeit immer historische Zeit. Die Helden der Modernisten leben aber nicht in historischer Zeit, sondern in mythologischer, in der das Vergangene und die Gegenwart nebeneinander bestehen und häufig sich wenig voneinander unterscheiden. Wenig unterscheidet sich auch das Morgen von Heute und Gestern. Alles, was im Roman geschieht, geschieht immer und niemals, überall und nirgendwo. Die Handlung verläuft im Laufe eines Tages oder einiger Stunden, zum Beispiel im Roman „Ulysses“ von James Joyce. Die chronikalische, lineare Sujetbildung wird durch die musikalische ersetzt. Die assoziative Entwicklung symbolischer Bilder und Beschreibungen ist ebenfalls für modernistische Werke kennzeichnend. Häufig greifen die Schriftsteller zur Montage, indem sie reale weit auseinanderliegende Fragmente miteinander verbinden. Einige Modernisten, insbesondere Surrealisten und Expressionisten revidieren das Prinzip kompositioneller Ausgestaltung, der Abgeschlossenheit und Abrundung des Kunstwerks. Ihre Werke bleiben häufig offen und so entsteht der Stil des fragmentarischen „infinito“.

Eine äußerst widersprüchliche Entwicklung machte die Lyrik des Modernismus durch. Sie war sehr reich an begabten Dichterpersönlichkeiten. Die Lyrik der dekadenten Symbolisten bewahrte noch viele gute literarische Traditionen. Sie stützten sich in ihren Texten nicht auf das impressionistische Prinzip der Musikalität, sondern auf das Wort als poetisches Bild in der Aureole seiner assoziationsreichen Bedeutungen, auf die Vieldeutigkeit der Sinne. Die Poesie der Symbolisten hatte visionären Charakter. Ihre Sinnbilder sollten objektive Korrelate geheimer Grundlagen des Daseins werden, die sich sonst wohl kaum ausdrücken ließen. Diese Verse waren sehr kompliziert wegen der Übersättigung mit mythologischen, historischen und literarischen Allusionen. Die Grenzen des poetischen Sprachgebrauchs waren durch die Verschmelzung der Archaismen mit der Alltagsrede radikal erweitert. Freie Rhythmen wurden reichlich verwendet.

Andere modernistische Gruppierungen (Futuristen, Expressionisten, Surrealisten und Akmeisten) brachen vollständig mit der poetischen Tradition, sie rebellierten gegen die überkommenen Normen der poetischen Rede und betrieben häufig grenzenlose Wortschöpfung, die bis hin zur Sinnlosigkeit ging. Auch diese Gruppen brachten nicht wenige hervorragende Dichterpersönlichkeiten (G. Appolinaire, W. Chlebnikow u.a.) hervor. Mit diesen Tendenzen in der Poesie waren die dichterischen Anfänge solcher großen Lyriker verbunden wie W. Majakowski, J.R. Becher, P. Eluard und L. Aragon.

Diese grundsätzliche Infantilität enthielt aber ein deutlich ausgeprägtes Element der vorsätzlichen Herausforderung an den bürgerlich beschränkten, konservativen „gesunden menschlichen Verstand“. Sie war eine aufbegehrende Reaktion auf die Erfahrung des „irdischen Chaos“. Im Unterschied zu den Symbolisten mit ihrem Bestreben Traditionelles und objektiv Bestehendes auszudrücken, war für den rebellischen Zweig der modernistischen Poesie schöpferischer Individualismus kennzeichnend, der bis hin zum Verzicht auf den allgemein menschlichen Sprachgebrauch ging. Im Zusammenhang damit kam der Kult um die experimentelle künstlerische Form auf. Damit wurden Grundsteine für experimentelle Poetik gelegt, die in Richtung auf „die Dichtung für Dichter“ gezielt war. Als Folge davon wurde die Lyrik inhaltlich vielfach unlogisch. Sie gründete sich auf die Möglichkeiten der inneren Form des poetischen Wortes. Viele Modernisten verzichteten auf die Interpunktion in ihren Versen. Die deutschen modernistischen Lyriker führten in ihre poetischen Texte Kleinschreibung der Substantive statt der traditionellen Großschreibung und erschwerten damit deren Verständnis.

Zusammenfassend muss man sagen, dass der Modernismus des zwanzigsten Jahrhunderts an und für sich eine sehr widersprüchliche künstlerische Erscheinung war, die in sich sowohl positive als auch negative Momente einschloss. Er bereicherte und verfeinerte das Arsenal künstlerisch-literarischer Ausdrucksmittel, die auch realistische Autoren weitgehend nutzten, so dass die Grenze zwischen Realismus und Modernismus häufig problematisch wurde.

 

Kontrollfragen:

 

1. Reaktion auf welche Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts war der Modernismus?

2. In welchem Verhältnis steht der Modernismus zur Dekadenz?

3. Auf welche philosophischen Systeme stützte sich der Modernismus?

4. Welche Stilrichtungen des Modernismus kennen Sie?

5. Welche Rolle spielte im Modernismus die Frage nach dem Standort der menschlichen Persönlichkeit und des individuellen Bewusstseins in der Zusammensetzung des Ganzen, im Leben des Kosmos?

6. Welche Rolle spielte das mythologische Denken in der modernistischen Lyrik?

7. Wie verhielten sich die Modernisten zum romantischen Subjektivismus?

8. Wie sehen die Dichter des Modernismus die Weltordnung und das menschliche Schicksal darin an?

9. Wie kann man nach Nietzsche der absurden Weltordnung erfolgreich begegnen?

10. Wie kann der „absurde Mensch“ nach Ansicht der Existentialisten sein Schicksal besiegen?

11. Was wissen Sie vom „Mythos des Sisyphus“?

12. Was macht das Wesen der Existenzphilosophie aus?

13. Welche Moralauffassungen hatten die Existentialisten?

14. Wie verhielten sich die Existentialisten zum Problem der Freiheit und Verantwortung der menschlichen Persönlichkeit?

15. Worin sahen die Existentialisten die Quellen der Wiedergeburt der menschlichen Persönlichkeit?

16. Was dachten die Existentialisten über die wahre Wahl des Menschen in der „Grenzsituation“ im Angesicht des Todes?

17. Was dachten die Existentialisten über den Tod und die Bereitschaft des wahren Menschen zu sterben?

18. Welche Rolle spielten existentialistische Ideen im „absurden Theater“?

19. Wodurch charakterisiert sich der französische „nouveau roman“ (der neue Roman)?

20. Wie reagierten die Modernisten auf die Strukturelemente klassischer Werke?

21. Welche Rolle spielte der Antipsychologismus im Modernismus?

22. Was wissen Sie vom Roman des Bewusstseinsstroms „Ulysses“ von James Joyce?

23. Was wissen Sie vom „kleinen Mann“ des Modernismus, der sich als Außenseiter und Verschollener fühlt, als „Mann ohne Eigenschaften“?

24. Was wissen Sie von den stilistischen Qualitäten der modernistischen Werke`?

25. Wie war es um die modernistische Lyrik bestellt?

26. Wie verhielten sie die modernistischen Lyriker zur literarischen Tradition?

27. Was dachten die Vertreter des Modernismus über den „gesunden Menschenverstand“?

28. Wie standen die Modernisten zum literarischen Experiment?

29. War der Modernismus in der Literatur eine Bereicherung oder das Gegenteil davon?

 

I.5.1. Modernistische Stilrichtungen der ersten Hälfte des

zwanzigsten Jahrhunderts

 

 

Der Erste Weltkrieg, die große Sozialistische Oktoberrevolution in Russland, die Novemberrevolution in Deutschland, das Wachstum der deutschen Arbeiterbewegung und die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands waren die entscheidenden welthistorischen Ereignisse, die eine tiefgreifende Wandlung des gesellschaftlichen Bewusstseins herbeiführten und die deutschen Künstler und Schriftsteller zur Parteinahme herausforderten. Die geistige Situation in Deutschland in den zwanziger Jahren charakterisierte sich durch Skeptizismus und sogar Nihilismus, gelegentlich aber auch durch die Ambivalenz. Derartige Stimmungen und Einstellungen waren vor allem für die bürgerlichen Intellektuellen kennzeichnend. Sie fanden ihren Ausdruck in zahlreichen einander heftig bekämpfenden weltanschaulichen Systemen und Systemchen, die auf die Weltanschauung vieler Künstler und Schriftsteller entscheidend einwirkten, sogar solcher bürgerlich-humanistischen Autoren wie Thomas und Heinrich Mann. Besonders stark war nach wie vor der Einfluss Friedrich Nietzsches, Siegmund Freuds und Oswald Spenglers, des Verfassers des zivilisationsfeindlichen Buches „Der Untergang des Abendlandes“ (1918). Der letztere machte in seinem populären Werk in jeder Weise Demokratie und Sozialismus verächtlich und verherrlichte den preußischen Geist. Alle drei Denker beeinflussten weitgehend die geistige Situation auch in der Weimarer Republik.

Die nihilistische Einstellung vieler Künstler und Schriftsteller in den zwanziger Jahren beruhte auf den Ideen Friedrich Nietzsches, der über den Nihilismus sich wie folgt äußerte: „Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die H e r a u f k u n f t des N i h i l i s m u s… Der Nihilismus—dieser unheimlichste aller Gäste—steht vor der Tür… Was bedeutet Nihilismus?—Dass die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das „Warum?“… Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man anerkennt, handelt….. Die extremste Form des Nihilismus wäre die Einsicht: dass jeder Glaube, jedes Für-wahr-Halten notwendig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht gibt.“

Auch Hermann Hesse, der sich von den Ideen Nietzsches gleichwie Thomas und Heinrich Mann beeinflussen ließ, schrieb in seinem berühmten Roman „Das Glasperlenspiel“ von der Unsicherheit und Unechtheit des geistigen Lebens, von der Verzweiflung und der Abenddämmerung, von der öden Mechanisierung des Lebens und dem tiefen Sinken der Moral, von der Glaubenslosigkeit der Völker und Unechtheit der Kunst. An anderer Stelle unterstrich er die große Untergangsstimmung und die zynische Haltung sowie die vollständige Demoralisierung des Geistes.

Der Dadaist George Grosz charakterisierte die geistig-seelische Situation im Deutschland der zwanziger Jahre mit den Worten: „Wir waren der komplette pure Nihilismus, und unser Symbol war das Nichts, das Vakuum, das Loch“.

Diese geistig-seelische Situation rief neue Stilrichtungen des Modernismus ins Leben, und zwar den Surrealismus, den Existentialismus, die „Neue Sachlichkeit“ und den „magischen Realismus“. Die Vorherrschaft des Expressionismus ging zu Ende. In den Vordergrund rückte die „Neue Sachlichkeit“, die die „Ernüchterung“ der Literatur herbeiführte und die Rückkehr zum Realismus bedeutete. Man darf aber dabei nicht aus den Augen verlieren, dass der „Realismus“ der „Neuen Sachlichkeit“ kein blutvoller Realismus war. Er war eher ein Realismus des Details und somit ziemlich beschränkt und oberflächlich.

 

Kontrollfragen:

 

1. Wodurch charakterisiert sich die sozialpolitische, weltanschauliche und psychologische Situation in den Nachkriegsjahren in der Weimarer Republik?

2. Wogegen und gegen wen war das Buch „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler gerichtet?

3. Welche Rolle spielte der Nihilismus in der Nachkriegssituation?

4. Was schrieb Friedrich Nietzsche über den Nihilismus?

5. Was schrieb Hermann Hesse über die geistige und psychologische Situation jener Jahre?

6. Wie charakterisierte der Dadaist George Grosz die geistig-seelische Situation von damals?

7. Das Aufkommen welcher modernistischen Stilrichtungen bewirkte die damalige geistig-seelische Situation?

 

I.5.1.1. Surrealismus als Stilrichtung des Modernismus

 

Das Fremdwort „Surrealismus“ bedeutet im Grunde „Überwirklichkeit“ oder die „Kunst des Überwirklichen“. Als Kunst- und Literaturrichtung entstand der Surrealismus in Frankreich. Und als deren Vorläufer gelten die Franzosen Mallarme, Rimbaud, Lautreamont und Dadaisten. Man behauptet sogar, dass der Surrealismus aus dem Dadaismus hervorgegangen sei. Und dies stimmt, denn viele Dadaisten gingen nach dem Zerfall des Dadaismus in das Lager der Surrealisten über. Übrigens finden sich vereinzelte Darstellungselemente des Surrealismus bereits in dem Werken der Romantiker Novalis und Hoffmann, und erst recht in denen der Expressionisten.

Diese Stilrichtung bildete sich in Deutschland etwa 1920--1925 heraus. Um das 1925 begann sie nahezu gleichzeitig mit dem Expressionismus zu erlöschen, lebte aber auch nach 1925 unterschwellig weiter, um nach 1945 in den Werken von Hans Erich Nossack und Hermann Kasack wieder aufzuleben. Eigentliche Initiatoren der neuen modernistischen Literatur- und Kunstbewegung waren G. Apollinaire und A.Breton. Manche Literaturwissenschaftler nennen auch den Namen des Kölner Dadaisten Max Ernst im Zusammenhang damit.

Die surrealistische Kunst- und Literaturauffassung beruht vielfach auf der tiefenpsychologischen Lehre Siegmund Freuds vom Unterbewusstsein und dem Unbewussten. In Übereinstimmung mit der Lehre Siegmund Freuds meinen die Surrealisten, dass das Unbewusste als Folge der Verdrängung der Nachtseiten des Lebens, der Urangst, des Grausigen und Hässlichen aufbreche. Die vage Welt des Traums und die dämonischen Zerr- und Schreckbilder aus den Tiefenschichten des Unterbewusstseins machen das Wesen des Surrealismus aus. Dabei wird die Grenze zwischen Realem und Irrealem, zwischen Tag und Traum, sowie zwischen Leben und Tod total verwischt, sie gibt es einfach nicht. Und solche Bilder entstehen nicht mittels der poetischen Einbildungskraft, sondern automatisch, als Diktat aus dem Unbewussten in Form von Traumassoziationen, Halluzinationen, Schreckvisionen als Rauscherlebnisse im Resultat automatischen Heraufsteigens unterdrückter Komplexe. Diese Bilder sollen von der Widersinnigkeit und Absurdität des Lebens und der Weltordnung zeugen. Sie sind Sinnbilder des Weltchaos.

Die Arbeitstechnik des Surrealismus basiert somit nicht auf rationalem Fundament, sondern auf dem irrationalen. Sie verwendet als ihre wichtigsten Mittel Verfremdung und Kombination des Möglichen und Unmöglichen. Das rationale Denken wird im Schaffensprozess gleichsam abgeschaltet und im Resultat wird oft traumhafte und abstrakte Wirkung ausgelöst. Reale Bestandteile des gegenständlichen Lebens werden aus gewohnten Zusammenhängen herausgenommen und willkürlich zu „Traumbildern“ zusammengestellt. Der Dichter verzichtet dabei weitgehend auf Logik und Sprachgesetze.

Wie die surrealistische Schreibweise konkret aussah, kann man an einem Auszug aus dem Gedicht „Die Sonne“ des früheren Dadaisten Hugo Ball sehen:

 

Zwischen meinen Augenlidern fährt ein Kinderwagen.

Zwischen meinen Augenlidern steht ein Mann mit einem Pudel.

Eine Baumgruppe wird zum Schlangenbündel und zischt in den Himmel.

Ein Stein hält eine Rede. Bäume in Grünbrand. Fliehende Inseln…

Meine Beine strecken sich aus bis zum Horizont. Eine Hofkutsche knackt

Drüber weg…

 

Als ein gutes Beispiel der surrealistischen Dichtung kann auch das Gedicht von Karl Krolow „Verlassene Küste“ dienen:

 

Segelschiffe und Gelächter,

Das wie Gold im Barte steht,

Sind vergangen wie ein schlechter,

Atem, der vom Munde geht,

 

Wie ein Schatten auf der Mauer,_

Der den Kalk wie Staub zerfrisst.

Unauflöslich bleibt die Trauer,

Die aus schwarzem Honig ist.

 

Duftend in das Licht gehangen,

Feucht wie frischer Vogelkot

Und den heißen Ziegelwangen

Auferlegt als leichter Tod.

 

Kartenschlagende Matrosen

Sind in ihrem Fleisch allein.

Tabak rieselt durch die losen

Augenlider in sie ein.

 

Ihre Messer, die sie warfen

Nach dem blauen Vorhang Nacht,

Wurden schartig an dem scharfen

Wind der Ewigkeit, der wacht.

 

 

Die Zahl surrealistischer Maler und Dichter ist überaus groß. Als größte Surrealisten wurden in Frankreich Andre Breton, Paul Eluard und Louis Aragon bekannt. Der bekannteste „reine“ deutsche Surrealist war der einstige Kölner Dadaist Max Ernst. Aber auch in den Werken von F. Kafka, H.H. Jahnn, H. Kasack, H.E. Nossack, H. Arp, Ivan Goll und vieler anderer lassen sich surrealistische Darstellungselemente feststellen. Und besonders viele Stilelemente des Surrealismus können in der hermetischen Nachkriegslyrik (Krolow, Celan, Bachmann) und in den Kurzgeschichten von Ilse Aichinger, Horst Lange und Ernst Kreuder entdeckt werden.

 

Kontrollfragen:

 

1. Was bedeutet das Fremdwort „Surrealismus“?

2. Wo und wann entstand die neue Kunstrichtung zuerst und wer waren deren Vorläufer?

3. In welchem Verhältnis steht der Surrealismus zum Dadaismus?

4. In welcher Beziehung steht der Surrealismus zur Lehre Sigmund Freuds?

5. Auf welchem mFundament basiert die Arbeitstechnik des Surrealismus?

6. Die Gedichte welcher Autoren können als Beispiele des Surrealismus dienen?

7. Welche deutschen und ausländischen Schriftsteller sind als Surrealisten bekannt?

 

I.5.1.2. Die Philosophie des Existentialismus und ihr Einfluss

auf die deutsche und europäische Literatur

 

Der Existentialismus war eine einflussreiche subjektiv-idealistische und irrationalistische Strömung in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Er bildete sich als philosophische Richtung im Zusammenhang mit den einschneidenden Krisenerscheinungen in den westeuropäischen Gesellschaften in den zwanziger und dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts heraus. Er entstand zunächst in Deutschland, fand dann weite Verbreitung in Frankreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zu einer Art Modeweltanschauung und sogar Modelebenshaltung breiter Kreise der bürgerlichen Intelligenz und kleinbürgerlicher Bevölkerungsschichten. Als wichtigste Ursachen des Aufkommens dieser philosophischen Richtung nennt O.F. Bollnow, einer ihrer Vertreter, die im Resultat des ersten Weltkrieges über die Menschen hereinbrechende Unsicherheit und die damit zusammenhängende Erschütterung. Und die Popularität des Existentialismus nach dem Zweiten Weltkrieg und dessen Durchbruch erklärt er mit den noch viel tiefer in das gesamte Gefüge des individuellen und gesellschaftlichen Daseins eingreifenden Folgen dieses Krieges und des „nunmehr totalen geschichtlichen Zusammenbruchs unserer ganzen bisherigen geistigen Welt“.

Ideengeschichtlich knüpft der Existentialismus an manche Thesen der Phänomenologie und vor allem der Lebensphilosophie an, die wir bereits im Zusammenhang mit den philosophischen Grundlagen der Dekadenz erwähnten. Als unmittelbare Vorläufer des Existentialismus gelten der dänische Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts Kierkegaard und der deutsche Denker und Dichter Nietzsche. Manche Philosophen und Literaturwissenschaftler zählen noch den dialektischen Theologen K. Barth und den Franzosen H. Bergson dazu. Die marxistischen Philosophen verhielten sich zur existentialistischen Weltanschauung äußerst negativ, sie nannten sie sogar eine ausgesprochen reaktionäre Strömung, der es um die Zurücknahme der positiven Errungenschaften der klassischen bürgerlichen Philosophie von Descartes bis Hegel und Feuerbach zu tun gewesen sei.

Hauptvertreter des Existentialismus waren in Deutschland Karl Jaspers und Martin Heidegger und in Frankreich Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir. Der Name „Existentialismus“ wird oft in Bezug auf die französische Philosophie gebraucht. In Bezug auf die deutsche wird häufiger die Bezeichnung „Existenzphilosophie“ verwendet. Man kennt auch andere Ausdrücke: christliche Existenzphilosophie, christlicher Existentialismus. Die Lehre Heideggers nennt man manchmal Existentialontologie oder ontologische Existenzphilosophie.

Der wichtigste Begriff der Philosophie des Existentialismus ist der der Existenz, wobei man im Auge haben muss, dass kein einziger Existentialist eine nähere Bestimmung davon gibt. Man vermeidet es geradezu. Bei Sartre kann man folgendes darüber lesen: „ Die Existenz ist nichts, was man aus der Entfernung denken kann: das muss dich plötzlich überfluten, das bleibt über dir, das lastet schwer auf deinem Herzen wie ein großes unbewegtes Tier—sonst ist da gar nichts.“

Camus schreibt über den Begriff „Existenz“ ganz anders: “ Existenz ist das, was niemals Objekt wird“. Aber im allgemeinen verstehen alle Existentialisten unter „Existenz“ immer die individuelle Existenz des Menschen. Die Existenz komme nur den Menschen zu, nicht den Dingen. Sie sei die typische Seinweise des Menschen, und als solche sei sie dem Menschen nicht gegeben, sondern sie sei nur seine Möglichkeit, die er verwirklichen könne oder auch nicht. Der Mensch schaffe seine Existenz selbst: ansonsten sei sie nur „Entwurf“. Er sei zur Freiheit verdammt, er selbst oder nicht er selbst zu sein. Der Mensch, der sich als autonomes Wesen seine Werte selbst setze, rette sich durch den „Gedanken des Nichts“ vor dem lähmenden Alpdruck des Seins.

Camus vertritt den Existentialismus des Absurden im Gegensatz zum christlichen Existentialismus G. Marcels. Die Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins könne nicht geleugnet werden, sie müsse einfach hingenommen werden. Darin bestehe die Not, aber auch die Würde des Menschen, dessen Freiheit nur im Bewusstsein der Unfreiheit liege. Höchster Grad der Absurdität sei erreicht, wenn die Gleichgültigkeit ihr gegenüber in das „totale Engagement“ (die „Tollheitsbejahung“) umschlage. Und so wird Sisyphus, der Held des Absurden, zum Sinnbild des Lebens.

Für Karl Jaspers ist die „Existenzerhellung die Achse der Philosophie“. Der Mensch erfahre bewusst seine Existenz durch das Scheitern in den Grenzsituationen des Lebens, wenn er leide, seine Schuld erkenne, den Kampf austrage oder den Tod erleide. Das „Sein“ begreift Jaspers als „Mit-Sein“, das mit dem Wort „Kommunikation“ ausgedrückt werden könne. Der Mensch habe sich dafür offenzuhalten. Und als das Unheimliche schlechthin begegne dem Menschen das Anonyme.

Dem anderen deutschen Existentialisten, Heidegger, erscheint die Existenz des ins heillose Dasein „geworfenen“ Menschen als verfehlt, wenn er an das Uneigentliche des „Man“ verfallen sei (Gerede, Neugier, Zwiespältigkeit). Dasein sei Sorge, in der die Angst enthalten sei. In der Grunderfahrung vom „Nichts“ erlebe der Mensch die Angst, die ihm das Dasein zu einem „Sein-zum-Tode“ mache.

Die Existentialisten nennen den Menschen mittels anderer Wörter: „Dasein“, „Existenz“, „ich“ oder sogar „Fürsichseiendes“. Zum Begriff „Existenz“ könne man nur durch ein sogenanntes „existentielles Erleben“ gelangen, das Heidegger als Erfahrung des Todes („Vorlauf zum Tode“), Sartre als „Ekel“ vor dem Vernunftlosen des Seins, den er als „Geburtshelfer menschlicher Freiheit“ auffasst, Jaspers als „Brüchigkeit des Seins“, als das Scheitern des Menschen in den “Grenzsituationen (Tod, Leiden, Schuld) und Bollnow als Ungeborgenheit des Menschen bezeichnet.

Die Existentialisten unterscheiden erkenntnistheoretisch weder Materie noch Bewusstsein. Die Grundfrage der Philosophie erübrige sich für sie, sie sei ein Vorurteil der bisherigen philosophischen Entwicklung. Die sogenannte objektive Realität sei nicht zu erkennen, sie könne nur individuell „erlebt“ werden. Heidegger geht in seiner Schrift „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ sogar so weit, dass er meint, dass Wissenschaft überhaupt nicht sein solle, niemals unbedingt notwendig sei. Er behauptet in einer anderen Schrift weiter, dass die Geschichte, die Kunst, die Dichtung, die Sprache, die Natur, der Mensch, Gott den Wissenschaften unzugänglich bleibe. Das alles sei Sache des Denkens, das heißt des irrationalen Erlebens.

Und auf die Frage, was die Triebkraft des Erlebens der objektiven Realität ist, antworten alle Existentialisten einstimmig, jedenfalls meist: „Die Angst“. Eben durch die Angst werde der Mensch sich seiner „endlichen“ Stellung im Weltganzen gewahr, durch die Angst erlebe er seine Ungeborgenheit, seine Geworfenheit, die Brüchigkeit seines Seins, das von Anfang an durch den Tod bestimmt sei, dem er nicht entrinnen könne. Derartige Gedankengänge bedeuten absoluten Irrationalismus und Ausschaltung jeder rationalen Erkenntnisweise aus. Die Abwertung der Ratio zugunsten der Irratio wird somit auf die Spitze getrieben.

Der Existentialismus bricht mit der philosophischen Tradition, indem er erklärt, dass die philosophische Entwicklung seit Platon und Aristoteles in die Irre gegangen sei, daher müsse man von vorn beginnen. Heidegger nennt solche Vorgehensweise „Destruktion“, während Jaspers sie als „Synthesis“ bezeichnet.

Bei allen Unterschieden in der Terminologie, Darstellungsweisen und Methoden ist die philosophische Plattform des Existentialismus auf den Begriff der Existenz gegründet, die völlig subjektivistisch gesetzt wird. Sie basiert auf der Herabsetzung des wissenschaftlichen Denkens, auf dem Agnostizismus in der Erkenntnistheorie, auf dem Verzicht auf die philosophische Überlieferung. Ihre Auffassungen von Angst, Ekel und anderen psychologischen Zuständen, häufig abnormen, bilden die Gemeinsamkeit ihrer Weltanschauung. Und eben diese Züge des Existentialismus beeinflussten weitgehend die literarische Entwicklung in Verlauf vieler Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Wolfgang Kaiser nannte die Lehre und Lebensform des Existentialismus „im Grunde die letzte Übersteigerung des Individualismus“. Sie beeinflussten sehr viele Schriftsteller. Und trotzdem gibt es auch in Bezug auf die existentialistische Weltanschauung keinen „reinen“ existentialistischen Schriftsteller in Deutschland und in der Welt, im Gegensatz zur französischen Literatur. Aber vereinzelte Themen und Motive des Existentialismus kommen in den Werken vieler Autoren in vielen Ländern vor. Es sind dies: der Mensch in der Angst und Ungeborgenheit, in der Grenzsituation und Selbstverantwortung. Die Literaturwissenschaftler entdeckten existentialistische Züge und Motive im Schaffen solcher Schriftsteller wie: Samuel Beckett, William Faulkner, Max Frisch, Ernest Hemingway, Eugene Ionesco, Franz Kafka, Gottfried Benn, Hans Erich Nossack, Ernst Jünger und sogar beim späten Rilke in seinem Gedicht „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“.

 

Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,

Siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,

Aber wie klein auch, noch ein letztes

Gehöft von Gefühl. Erkennst du ’s? –

Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund

Unter den Händen. Hier blüht wohl

Einiges auf; aus stummem Absturz

Blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.

Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann,

Und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.

Da geht wohl, heilen Bewusstseins,

Manches umher, manches gesicherte Bergtier,

Wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel

Kreist um der Gipfel reine Verweigerung. – Aber

Ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens ----

 

Kontrollfragen:

 

1. Welcherart Philosophie war der Existentialismus?

2. Was bewirkte das Aufkommen der Existenzphilosophie in Europa und Deutschland nach O.F. Bollnow, einem ihrer Vertreter?

3. Warum wurde der Existentialismus eine Art Modeweltanschauung und sogar Modelebenshaltung breiter Kreise der bürgerlichen Intelligenz und kleinbürgerlicher Bevölkerungsschichten?

4. An welche philosophischen Systeme knüpft der Existentialismus ideengeschichtlich an?

5. Wie schätzten die Marxisten den Existentialismus ein?

6. Welche existentialistischen Denker in Deutschland und Europa kennen Sie?

7. Welche Bezeichnungen verwendet man in Bezug auf die Philosophie des Existentialismus?

8. Welcher Begriff der Philosophie des Existentialismus gilt als der wichtigste?

9. Wie bestimmen ihn Jean Paul Sartre und Albert Camus?

10. Was ist „die Achse der Philosophie“ nach Karl Jaspers?

11. Wie begreift Karl Jaspers das „Sein“?

12. Wie definiert Martin Heidegger die Existenz und das Dasein?

13. Mittels welcher Wörter nennen die Existentialisten den Menschen?

14. Wie stellen die Existentialisten und vor allem Martin Heidegger die Grundfrage der Philosophie?

15. Was nennen die Existentialisten die Triebkraft des „Erlebens“ der objektiven Realität?

16. Worin besteht der Bruch des Existentialismus mit der philosophischen Tradition?

17. Worauf basiert die philosophische Plattform des Existentialismus und warum wird sie als völlig subjektivistisch verstanden?

18. Was bildet bei allen Unterschieden die Gemeinsamkeit der existentialistischen Weltanschauung?

19. Warum nannte Wolfgang Kaiser die Lehre und die Lebensform des Existentialismus „im Grunde die letzte Übersteigerung des Individualismus“?

20. Welche Themen und Motive des Existentialismus kommen am häufigsten in den Werken vieler Autoren der deutschen und ausländischen Literatur?

21. Bei welchen Autoren Deutschlands und des Auslands finden sich Themen und Motive des Existentialismus?

 

 

I.5.1.3. „Neue Sachlichkeit“ als Reaktion auf den Expressionismus

und Surrealismus

 

Als Literaturrichtung kommt die „Neue Sachlichkeit“ Mitte der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts auf. Ihre Entstehung war vor allem mit dem neuen Lebensstil verbunden. Die Revolutionsstürme waren vorbei, die Inflation des Jahres 1923 war überwunden. Das Leben in der Weimarer Republik begann sich zu stabilisieren. Es stellte sich eine gewisse Ruhe in allen Lebensbereichen ein. Unter diesen Umständen begann sich eine neue Lebensempfindung herauszubilden. Sie äußerte sich in allem, nicht nur in der Kunst, sondern auch im Alltagsleben, in der Kleidung und Frisur, in den Interessen und der persönlichen Sphäre. Praktizismus und Pragmatismus in allem wurden zu vorherrschenden Merkmalen der Zeit. Gesteigertes Interesse für Sport und Technik kam auch hinzu. Technische Erfindungen dieser Zeit veränderten vollends das Stadtbild und den inneren Lebensrhythmus. Flugzeuge, Autos, Elektrizität, Rundfunk und Kino standen nunmehr im Mittelpunkt des Interesses. Im Zusammenhang damit verkündeten die Philosophen und Künstler neue ästhetische Prinzipien. So entstand eine neue Funktionalästhetik, die dazu aufrief, auf archaische Schönheitskriterien der Klassik und auf die emotionale Verworrenheit und exaltierte Geistigkeit des Expressionismus zu verzichten und sich an den berechneten Formen und Proportionen von Hochseeschiffen und Wolkenkratzern zu orientieren. Man sah nunmehr die Schönheit der Zeit im Dokument, im Fakt und in der angewandten Nützlichkeit der Gegenstände und Sachen.

Der neue Stil war somit eine realistische Gegenbewegung zum Gefühlsüberschwang des Expressionismus und zu den Schreckvisionen des Surrealismus. Er war Ausdruck und Resultat der Ernüchterung des Kriegs- und Nachkriegserlebens und in gleicher Weise mitbestimmt von der wachsenden technischen Rationalisierung und der zunehmenden „Amerikanisierung“ des Lebens mit seinem praktischen Erfolgsdenken und Pragmatismus.

Die „Neue Sachlichkeit“ charakterisierte sich durch Nüchternheit und Sachlichkeit auf der einen Seite, und Illusionslosigkeit bis hin zum zynischen Nihilismus und gesunden Kritizismus auf der anderen. An die Stelle des expressionistischen Pathos und Exaltiertheit traten kühle Distanzierung und Konkretheit der Darstellung, Minimum an Sprache und Maximum an Bedeutung, statt des Subjektivismus Objektivität, dokumentarische Exaktheit und scheinbare Gefühllosigkeit. In die Werke wurden häufig Alltagsdokumente und hoch politische Inhalte verschiedenen Charakters eingearbeitet. Die Literatur der „Neuen Sachlichkeit“ war gleichwie andere Richtungen in Kunst und Literatur nichts weniger als einheitlich, sowohl in künstlerisch-formaler, als auch in inhaltlicher Hinsicht. Manche Autoren kehrten in die Schein-Geborgenheit nationalen oder christlich-humanistischen Traditionsdenkens zurück. Bei manchen machte sich konservatives Beharren und Festhalten am Überkommenen und Traditionellen bemerkbar. Und ganz wenige dachten über die Epoche der Weimarer Republik kritisch-realistisch. Ihr Realismus war blutvoll, nicht so oberflächlich, wie der der meisten Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“, der ganz eindeutig an Oberflächlichkeit litt. Das war eher der Realismus des Details. Typische Charaktere und typische Umstände fehlten in ihren Werken.

Zu den Vertretern der „Neuen Sachlichkeiten“ werden in Deutschland

häufig Autoren gerechnet, die dazu in keiner Weise gehören können. Es sind dies Bertolt Brecht, Hans Fallada, Lion Feuchtwanger, Hermann Hesse, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Ludwig Renn, Joseph Rot, Anna Seghers. Unserer Ansicht nach ist es ein prinzipiell falscher Standpunkt. Man wirft damit alle und alles in einen Topf. Uns ist es völlig klar, warum man das tut. Man geht fehl, weil man Weltanschauliches und Politisches aus den Augen verliert, indem man die genannten Autoren literaturgeschichtlich einstuft. Man berücksichtigt die Unterschiede im Schaffen der Schriftsteller nicht, das weltanschaulich und politisch verschieden fundiert sein kann. Anna Seghers und Bertold Brecht vertreten in der Literaturgeschichte nicht die „Neue Sachlichkeit“, sondern den sogenannten sozialistischen Realismus. Dasselbe lässt sich auch über Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Hans Fallada sagen. Sie sind Vertreter des kritischen Realismus, bei allen Unterschieden. Das einzige, was sie mit den Dichtern der „Neuen Sachlichkeit“ verwandt macht, ist ihre kritische Haltung zum Expressionismus und Surrealismus. Aber das ist kein Grund, sie mit den Dichtern der „Neuen Sachlichkeit“ in einen Topf zu werfen.

Als typische Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“ gelten vor allem die Dichter, deren lyrische Texte man „Gebrauchslyrik“ nennt. Erich Kästner, Satiriker und Humorist, war einer von ihnen. Auch Kurt Tucholsky kann dazu gerechnet werden.

Als typische Beispiele der „Gebrauchslyrik“ der „Neuen Sachlichkeit“ können die Gedichte „Sachliche Romanze“ von Erich Kästner und „Park Monceau“ von Kurt Tucholsky dienen, die wir im Nachstehenden anführen. Der Begriff „Gebrauchslyrik“ wurde übrigens 1927 von Bertolt Brecht geprägt. In vielen Gedichten dieses Genres, das zur beliebten lyrischen Ausdrucksform wurde, wurde auf Probleme und Missstände der damaligen Zeit aufmerksam gemacht. Sie waren meist in einer schlichten und zugänglichen Sprache geschrieben, so dass viele, auch wenig gebildete Menschen sie verstehen konnten. Der Tonfall mancher Gedichte dieser Art war sehr kritisch, zum Beispiel in „Nach fünf Jahren“, während die meisten harmlos klangen, zum Beispiel die im Nachstehenden angeführten Texte.

 

Sachliche Romanze

 

Als sie einander acht Jahre kannten

(Und man kann sagen: sie kannten sich gut)

Kam ihre Liebe plötzlich abhanden.

Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.

 

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,

Versuchten Küsse, als ob nichts sei,

Und sahen sich an und wussten nicht weiter.

Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

 

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.

Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier.

Und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.

Nebenan übte ein Mensch Klavier.

 

Sie gingen ins kleinste Cafe am Ort

Und rührten in ihren Tassen.

Am Abend saßen sie immer noch dort.

Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort

Und konnten es einfach nicht fassen.

 

Park Monceau

 

Hier ist es hübsch. Hier kann ich ruhig träumen.

Hier bin ich Mensch—und nicht nur Zivilist.

Hier darf ich links gehn. Unter grünen Bäumen

Sagt keine Tafel, was verboten ist.

 

Ein dicker Kullerball liegt auf dem Rasen.

Ein Vogel zupft an einem hellen Blatt.

Ein kleiner Junge gräbt sich in der Nasen

Und freut sich, wenn er was gefunden hat.

 

Es prüfen vier Amerikanerinnen,

Ob Cook auch recht hat und hier Bäume stehn.

Paris von außen und Paris von innen:

Sie sehen nichts und müssen alles sehn.

 

Die Kinder lärmen auf den bunten Steinen.

Die Sonne scheint und glitzert auf ein Haus.

Ich sitze still und lasse mich bescheinen

Und ruh von meinem Vaterlande aus.

 

Kontrollfragen:

 

1. Welche neue Lebensempfindung Mitte der zwanziger Jahre in der Weimarer Republik rief die „Neue Sachlichkeit“ ins Leben?

2. Welche Prozesse und Entwicklungen im gesellschaftlichen Leben der Weimarer Republik verursachten die Herausbildung der neuen Lebensempfindung, die sich in Pragmatismus und Praktizismus in allem äußerte?

3. Unter welchen Bedingungen entstand die neue Funktionalästhetik?

4. War der neue Stil eine realistische Gegenbewegung zum Gefühlsüberschwang des Expressionismus oder zu den Schreckvisionen des Surrealismus?

5. Oder war der neue Literaturstil Ausdruck und Resultat der Ernüchterung des Kriegs- und Nachkriegserlebens sowie der wachsenden technischen Rationalisierung und der zunehmenden „Amerikanisierung“ des Lebens mit seinem praktischen Erfolgsdenken und Pragmatismus?

6. Wodurch charakterisierte sich die „Neue Sachlichkeit“ aus literaturstilistischer Sicht?

7. Worin bestand der Unterschied zwischen der „Neuen Sachlichkeit“ und dem kritischen Realismus der zwanziger Jahre?

8. Welche Autoren wurden in den bundesdeutschen Literaturgeschichten fälschlicherweise zur „Neuen Sachlichkeit“ gerechnet?

9. Womit erklären sie derartige Missgriffe der bundesdeutschen Literaturhistoriker?

10. Welche Schriftsteller können Ihrer Ansicht nach zur „Neuen Sachlichkeit“ gerechnet werden?

11. Wer führte den Begriff „Gebrauchslyrik“ in die Literaturkritik ein?

 

1.5.1.4. Magischer Realismus

 

Die Stilrichtung des magischen Realismus kann man als Reaktion auf gelegentliche Oberflächlichkeit der Literatur der „Neuen Sachlichkeit“ begreifen. Der Begriff „magischer Realismus“ wurde vom Kunstkritiker Franz Roh geprägt, um den Malstil der Gemälde auf einer Kunstausstellung in Mannheim 1924 zu beschreiben. Später wurde er auch von der Literaturkritik übernommen. Seit Mitte der zwanziger Jahre wurde er auch in der Filmkunst und Fotografie verwendet.

Der magische Realismus als literarisch-künstlerische Gestaltungsweise setzt die Verschmelzung von realer Wirklichkeit und magischer Realität voraus, wobei die reale Wirklichkeit als etwas Greifbares, Sichtbares und Rationales und magischer Realismus als etwas Hintergründiges, Träumerisches oder sogar als Halluzinationen verstanden werden. Im Gegensatz zu Europa ist der magische Realismus in Lateinamerika zum Bestandteil des Alltäglichen, zum Wunder im täglichen Leben geworden. Das letztere wird zu Recht von Alejo Carpentier behauptet, der übrigens den Europäern die Fähigkeit des Erlebens des wunderbar Wirklichen abspricht.

Man kennt in der Malerei viele Maler, die den magischen Realismus als Malweise verwenden. Uns interessiert aber der magische Realismus in der Literatur, daher sehen wir vom Nennen der Malernamen ab.

Als literarische Form und Gestaltungsweise kam der magische Realismus zunächst in Deutschland, Italien und im flämischen Teil Belgiens auf, um später in der Literatur Lateinamerikas weite Verbreitung zu finden. Als Wortführer und geistiger Vater des magischen Realismus in Lateinamerika gilt Miguel Angel Asturias, der Autor des berühmten Buches über die Maismenschen („Hombres de maiz“). Darin wird die Mythologie der Majas mit der lateinamerikanischen Wirklichkeit verschmolzen.

In Deutschland wollte man mit dem magischen Realismus auf die oberflächliche Aktualität und Vordergründigkeit der Romanliteratur und Reportage reagieren, indem man sich den tieferen Wirklichkeitsschichten zuwandte. In der gegenständlichen Welt begann man Sinnbilder einer hintergründigen Realität zu sehen, wie dies Rainer Maria Rilke bereits in seinen „Dinggedichten“ Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts tat. In seinen späteren Gedichten aus den zwanziger Jahren versuchte er immer wieder den „Weltinnenraum“ zu beschwören:

 

Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,

Aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!

Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,

Entschließt im künftigen sich zum Geschenk…

 

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:

Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still

Durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,

Ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

 

Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.

Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.

Geliebter, der ich wurde: an mir ruht

Der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.

 

In den epischen Texten spielt die äußere Handlung und das chronikalisch aufgebaute Sujet keine Rolle mehr. Sie werden verinnerlicht und treten in Form des innerseelischen Geschehens auf, und reale Vorgänge verwandeln sich in „Chiffren eines geheimen Sinnes“, in „Symbole des Elementaren“, wie G. Wilpert zu Recht behauptet. Wir können nicht anders, als dieser Meinung zuzustimmen, denn diese Geschehnisse werden wirklich gleichsam durchlässig für übersinnliche Wahrnehmungen.

Als Vertreter eines magischen Realismus innerhalb einer vertieften „Neuen Sachlichkeit“ können im deutschsprachigen Raum etwa Robert Walser, Elisabeth Langgässer, Ernst und Fr. G. Jünger, aber auch Hans Carossa und Heimito von Doderer genannt werden. Aber auch die Werke der jüngeren Autoren, deren Schaffen vornehmlich in die zweite Jahrhunderthälfte fällt, wiesen vereinzelte Züge des magischen Realismus auf. Es waren dies Ingeborg Bachmann, Georg Britting, Hermann Kasack, Ernst Kreuder, Hans Erich Nossack und sogar Günter Grass.

 

Kontrollfragen:

 

1. Was wissen Sie von der Entstehungsgeschichte des Begriffs „Magischer Realismus“?

2. Was versteht man unter dem magischen Realismus in Kunst und Literatur?

3. Wo kam der magische Realismus als literarische Form und Gestaltungsweise erstmals auf?

4. Worauf wollte man in Deutschland mit dem magischen Realismus reagieren?

5. Welche Rolle spielen in den epischen Texten des magischen Realismus die äußere Handlung und das chronikalisch aufgebaute Sujet?

6. Die Werke welcher Autoren enthalten Züge des magischen Realismus?

 

 

I. 5.2. Modernistische Tendenzen in der deutschsprachigen Literatur

nach Beendigung des zweiten Weltkrieges

 

Manche Literaturhistoriker sprechen von der „Stunde Null“ in der Entwicklung der Literatur im Nachkriegsdeutschland. Das stimmt nicht. Sie hörte niemals auf, trotz der zwölfjährigen Herrschaft des Naziregimes. Erstens waren nicht alle deutschen Autoren Nazischriftsteller geworden. Viele befanden sich in der sogenannten „inneren Emigration“ und arbeiteten trotz großer Schwierigkeiten weiter, obgleich ihre sozialpolitischen und weltanschaulichen Standpunkte grundverschieden waren. Man denke an Bernhard Kellermann, Hans Fallada, Erich Kästner und sogar an Gottfried Benn. Zunächst spielten die „inneren Emigranten“ in der Nachkriegsliteratur keine große Rolle. Viel wichtiger waren die exilierten Schriftsteller, die aus der Emigration zurückkehrten und sich in den demokratischen Aufbau einschalteten. Manche kehrten überhaupt nicht zurück, aber ihre Werke wurden im Nachkriegsdeutschland gelesen. Ihre im Exil entstandenen Werke setzten die demokratischen, humanistischen Traditionen in der deutschen Literatur fort, so dass die literarische Kontinuität niemals aufhörte.

Aber auch die modernistischen Traditionen in der deutschen Literatur hörten nicht auf. Viele Modernisten wurden im Deutschland Hitlers ebenso verfolgt, ihre Werke galten als „entartet“ und wurden auf den Scheiterhaufen mit verbrannt. Auch diese Literatur löste reges Interesse bei den Lesern aus. Größte Entdeckung für die junge Lesergeneration war Franz Kafka. Man rezipierte seine grotesk-visionären Werke im Nachkriegsdeutschland als Teil der Gegenwartsliteratur und als ein Stilmodell für die jungen Autoren in Westdeutschland und Österreich. Franz Kafka und Gottfried Benn, der seit 1936 „innerer Emigrant“ wurde, fanden in der Nachkriegssituation große Resonanz. Ihre expressionistischen, existentialistischen und sogar surrealistischen Auffassungen imponierten vielen verstörten und orientierungslosen jungen Dichtern. Namentlich Benns Ästhetizismus versprach ihnen eine geistige Befreiung von der für viele Deutsche schreckliche und hässliche Realität. Viele Deutsche, zumal Intellektuelle, stellten damals alles in Frage. Man bezweifelte alle alten, traditionellen humanistischen und christlichen Werte. Skeptizismus und Nihilismus griffen noch mehr als nach dem Ersten Weltkrieg um sich. Die Ideen des Marxismus und Kommunismus konnten sich in den westlichen Besatzungszonen nicht durchsetzen, und man weiß das sehr gut, warum.

Die literarische Nachkriegssituation, aber auch die in den fünfziger Jahren war eine adäquate Widerspiegelung der Prozesse, die sich im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereich vollzogen. Die Kultur, Kunst und Literatur hängen bekanntlich aufs engste damit zusammen. Bürgerlich-humanistische, kritisch-realistische Künstler wurden weder in der Nachkriegszeit noch zu Zeiten der Bundesrepublik gefördert und unterstützt. Die Besatzungsmächte und bundesdeutschen Behörden hatten kein Interesse daran. Die offizielle Kunst- und Literaturkritik begünstigte vor allem modernistisch eingestellte Künstler und Schriftsteller, denn sie verkündeten totale Autonomie von Kunst und Literatur und waren daher völlig ungefährlich für die Machthaber.

Und trotzdem war die seelische Situation sowohl für bürgerlich-humanistische als auch für modernistische Künstler und Schriftsteller ungünstig. Jene wie diese reagierten darauf dementsprechend, allerdings verschieden. Die Menschen fühlten sich im Resultat der um sich greifenden Entfremdungsprozesse in der westdeutschen Gesellschaft isoliert und von Angst erfüllt. Man wurde häufig von Verlorenheitsgefühlen heimgesucht. Dies begünstigte das Aufkommen existentialistischer Standpunkte in vielen modernistischen Werken, in deren Mittelpunkt der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch steht. Die Kommunikationsschwäche und Kontaktarmut, worunter viele westdeutsche Bürger sehr stark litten, führte zum lyrischen Verstummen und zum Dauermonolog in den Romanen, und zum Verschwinden des Dialogs in dramatischen Werken, deren Helden geradezu aneinander vorbeiredeten. Die rapide und grandiose Weiterentwicklung von Naturwissenschaften zerstörte logisch-kausale Zusammenhänge im Denken der Menschen. Das führte in der Epik zur Aufgabe der sujetmäßigen Chronikalität und zur Fragmentierung des Textes sowie zur Gleichzeitigkeit der Geschehnisse, die sowohl räumlich als auch zeitlich auseinanderliegen. In den dramatischen Werken wurde nunmehr die sogenannte Stationentechnik verwendet, statt der Aktaufteilung des Textes. Die Auftritte wurden zu locker verbundenen Bilderfolgen.

Das Ausgeliefertsein der menschlichen Persönlichkeit an Technik und Automation sowie die Vorherrschaft des technischen Denkens in allen Lebenssphären fanden ihren Ausdruck im experimentellen Charakter der modernen Dichtung. Der Dichter wurde nunmehr zum Wortlaboranten, zum nüchternen Handwerker.

Die sich steigernde Unsicherheit und Standortlosigkeit führte zum Perspektivismus in der Darstellung und zum steten Wechsel des Betrachterstandpunktes. Die mangelnde Überschaubarkeit der Prozesse im persönlichen und gesellschaftlichen Leben und die damit verbundene „Vieldimensionalität“, die zur Fragmentierung der Weltsicht führt, realisiert sich in der Literatur als Vergrößerung des Details, als allmähliche Herausbildung der sogenannten „pars-pro-toto-Literatur“. Man konzentriert sich nunmehr auf die Gestaltung von Modellfällen und Parabeln.

Die Entdeckung der Tiefenschichten der menschlichen Seele durch Siegmund Freud führt letztendlich zur Auflösung des Ichbewusstseins der Menschen, was im Roman seinen Ausdruck in der Reduzierung der Wirklichkeit auf Bewusstseinsinhalte in Form von erlebter Rede und innerem Monolog findet. Die Schriftsteller greifen immer wieder zur Assoziationstechnik, so dass sich das Ich-Bewusstsein im „Bewusstseinsstrom-Roman“ völlig auflöst.

Die existentialistische Erfahrung des Todes als der einzigen Gewissheit des heutigen Menschen stellt sich in der modernistischen Literatur als Absurdität des Lebens dar oder als „Tollheitsbejahung“(Malraux) des existentialistischen Menschen, der im „engagement“ das Absurde überwindet.

Was die Stellung des Dichters in der Welt und Gesellschaft betrifft, so muss man in erster Linie totale Ablehnung des sozialpolitischen und öffentlichen Lebens der trügerischen Wohlstandsgesellschaft feststellen, das als fragwürdig erscheint. Man empfindet die Ohnmacht des poetischen Wortes, dessen Wirkungslosigkeit und protestiert lautstark dagegen.

Wenn man die alte Dichtergeneration mit der jungen vergleicht, so stellt man sofort frappierende Unterschiede fest. Es sind dies Unterschiede geistiger Art und künstlerisch-formeller. Die jungen Dichter brechen entschieden und kompromisslos mit der literarischen Überlieferung, sie lehnen die „Schein“-Kultur der Gegenwart sehr scharf ab. Sie sind verzweifelt, skeptisch, angsterfüllt, misstrauisch und dabei völlig illusionslos. Es fällt auch ihr Kulturpessimismus in die Augen. Sie distanzieren sich von allen ideologischen Systemen und wollen keine Lebensfragen beantworten.



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